(2) Arsen und Spitzenhäubchen

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Die Presse bekam Wind von den Ermittlungen. Es erschienen mehrere Zeitungsartikel über Hahn, in denen es hieß, sie habe vermutlich mehrere ältere Patienten vergiftet. Diese frühen Artikel beinhalteten zwar noch viele Fehlinformationen und unbestätigte Gerüchte. Aber sie hatten immerhin zur Folge, dass sich bei der Polizei weitere Zeugen meldeten, die vielversprechende Hinweise gaben.

Unter anderem wandte sich der 62-jährige George Heis an die Ermittler. Der Mann sagte aus, dass er Anna Hahn ein Jahr zuvor kennengelernt habe. Zu Beginn hätten sie sich gut verstanden und einige Zeit miteinander verbracht. Doch dann sei ihm schlecht geworden, als er ein Glas Bier getrunken habe, das ihm Anna Hahn eingeschüttet habe. Von da an sei er ihr gegenüber misstrauisch gewesen. Aber erst durch die Zeitungslektüre habe er seinen Verdacht bestätigt gesehen.

Das Crotonöl

Die Polizei erfuhr von einem weiteren Toten, mit dem Anna Hahn unmittelbar vor seinem Ableben in Kontakt stand. Nur zwei Wochen vor Hahns Trip nach Colorado verstarb der 67-jährige George Gsellman in seiner Wohnung 1717 Elm Street. Zeugen hatten beobachtet, wie Anna Hahn ihn besucht hatte. Kurz darauf war ihm schlecht geworden, wenig später war er tot. Die Ermittler erwirkten auch in seinem Fall, dass der Sarg geöffnet und die Leiche obduziert wurde.

Der Pathologe entdeckte im Körper des Toten tatsächlich Spuren eines Gifts. Sein erster Verdacht lautete: Arsen. Doch bei genaueren Tests stellte sich heraus, dass es sich bei der Substanz um Crotonöl handelte. Diese Arznei war speziell in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts äußerst populär und war in vielen Haushalten gebräuchlich gewesen. Man rieb das Öl beispielsweise auf die Haut ein, um die Schmerzen von Rheuma, Gicht oder Entzündungen zu lindern. Bei innerer Anwendung diente die Medizin als Abführmittel.

Aus heutiger Sicht gilt Crotonöl jedoch mindestens als bedenklich, da es mit einem erhöhten Risiko der Tumorbildung einhergeht. Aber auch damals war schon bekannt, dass man das Mittel nur gering dosieren durfte. Die Verabreichung einer zu großen Menge führte mindestens zu unangenehmen Nebenwirkungen oder konnte sogar den Tod zur Folge haben.

Philip Hahn überreichte den Polizisten eine Flasche mit Crotonöl, die er seiner Frau abgenommen hatte, als sie noch zusammenlebten. Weil er seiner Frau gegenüber misstrauisch gewesen war, hatte er zwischenzeitlich seine eigenen Recherchen angestellt. Nachdem er von den möglichen Risiken erfahren hatte, hatte er das Mittel vor seiner Frau versteckt. Ein Apotheker bestätigte später, dass Anna Hahn am 20. Juli 1936 eine Flasche Crotonöl bei ihm gekauft hatte.

Schuldschein und Arsen

Bei der Durchsuchung von Anna Hahns Wohnung fanden die Ermittler einen Schuldschein über 2.000 Dollar. Den Kredit hatte ihr ein gewisser Albert Palmer gewährt. Der 72-jährige Mann war unter 2416 Central Parkway gemeldet. Als die Beamten den Mann befragen wollten, erfuhren sie, dass er bereits am 26. März 1937 verstorben war, nachdem er zuvor längere Zeit krank war. Die Angehörigen sagten zudem aus, dass Anna Hahn ihn vor seinem Tod gepflegt habe. Außerdem fehlten mindestens 4.000 Dollar in bar aus seinem Besitz.

Gleichzeitig erhielten die Ermittler die Ergebnisse aus der Obduktion von Jacob Wagner. Auch sein Leichnam wies eine hohe Giftkonzentration auf. In seinem Fall handelte es sich allerdings nicht um Crotonöl, sondern um Arsen. Das gleiche Gift fand sich im Übrigen auch bei George Obendoerfer, als man dessen Leiche genauer untersuchte.

Befragung des Sohnes

Die Polizisten entschlossen sich nun dazu, auch Anna Hahns Sohn Oskar zu befragen. Über die Patienten seiner Mutter wusste er nichts zu sagen. Doch er lieferte den Beamten ein interessantes Detail im Fall Georg Obendoerfer. Denn seiner Aussage zufolge hatte seine Mutter das Ticket für Obendoerfer am Cincinnati Union Terminal gekauft, dem Hauptbahnhof der Stadt. Anna Hahn hatte also wieder einmal gelogen.

Außerdem verriet der Junge den Ermittlern noch, dass seine Mutter Obendoerfer mehrfach Getränke während der Fahrt gereicht hatte. Und dass der alte Mann schon über Übelkeit klagte, bevor der Zug Colorado erreichte.

Die Behörden in Cincinnati hatten inzwischen viele Indizien gegen die Verdächtige zusammengetragen. Der Haftbefehl, auf dessen Grundlage sie die Frau ursprünglich verhaftet hatten, stammte allerdings aus Colorado. Doch die Polizeibehörden in Ohio waren nicht gewillt, Anna Hahn nach Colorado Springs auszuliefern. Denn dort erwartete sie bisher nur eine Anklage wegen Diebstahls. In Cincinnati ging es um mehrfachen Mord.

Der Prozess

Um eine Auslieferung nach Colorado zu verhindern, klagte die Polizei von Cincinnati Anna Hahn zunächst des Mordes an Jacob Wagner an. Zuständig für den Fall waren die Bezirksstaatsanwälte Dudley Outcalt, Loyal Martin und Simon Leis. Die Verteidigung übernahmen Joseph H. Hoodin and Hiram Bosinger Sr.

Der Prozess begann am 11. Oktober 1937. Den Vorsitz über das Gericht hatte Richter Charles S. Bell. Der Geschworenen-Jury gehörten elf Frauen und ein Mann an. Die Anklage nannte als Mordmotiv Habgier. Anna Hahn habe es auf das Geld und den übrigen Besitz des Opfers abgesehen.

Die Staatsanwälte riefen eine Vielzahl an Zeugen auf. Laut einem Sachverständigen befand sich genug Arsen im Leichnam, „um vier Männer zu töten“. Ein Handschriftenexperte erklärte, dass die Unterschrift auf dem Testament von Jacob Wagner gefälscht sei. Zudem entsprach die Signatur gemäß dem Graphologen der Handschrift von Anna Hahn.

Die Staatsanwaltschaft konnte für sich einen großen Erfolg verbuchen, als der Richter erlaubte, Beweismaterial aus anderen Fällen vor Gericht einzubringen, die nicht Teil des eigentlichen Verfahrens waren. Die Anklage konnte so darlegen, dass Anna Hahn nach einem Tatmuster handelte. Darüber hinaus betrat infolge der richterlichen Entscheidung George Heis den Zeugenstand, der einen mutmaßlichen Mordanschlag überlebt hatte. Am 29. Oktober 1937 schloss die Anklage ihre Beweisaufnahme ab.

Kaltblütig

Die Verteidigung hatte ihrerseits kaum Zeugen oder Beweismittel zu präsentieren. So rief sie Anna Hahn in den Zeugenstand, damit sie sich selbst gegen die Vorwürfe verteidigen konnte. Sie schlug sich im Kreuzverhör unerwartet wacker. Der Staatsanwalt konnte sie dort in keine weiteren Widersprüche verwickeln oder ihr Falschaussagen nachweisen.

In seinem Plädoyer verwendete der Staatsanwalt Dudley Outcalt die scheinbare Gelassenheit der Angeklagten vor Gericht gegen sie: „Sie ist kaltblütig wie keine andere Frau auf der Welt. Denn niemand könnte hier vier Wochen der Verhandlung beiwohnen und angesichts des erschütternden Beweismaterials keinerlei Gefühle zeigen. Sie ist herzlos, weil niemand mit einem Herzen so mit diesen Männern hätte umgehen können. Wir haben hier die kälteste, herzloseste Person gesehen, die uns je in unserem Leben begegnet ist.“

Die Geschworenen benötigten lediglich zwei Stunden für ihre Beratungen. Sie erklärten die Angeklagte des Mordes an Jacob Wagner schuldig. Entscheidend war aus juristischer Sicht der Passus „ohne Anempfehlung von Gnade“. Das zog nach der damaligen Gesetzeslage im Falle von Mord zwingend die Todesstrafe nach sich. Damit hatten die Geschworenen die erste Frau im Bundesstaat Ohio zum Tode verurteilt.

Hinrichtung

Am 10. November 1937 bestätigte Richter Bell das Urteil und verkündete, dass die Täterin bis zum 10. März 1938 auf dem elektrischen Stuhl hingerichtet werden müsste. Anna Hahns Verteidiger formulierten jedoch zahlreiche Eingaben und Berufungen, sodass der Hinrichtungstermin nicht gehalten werden konnte.

Schließlich landete die Berufung in letzter Instanz vor dem Obersten Gerichtshof der USA, der den Antrag ablehnte. Das Urteil war damit rechtsgültig. Datum der Hinrichtung war nun der 7. Dezember 1938, 20.00 Uhr.

Am anberaumten Tag schrieb Anna Marie Hahn vier Briefe, die sie ihren Anwälten aushändigte. Pünktlich um 20.00 begann die Hinrichtung. Um 20.13 Uhr erklärte der Gefängnisarzt Anna Hahn offiziell für tot. Der Leichnam wurde auf dem Holy Cross Catholic Cemetery in Columbus (Ohio) bestattet.

Vier Briefe

Am 17. Dezember 1938 gab Hahns Rechtsverteidiger Joseph H. Hoodin bekannt, dass er die vier Briefe der hingerichteten Straftäterin an die Tageszeitung „Cincinnati Enquirer“ verkauft habe. Der Erlös sollte einem Fonds zugunsten des Sohnes Oskar zukommen. Zwei Tage später veröffentlichte die Zeitung die Schreiben.

In den Briefen gestand Anna Marie Hahn alle Morde ein, derer die Polizei sie in Verdacht hatte. Sie äußerte sich darüber hinaus ausführlich zu den Beweggründen ihrer Taten, wobei man natürlich vorsichtig sein sollte, jedes Wort von ihr für bare Münze zu nehmen.

Es ergab sich grob folgendes Bild: Anna Hahn und ihr Ehemann hatten schwerwiegende finanzielle Probleme. Was wenig verwundert, wenn man mitten in der größten Wirtschaftskrise der Weltgeschichte ausgerechnet zwei Feinkostgeschäfte eröffnet. Sie machte zunächst alles zu Geld, was sich irgendwie verkaufen ließ. Aber irgendwann waren auch diese Barmittel erschöpft.

Spätestens jetzt trieben Anna Hahn konkrete Existenzängste um. Sie selbst behauptete in den Briefen zwar immer wieder, dass sie sich in erster Linie um ihren Sohn und dessen Zukunft gesorgt habe. Aber ganz so selbstlos scheint diese Dame nicht gewesen zu sein.

Pferdewetten

Die Lage verschlimmerte sich, als die Banken ihr das geerbte Haus pfänden wollten: „Ich unterzeichnete einige Dokumente für meinen Mann, und weil ich die Dokumente unterzeichnet hatte, drohten sie mir, mir das Haus in der Colerain Avenue wegzunehmen, das Haus über meinen Kopf hinweg zu verkaufen und mich und meinen Jungen auf die Straße zu werfen. Da begann ich zu wetten und auf Pferderennen zu setzen. Ich wollte etwas Geld für meinen Jungen verdienen.“ Wie bereits erwähnt: Die erste Pferdewette hatte sie bereits 1930 platziert. Denkbar also, dass sie bereits spielsüchtig war und erst in zweiter Linie das Wohlergehen ihres Kindes im Sinn hatte.

Bei einem ihrer Ausflüge auf die Rennbahn lernte sie Albert Palmer kennen. Die beiden kamen sich mit der Zeit näher und Anna Hahn lieh sich von Palmer Geld für ihre Wetten. „Das meiste zahlte ich zurück. Aber als ich nach seinem Geschmack nicht schnell genug meine Schulden beglich, verlangte er von mir, dass ich seine Freundin wurde. Er drohte mir, dass er mir seinen Anwalt wegen der Schulden auf den Hals hetzen würde, wenn ich nicht tun würde, was er von mir verlangte.“

„Gott weiß, dass ich ihn nicht töten wollte. Und ich weiß nicht, was es war, dass mir solch einen Gedanken ins Gehirn pflanzte. Ich erinnerte mich, dass im Keller noch Rattengift stand. Irgendetwas in meinem Kopf sagte mir: ‚Gib ihm ein bisschen davon und er wird dir keine Probleme mehr bereiten.‘ Ich weiß nicht, was mich dazu gebracht hat, aber ich habe etwas von dem Gift in die Austern getan.“

Kurze Zeit später erfuhr sie von Palmers Verwandten, dass er krank wurde und ins Krankenhaus eingeliefert wurde. „Ich besuchte ihn, sobald ich konnte. Er war sehr nett zu mir. Er sagte mir, dass es ihm leid täte, wie er mich behandelt hatte. Ich betete dafür, dass er wieder gesund wurde. Niemand weiß, was mir durch den Kopf ging. Ich sagte den Krankenschwestern und den Ärzten, dass sie alles unternehmen sollten, damit er wieder gesund würde. Aber an Gründonnerstag starb Mr. Palmer. Nur ich weiß warum.“

Verzerrte Wahrnehmung?

Anna Hahn schien es außerdem ein Anliegen zu sein, das Bild, das sich die Öffentlichkeit von ihr im Strafprozess gemacht hatte, zu revidieren. „Als ich neben der Leiche von Mr. Wagner in der Trauerhalle stand, hätte ich am liebsten laut los geschrien. Ich habe es nicht getan. Ich konnte nicht glauben, was ich getan hatte. Ich kann es selbst heute nicht glauben. Ich konnte es nicht glauben, als all die Leute den Gerichtssaal betraten und den Geschworenen erzählten, wie diese Männer gestorben waren. Ich saß da und dachte, ich würde eine Geschichte über eine andere Person hören.“

War Anna Marie Hahn also gar nicht die gefühlskalte Mörderin, wie der Staatsanwalt behauptet hatte? Nun, ihre Glaubwürdigkeit leidet zumindest angesichts der Tatsache, dass sie nicht nur eine Mörderin, sondern eine Serienmörderin war. Sie hatte nicht nur aus lauter Verzweiflung Albert Palmer getötet. Als sie scheinbar ungeschoren davon kam, hatte sie gezielt nach weiteren Opfern Ausschau gehalten und diese so schnell wie möglich unter die Erde gebracht. Dieses Vorgehen lässt weniger auf Gewissensbisse, sondern vielmehr auf eine gewisse Kaltblütigkeit schließen.

Oskar

Die Ermittler waren jedenfalls erleichtert. Sie hatte alle Taten zugegeben, die nicht vor Gericht verhandelt wurden und die damit nun als geklärt galten. Die Polizisten hatten mit ihrem Verdacht richtig gelegen. Insofern brachten die Briefe den Behörden und vor allen Dingen den Angehörigen zumindest Gewissheit, welches Schicksal den Verstorbenen widerfahren war.

Anna Hahns Sohn Oskar war 12 Jahre alt, als seine Mutter auf dem elektrischen Stuhl starb. Die Behörden gaben ihn zu einer Pflegefamilie in den Mittleren Westen. Die Zeitung „Cincinnati Enquirer“ hielt ihr Versprechen und kam für die Ausbildung des Jungen auf. Sein neuer Name und sein genauer Verbleib wurden niemals öffentlich gemacht. Es ist lediglich bekannt, dass er ein unauffälliges Leben führte und im Zweiten Weltkrieg in der US-Marine gedient hatte.

Opfer

  • 26.3. 1937: Albert J. Palmer (72); bei Wikipedia und anderen Quellen fälschlicherweise als „Albert Parker“ angegeben (Grabstein)
  • 3.6. 1937: Jacob Wagner (78)
  • 6.7. 1937: George Gsellman (67)
  • 1.8. 1937: Johan Georg Obendoerfer (67)

Es gibt weitere mögliche Opfer. Allerdings hat Anna Hahn in ihren Briefen entweder ausdrücklich geleugnet, diese übrigen Taten begangen zu haben, oder ist gar nicht erst auf sie eingegangen. Das betrifft unter anderem die bereits erwähnten Fälle George Heis und Olive Koehler, die beide überlebten.

Ähnlich erging es wahrscheinlich Stina Cable, die die Mörderin am 15. Juli 1936 in der Damentoilette einer Kneipe kennenlernte. Anna Hahn lud sie zu einem Bier ein. Laut Cable habe Hahn ihr Gift ins Getränk gegeben. Danach sei sie ein Jahr krank gewesen. Außerdem habe Hahn ihr 800 Dollar gestohlen. Doch sie kam mit dem Leben davon

Weniger Glück war Ernest Kohler (62) beschieden. Kohler hatte den Hahns Räumlichkeiten vermietet, als sie 1932 ihr Geschäft eröffneten. Am 6. Mai 1933 verstarb der Mann, offiziell an den Folgen einer Krebserkrankung. Er vermachte seinen Besitz Anna Hahn. Aus diesem Grund bestand der Verdacht, dass sie ihn vergiftet haben könnte. Die Tat ließ sich zum Zeitpunkt der Ermittlungen jedoch nicht mehr beweisen. Denn Kohlers Leiche wurde in einem Krematorium bestattet, die Urne mit seiner Asche nahm Anna Hahn entgegen.

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Bücher

Diana Britt Franklin: The Good-bye Door (2006)

George Stimson: The Cincinnati Crime Book (1998)

Weitere Kapitel zum Fall Anna Marie Hahn 

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