Der Krieg von Castellammare

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Capo di tutti capi

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Maranzano hielt zunächst sein Versprechen. Er ernannte Charles Luciano zum neuen Anführer der Masseria-Gang. Doch dann hatte der Kriegsgewinnler noch eine Überraschung in petto. Maranzano berief ein Treffen in Wappinger Falls ein, etwa 75 Meilen von New York City entfernt. Dazu lud er neben den New Yorker Bossen auch Al Capone und andere wichtige Größen der organisierten Kriminalität aus den USA ein.

Römische Legionen

Er hatte sich eine klare Strategie zurechtgelegt. Maranzano war nun nach dem Tod von Joe Masseria der unangefochtene Chef der New Yorker Unterwelt. Und da die Metropole im Osten gleichzeitig die Hauptstadt des organisierten Verbrechens war, verlangte er von den anderen Anführer, ihn als ihren capo di tutti capi, als Boss der Bosse anzuerkennen.

Zusätzlich verlangte er eine grundlegende Reform der Bandenstrukturen. Dem Cäsar-Bewunderer schwebte ein Modell vor, das sich an dem Vorbild der römischen Legionen orientierte. Auf dieser Grundlage hatte sich bereits die sizilianische Mafia organisiert.

Jedem Clan sollte zukünftig ein Boss oder „Vater der Familie“ – im deutschen Sprachraum landläufig „Pate“ genannt – vorstehen. Die „Soldaten“ – also die einfachen Mafia-Mitglieder – sollten sich in Zellen von zehn oder mehr Personen gruppieren und weitestgehend eigenständig agieren, angeführt jeweils von einem Capo, der vom Paten ernannt wurde.

Als Schnittstelle zwischen Paten und Capos sollte ein sottocapo oder Unterboss fungieren, sodass eine hierarchische Befehlskette gewahrt blieb. Anders ausgedrückt: Der Unterboss war eine Art Geschäftsführer der Organisation, die Capos die Abteilungsleiter, die ihm zuarbeiteten.

Über den Tisch gezogen

Maranzano wollte außerdem den Kodex, der für die sizilianische Mafia galt, auch verbindlich in den USA einführen. Zu diesen Regeln zählte etwa die bekannte omertà, das Schweigegelübde der Mafia. Zudem durften aufgenommene Mitglieder nicht beleidigt, körperlich angegriffen oder gar getötet werden. Über allem stand jedoch die uneingeschränkte Loyalität zum Boss und zu den von ihm ernannten Capos. Zuwiderhandlungen gegen den Kodex waren mit dem Tod zu ahnden.

Luciano sah sich von Maranzano über den Tisch gezogen. Dieser wollte ähnlich wie Masseria die gesamte Macht an sich reißen. Neue Konflikte waren damit vorprogrammiert. Das war das genaue Gegenteil von dem, was Luciano mit seinem Frontenwechsel beabsichtigt hatte.

Zudem hing Maranzano den alten Traditionen mindestens ebenso hartnäckig wie sein Vorgänger an. Neuerungen, wie sie Luciano vorschwebten, rückten damit in weite Ferne. Darüber hinaus hatte Lucianos Freund Tommy Lucchese beunruhigende Nachrichten. Maranzano hatte den irischen Killer Vincent „Mad Dog“ Coll angeheuert, um den widerspenstigen Luciano aus dem Weg zu räumen.

Schneller als die Polizei erlaubt

Lucky Luciano blieb keine Zeit mehr. Er musste Maranzano zuvorkommen, wollte er überleben. Gut möglich, dass die anderen Bosse ihn wegen dieses Coups töten lassen würden, weil er damit gegen die ungeschriebenen Gesetze der Mafia verstieß. Doch dieses Risiko musste er eingehen, um überhaupt eine Überlebenschance zu haben.

Lucchese konnte ihn mit nützlichen Informationen versorgen. Maranzano hatte sein Hauptquartier von Littly Italy in ein Gebäude an der Grand Central Station verlegt. Just in diesem Augenblick rechnete er praktisch stündlich mit dem Auftauchen von Finanzbeamten, die seine Bücher prüfen wollten.

Luciano schickte Lucchese vor. Er sollte sich unter einem Vorwand in Maranzanos Büro begeben. Dann rief er bei seinem engen Kumpel Meyer Lansky an. Er sollte ein Team von Auftragskillern zusammenstellen, die sich als IRS-Agenten ausgeben würden. Lansky entsandte Bugsy Siegel, Bo Weinberg und Samuel Levine. Tommy Lucchese, der sich wie verabredet im Büro aufhielt, identifizierte für sie das Ziel des Anschlags.

Rachegelüste

Die New Yorker Mafia hegte wenig Zweifel, dass Lucky Luciano hinter dem Mord an Maranzano steckte. Luciano ließ wiederum die Botschaft verbreiten, er habe handfeste Beweise dafür, dass Maranzano ihn umbringen lassen wollte. Vor diesem Hintergrund sei der Anschlag gerechtfertigt gewesen.

Unmittelbare Gefahr drohte ihm vor allem vom Clan der Castellammarese. Insbesondere Maranzanos Protegé Joe Bonanno konnte auf Rache sinnen. Doch auch dieser hatte seinen Boss zunehmend kritisch betrachtet.

In seiner Autobiografie schrieb Bonanno viele Jahre später: „Maranzano war durch und durch ein Sizilianer, was sein Auftreten und seine Denkweise betraf. Aber er lebte nicht mehr in Sizilien. In New York musste er nicht nur die Interessen von Sizilianern, sondern auch von Italo-Amerikanern wahrnehmen.“

Maranzano hatte den Rückhalt seiner Leute verloren. Er war nicht fähig und willens gewesen, sich an die Kultur und Besonderheiten seiner neuen Heimat anzupassen. Obwohl er bereits sechs Jahre im Land war, sprach er immer noch kein Englisch und konnte sich mit jüngeren Bandenmitgliedern kaum unterhalten. Geschweige denn, dass er ihren Straßenslang verstand.

Sieg der jungen Generation

Bonanno schloss Frieden mit Luciano und wurde neuer Anführer des Clans aus Castellammare. Der gleichnamige Krieg war endgültig beendet. Mit Masseria und Morello waren gleichzeitig die wichtigsten Vertreter der alten Garde verschwunden, die bereits vor der Prohibition die bestimmenden Persönlichkeiten der New Yorker Unterwelt waren.

Die Zukunft gehörte einer neuen Generation Mafiosi, die wie Lucky Luciano, Tommy Lucchese, Al Capone oder Joe Bonanno alle um 1900 geboren wurden und in Amerika aufgewachsen waren oder – im Falle Bonannos – als sehr junge Männer eingewandert waren.

Blackstone Hotel

Luciano berief kurz darauf ein Treffen im „Blackstone Hotel“ in Chicago ein, zu dem Al Capone und zwanzig weitere Mafiabosse aus den gesamten USA geladen waren. New York entsandte neben Luciano und Bonanno mit Tommy Gagliano, Vincent Mangano und Joe Profaci gleich fünf Anführer. Diese Aufteilung in die sogenannten „fünf Familien“ von New York hat bis in die Gegenwart Bestand, auch wenn die Namen der jeweiligen Organisationen sich im Laufe der Zeit noch veränderten:

  • Genovese-Familie (Lucky Luciano)
  • Bonanno-Familie (Joe Bonanno)
  • Lucchese-Familie (Tommy Gagliano)
  • Gambino-Familie (Vincent Mangano)
  • Colombo-Familie (Joe Profaci)

Keine andere amerikanische Stadt bot mehr als eine „Familie“ auf. Und kein anderer Clan war annähernd so bedeutend, einflussreich und reich wie die New Yorker Organisationen. Dennoch sollten auch sie nur jeweils eine Stimme haben in dem nationalen Verbrechens-Syndikat, das Luciano nun den Bossen schmackhaft machen wollte.

Die Kommission

Dies war die größte Neuerung, die er den verschiedenen Anführern vorstellte. Es würde in Zukunft keinen Boss der Bosse mehr geben. Stattdessen sollte eine „Kommission“, in der alle Mitglieder gleichberechtigt waren, die künftige Strategie festlegen und etwaige Konflikte lösen. Luciano übernahm vieles von dem, was Maranzano bereits vorgeschlagen hatte. Regeln wie die Omertà oder die bereits beschriebenen Organisationsstrukturen würden die amerikanische Cosa Nostra auf lange Zeit prägen.

Luciano passte dieses Konzept pragmatisch den Gegebenheiten der Zeit an und ergänzte sie hier und da um ein paar Details. Beispielsweise schuf er die Position eines consigliere. Dieser sollte den Paten bei seinen Entscheidungen beraten und im Fall eines Konfliktes innerhalb einer Familie oder zwischen zwei Clans diplomatisch vermitteln.

Die neuen Regeln

Mitglied der Mafia konnten nur Männer werden, deren Eltern beide aus Sizilien oder Süditalien stammten. Die ethnische Zugehörigkeit blieb das wichtigste Kriterium, nach dem sich Vertrauen und Akzeptanz bemaßen.

Eine enge Zusammenarbeit mit Verbrechern anderer Herkunft war aber nach den neuen Spielregeln problemlos möglich. Sie würden nur nie Aufnahme im inneren Kreis finden und in den Genuss der damit verbundenen Privilegien kommen. Spätere Mafiagenerationen weichten allerdings die Aufnahmebedingungen auf, weil sie schlichtweg nicht mehr der Realität entsprachen.

Doch neben den Rechten gab es für die Mitglieder auch Pflichten zu erfüllen. So bedeutete die Aufnahme in die Cosa Nostra, dass man dieser Organisation ein Leben lang dienen musste. Ein Austritt oder eine vorzeitige „Pensionierung“ war nicht vorgesehen. „Der einzige Weg raus ist in einem Sarg“, äußerte Lucky Luciano.

Zudem sollte die aktive Mitgliederzahl auf den Stand von 1931 beschränkt bleiben. Eine Neuaufnahme war nur möglich, wenn zuvor ein Clanmitglied verstorben war. Luciano wollte damit zukünftigen Dominanzbestrebungen einen Riegel vorschieben, die wieder unweigerlich zu blutigen Revierkämpfen führen würden. Wenn Wachstum nicht möglich war, würde man sich nicht mehr mit Typen wie Masseria oder Maranzano herumschlagen müssen, die sich alles einverleiben wollten.

Vorausschauendes Konzept

Das war der eigentliche springende Punkt an Lucianos Vorschlägen. Sein Konzept markierte den tatsächlichen Übergang von der Bandenkriminalität vergangener Tage in die organisierte Kriminalität moderner Prägung. Die Familie stand über allem. Die Mitglieder waren austauschbar. Es war ab nun egal, wer die Organisation befehligte, wer verhaftet wurde, wer starb. Was immer auch passierte, die Organisation existierte weiter, die Geschäfte liefen wie gehabt.

Wie vorausschauend Lucianos Konzept war, zeigte sich in den folgenden Jahrzehnten. Fünfzig Jahre lang konnte die amerikanische Cosa Nostra fast ungehindert wachsen. In den 1980er und 1990er Jahren zogen die Strafverfolgungsbehörden dann spürbar die Zügel an.

Viele Paten, Capos und einfache Mafiamitglieder landeten für viele Jahre im Gefängnis. Doch schlug man dem Ungeheuer den Kopf ab, wuchsen zwei neue nach. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Die fünf Familien von New York existieren nach wie vor.

Bücher

Mike Dash: The First Family. Terror, Extortion, Revenge, Murder and The Birth of the American Mafia. (2010)

David Critchley: The Origin of Organized Crime in America. (2008)

Selwyn Raab: Five Families. The Rise, Decline, and Resurgence of America’s Most Powerful Mafia Empires. (2006)

Carl Sifakis: The Mafia Encyclopedia (2005)

Joseph Bonanno: A Man of Honor. (1983)

3 Kommentare

  1. Hallo!
    Ich muss sagen, dass mich überrascht hat, wie qualitativ hochwertig Sie schreiben. Besonders die Auswahl an weniger bekannten Fällen ist interessant. Die habe die Webseite markiert.

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