Thomas Rücker war alles andere als ein hartgesottener Krimineller, bevor er den kaltblütigen Raubmord an Dr. Claußen beging. Im Gegenteil. Rücker besaß aus polizeilicher Sicht eine blütenweiße Weste und hatte sich nie etwas zuschulden kommen lassen in seinem Leben. Jeder, der Rücker kannte, beschrieb den jungen Mann als wohlerzogen, geradezu kreuzbrav. Demnach war dieses hochanständige Bürschchen urplötzlich auf die schiefe Bahn geraten und hatte mit dem brutalen Mord seine kriminelle Karriere gleich mal von null auf hundert beschleunigt.
Thomas Rücker war am 28. Dezember 1888 in Hermsdorf in Böhmen, dem heutigen Heřmanice u Frýdlantu, zur Welt gekommen. Rücker hatte noch einen jüngeren Bruder und war der Sprössling einer wohlhabenden, katholischen Familie, die mittlerweile in Liberec (damals Reichenberg) ansässig war. Sein Vater war ein erfolgreicher Architekt. Thomas Rücker hatte in Liberec das Gymnasium besucht, die Schule jedoch bereits nach der 11. Klasse abgebrochen. Er war den schulischen Anforderungen nicht gewachsen. Damit zerschlugen sich auch seine Träume, eines Tages Theologie zu studieren.
Auf der schwarzen Liste
Stattdessen ging er bei einem Gärtnereibetrieb in Liberec in die Lehre. Nach Ende der Lehrzeit wechselte er auf eine Fachschule für Gartenbau in Berlin, an der er zwei Semester studierte. Anschließend trat er zunächst in Trier, dann in Wandsbek bei Hamburg eine Stelle als Gärtnergehilfe an. Sein Arbeitgeber Berndt schien aber von den Leistungen seines neuen Mitarbeiters alles andere als angetan zu sein. Der Gärtnereibesitzer entließ Rücker nach kurzer Zeit.
Zudem habe Berndt ihm gedroht, so Rücker im Verhör, ihn auf die »schwarze Liste« zu setzen. Denn Berndt war auch erster Schriftführer des deutschen Handelsgärtnerei-Verbandes. Er würde dafür sorgen, dass Rücker in ganz Deutschland keine Arbeit im Gärtnereigewerbe finde, habe sein Boss ihm angekündigt. Rücker sei völlig unbrauchbar für diesen Job, so das vernichtende Urteil von Berndt.
Von Brot und Wasser
Thomas Rücker fand dann vorübergehend neue Arbeit in einer Hamburger Eisenwarenhandlung. Der Verdienst von 20 Mark die Woche war nicht gerade prickelnd, aber der junge Mann kam mit dem schmalen Gehalt aus. Denn Thomas Rücker war überzeugter Antialkoholiker und Vegetarier. Er habe noch nie ein Wirtshaus betreten und stets den intimen Kontakt zu Frauen gemieden, äußerte Rücker. Er habe sich ausschließlich von trockenem Schrotbrot und Wasser ernährt. Wenn er sich mal etwas Besonderes habe gönnen wollen, habe er zu einem Apfel gegriffen.
Kleine historische Randbemerkung: Rücker hatte sich fraglos das richtige Pflaster für die Totalaskese ausgesucht. Hamburg galt als Keimzelle der deutschen Vegetarierbewegung, die hier 1867 erstmals belegt war. Doch auch mit Rückers selbst verordneter Rosskur war bald Essig, denn er verlor erneut seine Anstellung. Die wenigen Notgroschen, die er beiseitegelegt hatte, waren schnell aufgezehrt. Nun konnte er sich nicht einmal eine Scheibe Schrotbrot leisten. Er hungerte. Tagelang.
Der Hunger ließ ihn nicht einmal mehr ruhig schlafen. Als Thomas Rücker den dritten Tag in Folge mit leerem Magen ins Bett gegangen war, kam ihm in der Nacht die zündende Idee, wie er sein Problem auf einen Schlag aus der Welt schaffen könne. Er müsste einfach nur jemanden ausrauben. Er habe sich zuvor bereits Fachliteratur zu Gemüte geführt, wie Rücker gegenüber den Polizeibeamten behauptete. Tatsächlich handelte es sich bei der »Fachliteratur« um einen Kriminalroman aus der Feder eines gewissen Nick Carter, in dem der Mord in einem Eisenbahnabteil beschrieben war. Das würde er nun auch machen, beschloss Rücker in jener verhängnisvollen Nacht.
Wirre Motivlage
Mit dieser Logik überforderte er seine Zeitgenossen. Den Gedankenschritt konnte niemand nachvollziehen. Wenn er sich schon in einer akuten Notlage befand und partout keinen anderen Ausweg mehr sah, als die Dinge kriminell zu lösen – warum hatte er nicht die naheliegende Lösung ins Auge gefasst und einen Diebstahl begangen? Damals gab es im deutschen Strafrecht noch einen Passus, der explizit zwischen Mundraub und gewöhnlichem Diebstahl unterschied. Selbst wenn man erwischt wurde, drohten vergleichsweise harmlose Strafen.
Doch die Motivlage im Mordfall Dr. Claußen war noch irrer. Denn in Wahrheit hatte Thomas Rücker gar keine Geldprobleme. Das war ein reines Hirngespinst. Der junge Mann hätte einfach nur einen Brief an seinen Vater schreiben müssen. Der hätte ihm sofort aus der finanziellen Patsche geholfen. Dem Vernehmen gab es auch keinerlei Hinweise auf einen ernsthaften Familienzwist oder ein zerrüttetes Familienverhältnis, die das unmöglich gemacht hätten. Selbst seine Vermieter hätten ihm bedenkenlos Geld geliehen, wie sie vor Gericht bekundeten. Sie wussten, dass die Eltern vermögend waren und jederzeit für die Schulden ihres Sohnes aufkommen würden. Warum also dieser Irrsinn, einen Menschen umzubringen?
Weil er sich schämte, versagt zu haben, meinte Thomas Rücker zum Richter. Weil er seinem Vater die Schande habe ersparen wollen. Weil ein Diebstahl die Tat eines charakterlosen Lumpen sei. Gesellschaftlich völlig inakzeptabel. Dass diese Logik krude war, muss man nicht näher ausführen. Rücker konnte nicht ernsthaft annehmen, dass seine Familie eines Tages stolz darauf sein würde, einen brutalen Raubmörder großgezogen zu haben.
Mord auf Pump
Ein weiteres Detail offenbart, wie abstrus die Denkweise des Täters war. Thomas Rücker hatte sich also den Plan zurechtgelegt, in Altona ein Billett zweiter Klasse zu lösen und dort auf dem Bahnhof nach einem geeigneten Opfer Ausschau zu halten. Nun kostete das Ticket jedoch eine Mark. Eine Mark, die er nicht besaß. Schwarzfahren war damals praktisch nicht möglich, weil die gültigen Fahrausweise seinerzeit noch bei Betreten des Bahngleises von einem Schaffner überprüft wurden. Rücker lieh sich den fraglichen Betrag bei seiner Vermieterin. Das war also die Logik des Thomas Rücker. Sich Geld für Lebensmittel zu borgen, wenn man hungerte = Schande. Auf Pump einen Raubmord vorzufinanzieren = vernünftige Kreditpolitik.
Die Berichte über den Fall geben leider nicht genug her, um beurteilen zu können, warum Thomas Rücker sich überhaupt in die Notlage manövriert hatte. War er schlicht zu faul? Zu ungeschickt? Zu antriebslos? Zu mutlos? Seine Arbeitgeber wie Berndt hielten ihn für »lümmelhaft« und »bummelig«. Eine Aussage seiner Wirtsleute deutete zumindest an, dass Rücker durchaus noch andere Perspektiven gehabt hätte, die Flinte aber allzu schnell ins Korn warf. So berichteten die Vermieter, dass Rückers Geigenspiel regelmäßig für einen Auflauf vor ihrem Haus gesorgt habe. Die Nachbarschaft schien sich für die Künste des jungen Mannes zu begeistern. Rücker hatte als Kind eine Musikausbildung genossen, der Vater hatte ihm eine hochwertige Geige geschenkt.
Der Richter befragte den Angeklagten, ob er nicht mal in Erwägung gezogen habe, mit Geigenunterricht seinen Lebensunterhalt zu bestreiten, wenn er darin so gut gewesen sei. Doch, er habe sich durchaus mit dem Gedanken befasst, antwortete Rücker. Aber beim Denken war es geblieben. Rücker hatte nie ernsthaft versucht, den Plan in die Tat umzusetzen. Er hatte mal ein paar selbst verfasste Gedichte an Zeitungen in Altona und Hamburg verschickt. Als ihn niemand ein Honorar dafür bot, steckte er gleich auf. Mit Kunst ließ sich kein Geld verdienen, so sein verbittertes Fazit.
Eiskalt
Stattdessen verlegte sich Thomas Rücker auf die Schädelspalterei. Am Nachmittag des 10. November 1906 trieb sich der am Hungertuch Nagende wie geplant auf dem Bahnhof in Altona herum. Er hatte sich bereits vorab den Vorortzug nach Blankenese ausgesucht. Er rechnete damit, dass am Samstagnachmittag nur wenige Fahrgäste auf dieser Linie unterwegs seien, darunter aber der eine oder andere wohlhabende Kaufmann. Blankenese galt als Feine-Leute-Viertel.
Im Schalterraum taxierte er die Bahnreisenden. Sobald er Dr. Claußen erblickte, hatte Rücker seine Wahl getroffen. Der gut gekleidete Mann mit einer edlen Lederhandtasche wirkte wie ein lohnenswertes Ziel. Rücker löste schnell ein Ticket und beobachtete Dr. Claußen. Claußen betrat ein leeres Abteil. Perfekt, dachte sich Rücker und eilte ihm nach. Die Tatwaffe, die Rücker mit sich führte, hatte er zuvor heimlich aus der Küche seiner Vermieter entwendet. Sie benutzen das Beil zum Holzspalten. Die Klinge des Beils befestigte er mit einer Schnur, die er um die Hose band, direkt am Bauch. Der Axtstiel ragte ins Hosenbein hinein.
Er habe durchaus Hemmungen verspürt, als er seinem Opfer im Abteil gegenüber gesessen habe, gab Rücker zu. Aber Rückers Ticket galt nur bis Klein-Flottbek. Und als der Zug Groß-Flottbek passiert habe, habe er eine Stimme in seinem Kopf rufen hören: Jetzt oder nie. Da schritt Rücker eiskalt zur Tat. Er stand zunächst auf und stellte sich ans Abteilfenster, als würde er die Aussicht genießen. In Wahrheit holte er vorsichtig das Beil aus der Hose. Dann ging alles rasend schnell. Er stürzte sich auf den ahnungslosen Zahnarzt und hieb mehrfach mit voller Wucht auf seinen Kopf ein.
Nachdem Rücker im Toilettenhäuschen notdürftig die Spuren der Tat beseitigt hatte, suchte er die nächste Bäckerei auf, um sich mit seinem heiß geliebten Schrotbrot zu versorgen. Bei einem Obsthändler ergatterte er einen Apfel. Er war der Ansicht, dass er sich an diesem Tag den Luxus verdient habe. Anschließend ging er zu Fuß zurück nach Altona und versteckte das Beil seiner Wirtsleute wieder am angestammten Platz.
Thomas Rücker hatte sich vor der Tat überlegt, dass es eine gute Idee sei, die Polizei auf eine falsche Fährte zu locken. Dazu verfasste er ein anonymes Bekennerschreiben in gebrochenem Deutsch: »Ich haben heut eine Mann auf Bahn tot gemacht. Warum? Weil ausgewiesen sein. Hab nix Geld gehabt. Ich waren gut verkleidet. Der Mörder.“ Er warf den Brief noch am selben Abend in die Post und legte sich danach ins Bett.
Gewissensbisse
Allerdings plagten Thomas Rücker in dieser Nacht statt des Hungers die Gewissensbisse. An Schlaf war lange Zeit nicht zu denken. Ihm wurde allmählich bewusst, was er angerichtet hatte. Am meisten Angst bereitete ihm der Gedanke, was seine Eltern von ihm halten würden, wenn sie von seinem Verbrechen erfahren würden. Gegen Morgengrauen fiel Rücker in einen unruhigen Schlaf, aus dem ihn alsbald seine Vermieterin weckte.
Sie erzählte ihm von dem schrecklichen Raubmord. Dass die Polizei überall in Altona nach dem Täter fahnden würde. Rücker riss das Fenster auf und sah, wie sich unten auf der Straße vor dem Fahndungsplakat der Polizei eine große Menschentraube bildete und die Leute aufgeregt miteinander diskutierten. Das Adrenalin schoss Rücker wieder ins Blut. Er verließ die Wohnung, irrte ziellos in Altona und Hamburg herum.
Um sich zu beruhigen, brach er mit seinen Grundsätzen. Er suchte ein Wirtshaus auf und trank zum ersten Mal in seinem Leben Alkohol. Drei gleichaltrige Burschen gesellten sich zu ihm an den Tisch. Rücker gab eine Runde aus, ließ weitere folgen. Seine Begleiter linsten in den prall gefüllten Geldbeutel. Sie überredeten ihren neuen Freund zu einem Besuch im Bordell. Rücker war zu dem Zeitpunkt schon reichlich angetrunken. Vielleicht vertriebe das ja die Schuldgefühle, dachte sein vernebeltes Hirn.
Der Bordellbesuch endete im Desaster. Die Prostituierten sagten später vor Gericht aus, sie hätten den Eindruck gehabt, Rücker sei homosexuell veranlagt gewesen. Vielleicht war der Junge auch einfach nur verschüchtert und überfordert mit der Situation. Man weiß es nicht. Rücker flüchtete nach der unerfreulichen Episode zurück in sein Zimmer. Die Nacht, als er über die Stränge schlug, wurde ihm schließlich zum Verhängnis. Seine Saufkumpanen verpfiffen ihn an die Polizei. Sie konnten bezeugen, dass er über ungewöhnlich viel Bargeld verfügte. Außerdem ähnelte er der Täterbeschreibung des Raubmörders.
Der Prozess
Am 19. Januar 1907 ging der Fall in Altona vor Gericht. Der Angeklagte war noch nicht volljährig. Eine Verhandlung vor Geschworenen war deshalb nicht möglich. Der Richter hielt Rückers Auslassungen zu seinem Tatmotiv für äußerst unbefriedigend. Er bestellte mehrere medizinische Gutachter ein. Sie sollten feststellen, ob der Junge überhaupt zurechnungsfähig war. Möglicherweise war Rücker ja geistig krank und so sein Verhalten zu erklären.
Die Ärzte fanden in Rückers Krankengeschichte einige Auffälligkeiten. Er hatte bereits als Kind regelmäßig unter Kopfschmerzen gelitten und neigte zu unkontrollierten Krämpfen. Er äußerte, dass er vor allen Dingen auf Geräusche sehr empfindlich reagiere, häufig mit Schlaflosigkeit zu kämpfen habe und praktisch jede Nacht von schweren Albträumen geplagt werde. Letzteres habe sich nach dem Mord noch verstärkt.
Für die Sachverständigen reichten diese Symptome aber nicht aus, um daraus eine ernsthafte psychische Erkrankung abzuleiten. Thomas Rücker hatte den Mord aus freiem Entschluss begangen und war somit juristisch gesehen voll schuldfähig. Der Richter verurteilte den Angeklagten daraufhin zur Höchststrafe für jugendliche Straftäter: 15 Jahre Gefängnis.
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Weitere Kapitel zum Fall Axtmörder Flottbek
- Thomas Rücker – Der Axtmörder aus Altona
- (2) Der beilschwingende Vegetarier
Die Seite bringt mir viel (gruseligen) Spaß und ich werde noch einige Nächte mit dem Durchlesen aller Stories verbringen.
Einerseits sind die romanartigen Schilderungen der Taten sehr gut gemacht, aber ich finde, es fließt bisweilen etwas viel an Mutmaßung, freier Interpretation und persönlicher Meinung hinein. Eine Spur mehr Sachlichkeit und es wäre perfekt.
Trotzdem, gut gemacht. Habe die Seite nicht umsonst „gebookmarked“.
Vielen Dank für die Rückmeldung!
Richard Deis