(7) Aus Mangel an Glaubwürdigkeit

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Das große öffentliche Interesse am Fall Aileen Wuornos hatte auch zur Folge, dass sich Menschen zu Wort meldeten, die Verständnis für die Täterin aufbrachten und in ihr gar das eigentliche Opfer sahen. Eine dieser Personen war Arlene Pralle. Die 44-jährige Frau aus Ocala (Florida) betrieb eine Pferdezucht und Reiterpension. Sie begriff sich darüber hinaus als „wiedergeborene Christin“, der Jesus aufgetragen habe, mit der inhaftierten Wuornos in Kontakt zu treten. Sie schrieb ihr einen Brief, in dem sie ihre Telefonnummer vermerkte. Wuornos rief sie daraufhin zurück. Von diesem Moment an war Pralle öffentliches Sprachrohr und persönliche Beraterin der Serienmörderin.

Während des gesamten Jahres 1991 trat Pralle im Fernsehen und in der Presse auf. Sie sprach mit allen Reportern, die bereit waren, ihre Botschaft zu verbreiten. Aileen Wuornos sei in Wahrheit ein guter Mensch, der lediglich eine problematische Kindheit durchlebt habe. Nun hätten sich Polizisten, Staatsanwälte und ihre Ex-Freundin Tyria Moore verschworen, um ihr eine Reihe von Morden anzuhängen, die sie nicht begangen habe. Sie sei nur der perfekte Sündenbock in einem abgekarteten Spiel.

Arlene Pralle riet Wuornos zudem, ihre Anwälte auszutauschen. Auch sie seien nicht wirklich an ihrem Schicksal interessiert. Sie nutzten die Aufmerksamkeiten der Medien nur aus, um selber finanziell zu profitieren. Wuornos ließ sich überzeugen und beantragte bei Gericht eine neue Verteidigung. Der Richter willigte ein.

Pralle gelang es sogar, Interviewtermine zwischen Journalisten und der Inhaftierten zu vermitteln. So konnte Wuornos ihre eigene Sicht auf die Dinge äußern, was sich allerdings auf lange Sicht noch als Bumerang erweisen sollte. Ihre mit der Kamera dokumentierten Wutausbrüche und Anfälle prägten das Bild, das sich damals die breite Öffentlichkeit von ihr machte: Das war kein Mensch, sondern ein „irres Monster“.

Am 22. November 1991 adoptierten Arlene Pralle und ihr Ehemann Aileen Wuornos. In einem Interview sprach Pralle von „Seelenverwandtschaft“, die sie vom ersten Tag mit ihrer Adoptivtochter verbunden habe: „Es ist, als wäre ein Teil von mir mit ihr im Gefängnis eingesperrt. Wir wissen immer, was der andere fühlt und denkt.“

Fehleinschätzung

Die neuen Anwälte schlugen ihrer Mandantin vor, sich in sechs Mordfällen schuldig zu bekennen. Die Verteidiger waren zuversichtlich, dass die Staatsanwaltschaft aufgrund des Schuldeingeständnisses zu einem Deal zu bewegen war – statt Todesstrafe sechs Mal lebenslänglich. Aileen Wuornos gab ihr Okay.

Doch die Rechtsanwälte hatten die Situation falsch eingeschätzt. Die Anklage war sich ihrer Beweisführung sehr sicher und wollte von einem Deal vorab nichts wissen. Die Beschuldigte sollte die Strafe erhalten, die sie aus Sicht der Staatsanwälte verdiente: den Tod.

Und so ging der Fall am 14. Januar 1992 vor Gericht. In diesem Verfahren wurde nur der Mord an Richard Mallory verhandelt. Für die übrigen Verbrechen sollten weitere Prozesse anberaumt werden. In vielen US-Bundesstaaten hätte diese Vorgehensweise einen nicht zu unterschätzenden Vorteil für die Beschuldigte bedeutet. Denn dort hätten die Geschworenen nichts davon erfahren, dass der Angeklagten weitere Morde nach dem gleichen Tatmuster vorgeworfen wurden. Die Verteidigung hätte sich darauf konzentrieren können, einen begründeten Zweifel zu wecken, dass Aileen Wuornos die Täterin im Fall Richard Mallory war. Nicht so im Bundesstaat Florida.

Unglaubwürdig

Denn dort erlaubte das Gesetz, auch Beweismittel aus anderen Fällen in den Prozess mit einzubeziehen. Dadurch konnte die Staatsanwaltschaft eine große Zahl an Indizien und Zeugen auffahren, die sich für Wuornos als äußerst nachteilig erwiesen. Ihre ursprüngliche Rechtfertigung, sie habe Richard Mallory aus Notwehr getötet, nahmen ihr die Geschworenen nun nicht mehr ab. Angesichts der Vielzahl der Opfer wirkte diese Aussage unglaubwürdig.

Der Eindruck verstärkte sich, als die Anklage die Videoaufzeichnung des ersten Verhörs von Wuornos abspielte. Sie wirkte selbstsicher, als sie den Mord an Mallory schilderte, und nicht traumatisiert oder zumindest emotional aufgewühlt, wie man es bei einer Notwehr-Tat hätte erwarten können.

Den nächsten Fehler beging Wuornos, als sie sich gegen den Rat ihrer Anwälte in den Zeugenstand begab. Sie wollte selber den Geschworenen darlegen, wie Mallory sie gefoltert und anal vergewaltigt habe. Doch im Kreuzverhör förderte der Staatsanwalt jede Menge Widersprüche in ihrer Aussage zutage. Teilweise konnte er ihr sogar Lügen nachweisen. Sie reagierte aufbrausend und wütend. Diesen Wesenszug der Angeklagten hätte die Verteidigung nur allzu gerne vor den Geschworenen verborgen.

Die Anwälte versuchten zu retten, was noch retten zu war. Sie empfahlen ihrer Mandantin, sich auf den 5. Zusatzartikel der Verfassung zu berufen und die Antwort auf eine Frage des Staatsanwalts zu verweigern, da sie sich damit selbst strafrechtlich belasten könnte. Zu diesem Mittel griff sie insgesamt 25 Mal während des Kreuzverhörs. Und die Glaubwürdigkeit bröckelte erneut.

Urteile

Da Aileen Wuornos die einzige Zeugin war, welche die Verteidigung aufrief, war aufgrund ihres desolaten Auftritts das Urteil fast schon gesprochen. Am 27. Januar 1992 schickte Richter Uriel Blount die Geschworenen zur Beratung. Sie benötigten lediglich zwei Stunden, um zu einer einstimmigen Entscheidung zu gelangen: schuldig in allen Anklagepunkten. „Ich bin unschuldig! Ich wurde vergewaltigt! Ich hoffe, ihr werdet alle vergewaltigt, ihr Schleimscheißer!“, schrie ihnen die Angeklagte entgegen.

Am nächsten Tag versammelten sich dieselben Geschworenen, die Wuornos zuvor beschimpft hatte, wieder im Gerichtssaal, um das konkrete Strafmaß festzulegen. Die Verteidiger riefen mehrere Gutachter auf, die aussagten, dass Aileen Wuornos psychisch krank sei und an einer Borderline-Persönlichkeitsstörung leide. Die Geschworenen ließen sich nicht erweichen. Am 31. Januar 1992 verurteilten sie die Angeklagte zum Tode.

Für die noch offenen Mordanklagen verzichtete Aileen Wuornos auf eine Verhandlung vor einem Geschworenengericht, wie es ihr von Rechts wegen zugestanden hätte. Am 31. März bekannte sie sich der Morde an Dick Humphreys, Troy Burress und David Spears schuldig. Sie beharrte auf ihrer Aussage aus dem ersten Prozess, dass Richard Mallory sie vergewaltigt habe: „Aber die anderen Männer taten dies nicht. Sie hatten das jedoch vor.“ Am 15. Mai 1992 verurteilte sie Richter Thomas Sawaya drei Mal zum Tode.

Im November 1992 folgte das nächste Todesurteil für den Mord an Charles Carskaddon, im Februar 1993 erging das letzte Todesurteil für den Mord an Walter Gino Antonio. Für den siebten Mord an Peter Siems verzichtete die Staatsanwaltschaft auf eine Anklage, da seine Leiche nie gefunden wurde.

Hinrichtung

Erst nach Prozessende stellte sich heraus, dass Richard Mallory zehn Jahre wegen eines Sexualstrafdelikts eingesessen hatte. Die NBC-Reporterin Michele Gillen veröffentlichte erstmals im November 1992 die Details. Eigentlich unglaublich, dass die Verteidigung diesen Fakt nicht beizeiten ausgegraben hatte. Die Geschworenen hätten zumindest der Aussage von Aileen Wuornos zu ihrem ersten Mord vermutlich mehr Glauben geschenkt. Ihre Anwälte beantragten zwar eine Neuaufnahme des Verfahrens. Doch in letzter Instanz bestätigte das Oberste Bundesgericht von Florida alle gefällten Urteile. Wuornos entließ daraufhin ihre Rechtsverteidiger und verzichtete auf weitere Berufungen.

Die Hinrichtung war für 2002 anberaumt. In dieser Phase häuften sich aber die Fälle, in denen sich Todesurteile als Fehlurteile entpuppten – auch eine Folge des Siegeszugs der DNS-Analyse. So hatte beispielsweise der US-Bundesstaat Illinois jeden Vollstreckungstermin bis auf Weiteres ausgesetzt. Auch der Gouverneur von Florida, Jeb Bush, stoppte mehrere bereits angesetzte Hinrichtungen, darunter die von Aileen Wuornos.

Doch die Serienmörderin wollte weder von einem Aufschub noch von einer Begnadigung etwas wissen. Sie bestand darauf, dass das Verfahren seinen gewohnten Gang nahm. Hätte sie das nicht getan, würde sie heute womöglich immer noch in ihrer Zelle einsitzen. So erleichterte sie Gouverneur Bush die Entscheidung.

Am 9. Oktober 2002, einem Mittwoch, tötete sie der Henker um 9.47 Uhr mittels einer Giftinjektion. Die Hinrichtung fand im Florida State Prison in Starke statt. „Ich komme wieder“, sollen ihre letzten Worte gelautet haben.

Bücher

Deutsch

Michael Reynolds: Ich hasse alle Männer. Die unfaßbare Geschichte einer Serienmörderin (1992)

 

Englisch

Dolores Kennedy: On a Killing Day (1992)
Terry Manners: Deadlier Than the Male (1995)
Sue Russell: Lethal Intent (2002)
Aileen Wuornos & Christopher Berry-Dee: Monster. My True Story (2004)
Lisa Kester & Daphne Gottlieb: Dear Dawn. Aileen Wuornos in Her Own Words (2012)

 

Filme

Dokus

Aileen Wuornos: The Selling of a Serial Killer (1992)
American Justice: Death Row Prostitute – Aileen Wuornos (1998)
Aileen: Leben und Tod einer Serienmörderin (2003)
A&E Biography: Aileen Wuornos (2003)
Born to Kill: Aileen Wuornos – das Monster (2010)

 

Spielfilme

Overkill: The Aileen Wuornos Story (1992)
Monster (2003)

 

Weitere Kapitel zum Fall Aileen Wuornos 

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