(2) Doppelmord in der Second Street

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Das 26-jährige Dienstmädchen Bridget Sullivan war erschöpft. Den ganzen Morgen hatte sie in dem dreistöckigen Anwesen der Familie Borden in der Second Street Nr. 92 Fenster geputzt. Ausgerechnet am heißesten Tag des Jahres. Bridget hörte die Glocke des Rathauses von Fall River, Massachusetts. Um 11.00 Uhr vormittags an jenem 4. August 1892 zeigte das Thermometer bereits 38 °C an.

Bridget hatte sich vor wenigen Minuten in ihr Zimmer im Dachgeschoss zurückgezogen. Sie wollte sich nur ein wenig auf ihrem Bett ausruhen. An Schlaf war ohnehin kaum zu denken. Die Hitze staute sich gnadenlos unterm Dach und trieb ihr den Schweiß auf die Stirn, obwohl sie reglos dalag.

Lizzie Borden 92 Second Street Fall River
Das Borden-Haus Ende des 19. Jhs.

„Jemand hat ihn umgebracht“

„Maggie, komm runter!“ Der schrille Schrei einer Frau ließ Bridget im Bett aufschrecken. Nur die beiden Borden-Töchter riefen sie „Maggie“ nach einem früheren Hausmädchen der Familie. Sie erkannte die Stimme von Lizzie Borden, der jüngsten Tochter. Das Dienstmädchen schaute auf die Uhr. Es war 11.10 Uhr. Sie stand auf und ging zur Treppe: „Was ist los?“, rief sie zurück.

„Komm schnell runter! Vater ist tot! Jemand hat ihn umgebracht!“

Beim Vater handelte es sich um den 70-jährigen Andrew Borden. Er war einer der reichsten Männer in Fall River. Bridget eilte sofort nach unten. Im Erdgeschoss stand Lizzie Borden vor dem Eingang zum Wohnzimmer. Lizzie sagte nur: „Geh dort nicht rein. Lauf los und hol den Doktor. Lauf!“

Bridget lief über die Straße zum Nachbarn Dr. Bowen, der gleichzeitig der Hausarzt der Familie war. Doch seine Frau teilte ihr mit, dass der Arzt momentan einen Patienten besuche. Das Hausmädchen erzählte der Nachbarin aufgeregt, jemand habe Andrew Borden ermordet. Daraufhin rannte Bridget zu Lizzie zurück. Diese schickte die Magd als nächstes zu einer Freundin der Familie namens Alice Russell, die einige Querstraßen weiter wohnte.

Lizzie Borden - Bridget Sullivan
Bridget „Maggie“ Sullivan

Inzwischen hatte Adelaide Churchill mitbekommen, dass bei ihren Nachbarn etwas nicht stimmte. Ihr Haus grenzte nördlich an das Grundstück der Bordens an. Sie sah Lizzie am Hintereingang stehen und fragte, ob alles in Ordnung sei. Lizzie antwortete ihr: „Oh, Mrs. Churchill, kommen Sie bitte schnell herüber! Jemand hat meinen Vater umgebracht!“

Die verschwundene Mutter

Mrs. Churchill wollte wissen, wo sich Lizzies Mutter aufhalte. Lizzie entgegnete, sie habe keine Ahnung. Sie wisse nur, dass ihre Stiefmutter Abby Borden am Morgen von einer Bekannten eine Nachricht erhalten habe, jemand sei krank und sie solle sich melden.

Lizzie erzählte zudem, dass ihr Hausmädchen Dr. Bowen nicht habe antreffen können. Mrs. Churchill bot an, ihren Hausdiener loszuschicken, um nach dem Doktor zu suchen. Außerdem könne dieser zu einem Telefon rennen, um die Polizei zu benachrichtigen. So erfuhr die Polizeiwache von Fall City, die sich ungefähr 400 Meter entfernt vom Schauplatz des Verbrechens befand, erstmals um 11.15 Uhr von dem Mord in der Second Street.

Lizzie Borden - Adelaide Churchill
Adelaide Churchill

Im Schlaf überrascht

Die Suche nach Dr. Bowen hatte sich inzwischen erübrigt. Bridget hatte den Arzt auf dem Rückweg von Alice Russell getroffen. Er begab sich sofort in das Wohnzimmer und untersuchte Andrew Borden. Er lag mit dem Rücken auf dem Sofa. An den Füßen trug er noch seine Stiefel. Um die teuren, mit Mohair bedeckten Polster nicht zu beschmutzen, hatte der Mann seine Füße auf den Boden gestellt und war in dieser etwas unbequemen Haltung eingeschlafen.

Er hatte seinen Kopf nach rechts gewandt. Das Gesicht war von elf Schlägen mit einem scharfen Gegenstand entstellt, vermutlich einer Axt. Ein Augapfel war in zwei Hälften zerstückelt und quoll aus seinem Gesicht hervor. Die Nase war abgeschnitten worden. Die Wunden beschränkten sich auf einen Bereich zwischen Auge, Nase und Ohr. Für Dr. Bowen gab es keinen Zweifel: Andrew Borden war tot.

Das Blut sickerte immer noch aus den Wunden. Aus Sicht des Mediziners sprach dieser Umstand dafür, dass sich die tödliche Attacke erst vor wenigen Minuten ereignet hatte. Es gab Blutflecken auf dem Boden, an der Wand über dem Sofa und auf einem Bild an der Wand. Bowen schlussfolgerte daraus, dass der Mörder hinter dem Kopf von Andrew Borden gestanden hatte und von oben auf seinen Kopf eingeschlagen hatte, während das Opfer schlief.

Lizzie Borden - Andrew Borden Leiche Tatort
Der Leichnam von Andrew Borden

Noch eine Leiche

Dr. Bowen verließ kurz das Haus, um Lizzies Schwester Emma per Telegramm zu verständigen. Die älteste Tochter der Bordens hielt sich bei Freunden in der Nachbarstadt Fairhaven aus. Bridget bot derweil an, die Schwester von Abby Borden aufzusuchen. Vielleicht wisse sie, wo sich Lizzies Mutter aufhalte. Lizzie hielt das Hausmädchen zurück: „Maggie, ich bin mir fast sicher, dass ich sie heute Morgen gehört habe, wie sie die Treppe hinaufgegangen ist. Geh rauf und schau nach ihr.“

Adelaide Churchill bot Bridget an, sie zu begleiten. Die beiden nahmen die vordere Treppe. Noch bevor sie den Treppenabsatz zum ersten Stock erreicht hatten, sahen sie Abby Borden auf dem Boden des Gästezimmers liegen. Die Frau war offensichtlich tot. Adelaide Churchill schrie: „Da liegt noch eine!“

Kalter Leichnam

In diesem Moment kehrte Dr. Bowen zurück. In seinem Schlepptau traf auch Alice Russell ein, eine enge Freundin der beiden Borden-Töchter. Der Arzt begab sich sogleich zur nächsten Leiche. Er stellte fest, dass Abby Borden vermutlich aufrecht stand und den Täter frontal angeschaut hattee, als der erste Schlag sie seitlich am Kopf unmittelbar über dem Ohr traf. Danach drehte sie sich um und fiel mit dem Gesicht nach unten zu Boden. Entsprechende Sturzverletzungen an Nase und Stirn ließen diesen Schluss zu.

Die nächsten achtzehn Schläge trafen die wehrlose Frau allesamt auf den Hinterkopf. Vermutlich hatte sich der Täter dazu auf ihren Rücken gehockt. Die Wunden waren mit denen identisch, die Dr. Bowen bei Andrew Borden vorgefunden hatte. Offensichtlich hatte der Mörder für beide Verbrechen dieselbe Tatwaffe verwendet. Doch das Blut an Abby Bordens Leichnam war bereits dunkel und geronnen, der Körper schon erkaltet. Der Arzt mutmaßte deshalb, dass die Frau seit mindestens 90 Minuten tot war.

Lizzie Borden - Abby Borden Leiche Tatort
Der Leichnam von Abby Borden

 

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2 Kommentare

  1. Auszug aus Kapitel (2) „Doppelmord in der Second Street“, Unterkapitel „Noch eine Leiche“:
    „Adelaide Churchill bot Bridget an, sie zu begleiten. Die beiden nahmen die vordere Treppe. Noch bevor sie den Treppenabsatz zum ersten Stock erreicht hatten, sahen sie Abby Borden auf dem Boden des Gästezimmers liegen. Die Frau war offensichtlich tot. Adelaide Churchill schrie: „Da liegt noch eine!““

    Kommentar:
    Sollte die Auffindung von Abby Borden wie im 2. Kapitel beschrieben erfolgt sein, wusste Adelaide Churchill (und vermutlich auch Bridget „Maggie“ Sullivan) schon vorher das/wo im Gästezimmer eine Leiche liegt.
    Denn nach Tatortfoto aus Kapitel (2) und dem Grundriss aus Kapitel (4) „Rekonstruktion des Tattages“, kann vom Treppenabsatz aus kein liegender Körper hinter dem Bett entdeckt werden.

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