(4) Bestandsaufnahme

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Die Polizei des Marion County hatte nun binnen kurzer Zeit zwei Mordfälle zu bearbeiten, die dem gleichen Tatschema entsprachen. Die Beamten nahmen Kontakt zu anderen Behörden im Staate Florida auf. Rasch wurde klar, dass das FDLE zusammen mit einigen anderen Polizeibehörden bereits nach einem Killer fahndete, der mehrfach entlang der Interstate 75 zugeschlagen hatte. Die Fälle wiesen so starke Ähnlichkeiten auf, dass sich alle beteiligten Ermittler am 17. September zu einem Brainstorming im Marion County trafen.

Bei den Opfern handelte es sich ausschließlich um weiße Männer mittleren Alters, die mit einem Revolver Kaliber .22 getötet worden waren. Der oder die Täter hatten ihr Opfer an einen einsamen Ort gelockt und dort getötet. Die Opfer waren ausgeraubt worden, die Fahrzeuge bewegt worden. Alle Ermittler waren sich darin einig, dass eine Frau zumindest tatbeteiligt war. Dafür sprachen aus Sicht der Beamten mehrere Indizien:

  • Der Täter verstellte den Fahrersitz in jedem Opfer-Fahrzeug.
  • Der Täter verwendete eine kleinkalibrige Waffe.
  • Der Täter zielte meist auf die Brust.
  • Die meisten Opfer waren dafür bekannt, niemals ihnen unbekannte männliche Anhalter mitzunehmen.
  • Zeugen beschrieben zwei Frauen, die den entwendeten Wagen von Peter Siems nach dem Mord benutzt hatten.

Von Frauen und Männern

Waffen vom Kaliber .22 waren wegen ihrer kompakten Größe und ihres geringen Gewichts insbesondere bei Frauen beliebt. Sie ließen sich schlicht bequem in einer Handtasche verstauen. Weil sie über eine geringere Feuerkraft verfügten, galten sie darüber hinaus unter Männern nicht als bevorzugte Waffe. Salopp formuliert: Für Männer musste eine Pistole gemeinhin über deutlich mehr Wumms verfügen. Die Mordfälle bewiesen aber, dass auch kleinkalibrige Waffen – ungeachtet ihres Rufs bei Männern – aus naher Distanz äußerst tödlich sein konnten.

Bei fast allen Opfern hatte der Schütze ausschließlich auf den Torso und den Herzbereich gezielt. Männliche Täter feuerten bei Tötungsdelikten mit Schusswaffen aber zumindest beim finalen Schuss nach den Erfahrungen der Kriminalbeamten häufig auf den Kopf des Opfers. Der Torso ist die größte Fläche des menschlichen Körpers und bietet dadurch gerade ungeübten Schützen die beste Trefferchance.

Bei dieser Erkenntnis handelte es sich zum damaligen Zeitpunkt wohlgemerkt um einen kriminalistischen Erfahrungswert und nicht um das Ergebnis wissenschaftlicher Studien. Die Zahl der weiblichen Täter, die ihre Opfer mit einer Schusswaffe töteten, war einfach zu gering, um hier einen aussagekräftigen Vergleich anzustellen.

Doch auch Suizide mit Feuerwaffen, bei denen der Frauenanteil höher war, bestätigten gewisse Geschlechterunterschiede in der Tatausführung – zumindest in den USA. Männer töteten sich häufig mit einem Schuss in den Kopf. Frauen zielten mit der Waffe bevorzugt auf das Herz, so die Erkenntnis der Polizei.

Dieses Vorgehen mag auch einer kulturellen Besonderheit der USA geschuldet sein. Beerdigungen im offenen Sarg sind an der Tagesordnung. Und eine Schussverletzung, die möglicherweise eine komplette Gesichtshälfte völlig zerfetzt zurücklässt, kann selbst der begabteste Bestatter kaum noch „wegschminken“. Eine Binsenweisheit: Frauen machen sich eher Gedanken darüber, wie sie und ihr Verhalten auf andere Menschen wirken, als Männer.

Als außenstehender Betrachter könnte man ja zu der Schlussfolgerung gelangen, dass auch die nackten Männerleichen auf eine weibliche Täterin hindeuteten. Diesem Detail maß die Polizei allerdings relativ wenig Bedeutung zu. Die Ermittler gingen nicht davon aus, dass es zwischen Opfer und Täter zwangsläufig zu einem sexuellen Kontakt gekommen war, auch wenn das bei der Leiche von David Spears gefundene Kondom für diese Überlegung sprach.

Ein Täter-Duo?

Der oder die Täter hatten zudem offenbar viel Mühe verwendet, Spuren zu verwischen und so die Identifizierung der Opfer zu erschweren. Sie nahmen darüber hinaus persönliche Gegenstände und Kleidung an sich, um sie andernorts zu entsorgen.

Interessanterweise fanden sich Sachen aus dem Besitz von Dick Humphrey, dem vorläufig letzten Opfer der Mordserie, entlang eines Highways, und zwar zu beiden Seiten der Straße. Das gab der Theorie neue Nahrung, es könne sich um Täter-Duo handeln, was seit der Zeugenbeobachtungen im Fall Peter Siems in der Diskussion stand.

Generell taten sich die Ermittler noch etwas schwer damit, von einer Serienkillerin als Täterin auszugehen. Das FBI kannte bis dato keinen einzigen ähnlich gelagerten Fall in der amerikanischen Kriminalgeschichte.

Weibliche Serienmörder begingen in der Regel sogenannte „Beziehungstaten“. Sie kannten also ihre Opfer bereits vor der Tat. Dabei spielte es keine Rolle, ob die Opfer die Ehemänner oder Patienten in einer Klinik waren, die von der betreuenden Krankenschwester gemeuchelt wurden. Und weibliche Täter griffen meist zu Gift, statt ihre Opfer über den Haufen zu knallen.

Penible Buchführung

Die Mordserie setzte sich fort. Am 19. November 1990 entdeckte man den nackten Leichnam des 61-jährigen Walter Gino Antonio. Der ermordete Fernfahrer lag am Rande eines Waldwegs im Dixie County, nahe der Stadt Cross City. Antonio, der gelegentlich auch als Sicherheitskraft und Hilfspolizist gearbeitet hatte, war am Tag zuvor verschwunden. Der Täter hatte den Mann mit vier Schüssen aus einer Waffe Kaliber .22 getötet.

Am 24. November fanden Polizisten Antonios braunen Pontiac Grand Prix im Brevard County auf. Das Tatopfer hatte die Angewohnheit, auf jeder Tankquittung den aktuellen Kilometerstand seines Pkws penibel zu notieren. So hatte die Polizei den Nachweis, dass Antonios Wagen in der Woche nach seinem Verschwinden noch rund 1.500 km bewegt worden war. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit von seinem Mörder.

Angesichts der Medienberichte ließ kaum noch jemand in Florida Anhalter in sein Fahrzeug einsteigen. Und dennoch hatte man nun ein weiteres Opfer zu beklagen, bei dem alle Spuren auf das gleiche Tatmuster hindeuteten. Die einzige plausible Erklärung aus Sicht der Sonderkommission lautete wieder einmal, dass der Täter eine Frau war, die weniger Misstrauen bei den Opfern erregt hatte.

Erste Hinweise

Die Sonderkommission wandte sich nach dem Mord an Walter Antonio mit ihren bisherigen Erkenntnissen an die Medien und bat die Öffentlichkeit um Mithilfe. Ende November berichtete die Nachrichtenagentur Reuters in einem Artikel über die Mordserie und die Suche der Polizei nach zwei Frauen. Zeitungen in ganz Florida druckten die Geschichte und zeigten die Phantombilder.

Es dauerte nicht lange, bis die ersten Hinweise eintrafen. Eine Motelbesitzerin berichtete, die Gesuchten hätten in der Vergangenheit in ihrem Motel südlich von Ocala gearbeitet. Ihre Namen seien Tyria Moore und Susan Blahovec. Ein anonymer Anrufer behauptete, die beiden Frauen hätten in Homosassa Springs unter den Namen Ty Moore und Lee Blahovec ein Wohnmobil gekauft. Es habe sich bei ihnen um ein lesbisches Paar gehandelt. Lee Blahovec sei dabei die dominante Partnerin gewesen. Sie habe sich als Straßenprostituierte verdingt und vor allem Fernfahrer angesprochen, so der Anrufer.

Die vielversprechendsten Informationen kamen aus Port Orange in der Nähe von Daytona herein. Die dortige Polizei hatte zwei Frauen namens Lee Blahovec und Tyria Moore bereits in den vergangenen Monaten intensiv beobachtet. So konnten die Beamten ihren Kollegen detailliert berichten, wo sich das Paar zwischen Ende September und Mitte Dezember aufgehalten hatte.

Die Frauen hatten vor allem im „Fairview Motel“ in Harbour Oaks übernachtet, wo Blahovec als Cammie Marsh Greene registriert war. Sie lebten einige Zeit in einer kleinen Wohnung hinter einem Restaurant in der Nähe des „Fairview Motel“, kehrten aber schließlich wieder ins Motel zurück. Anfang Dezember verließen sie das „Fairview“. Die Verdächtige, die abwechselnd unter den Namen Blahovec und Greene aufgetreten war, kehrte nochmals alleine ins „Fairview“ zurück und blieb dort bis zum 10. Dezember.

Das Rätsel der vielen Namen

Eine schnelle Computerüberprüfung der verschiedenen Namen ergab zunächst wenig. Gegen Tyria Moore lag eine Anzeige wegen Einbruchs aus dem Jahre 1983 vor. Die Sache war aber nie zur Anklage gekommen. Blahovec war einmal wegen Hausfriedensbruch verhaftet worden. Greene war bisher aus polizeilicher Sicht ein gänzlich unbeschriebenes Blatt. Allerdings fiel den Beamten auf, dass die Fotos in den Führerscheinen von Blahovec und Greene nicht die gleiche Person zeigten, obwohl die Ausweispapiere zuletzt augenscheinlich von derselben Frau benutzt worden waren.

Der auf Cammie Marsh Greene ausgestellte Führerschein erwies sich in der Folge als wahrer Volltreffer. Polizisten aus dem Volusia County überprüften mehrere Pfandleihen und wurden in Daytona fündig. Dort hatte eine Frau eine Kamera und einen Radarwarner in Zahlung gegeben. Die beiden Gegenstände stammten aus dem Besitz des Mordopfers Richard Mallory.

In einem Leihhaus in Ormand Beach tauchte ein Werkzeug-Set auf, das vermutlich David Spears gehört hatte. In beiden Fällen hatte die Kundin einen Führerschein vorgelegt, der auf Cammie Marsh Greene ausgestellt war. Es kam noch besser: Wie es die gesetzlichen Vorgaben in Florida verlangten, hatte die Kundin die Quittung mit einem Fingerabdruck bestätigt.

Der Sechser im Spuren-Lotto

Der Fingerabdruck war für die Ermittler der sprichwörtliche Sechser im Lotto. In der Computerdatenbank war er zwar noch nicht erfasst, wie eine Abfrage ergab. Doch als die Beamten die Karteikarten im Sheriffbüro des Volusia County per Hand durchsuchten, landeten sie innerhalb einer Stunde einen Treffer.

Die Polizei hatte gegen eine gewisse Lori Grody wegen unerlaubten Waffenbesitzes ermittelt und im Zuge dessen Fingerabdrücke von der Verdächtigen genommen. Ein Vergleich mit den Spuren in der aktuellen Mordserie ergab eine weitere Übereinstimmung. Ein blutiger Handabdruck, den die Polizei am Wagen von Mordopfer Peter Siems gesichert hatte, war identisch mit den Abdrücken der besagten Lori Grody.

Die Ermittler sandten alle bisher zusammengetragenen Erkenntnisse über die gesuchten Personen an das National Crime Information Center. Die Behörde konnte dann endlich das Geheimnis lüften, wer sich hinter den verschiedenen Aliasnamen Lori Grody, Susan/Lee Blahovec und Cammie Marsh Greene in Wirklichkeit verbarg: Aileen Carol Wuornos, genannt Lee.

 

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