Im Februar 1874 begibt sich eine sechsköpfige Gruppe von Goldschürfern, angeführt von Alfred Packer, auf eine lebensgefährliche Mission. Die Männer wollen einen zugeschneiten Gebirgspass in den Rocky Mountains überqueren. Nach zwei Monaten taucht Packer wieder auf – alleine. Was mit seinen Begleitern geschehen ist, weiß er angeblich nicht.
Goldfieber
Im November 1873 machte das Gerücht die Runde, man sei auf gewaltige Goldvorkommen in der Gegend um Breckenridge (Colorado) gestoßen. Die Geschichte besaß insofern Glaubwürdigkeit, weil man in diesem Gebiet bereits seit 1859 erfolgreich nach Gold schürfte. Die betreffende Stelle befand sich westlich der Großstadt Denver, unweit des bekannten Skiorts Aspen im San-Juan-Gebirge, einem Teil der Rocky Mountains.
Umgebung von Breckenridge/Colorado [Von Something Original in der Wikipedia auf Englisch – Übertragen aus en.wikipedia nach Commons durch Matthiasb., Gemeinfrei, Link]
Die Nachricht verbreitete sich bis in den Bingham Canyon nahe Salt Lake City (Utah). Auch dort gab es Erzminen, die Gold, Silber, Blei und vor allem Kupfer förderten. Zwanzig Erzschürfer, die mit ihrer Ausbeute unzufrieden waren, beschlossen spontan, die Chance beim Schopf zu packen und ins rund 750 Kilometer entfernte Breckenridge aufzubrechen.
Die Männer kannten sich untereinander kaum. Sie waren eine reine Zweckgemeinschaft. Ihnen war auch bewusst, dass vor ihnen eine gefährliche Reise lag, angesichts des beginnenden Winters und der schwer zu bewältigenden Gebirgspassage. Dieses Risiko nahmen sie bewusst in Kauf, weil sie hofften, sich so vor allen anderen Konkurrenten die besten Parzellen sichern zu können.
Nutzloser Ballast mit Ortskenntnissen
Laut George Tracy, einem Mitglied der Expedition, traf man nach 40 Kilometern nahe Provo (Utah) auf einen Mann, der sich ihnen als Alfred Packer vorstellte. Als er vom Ziel ihrer Reise hörte, wollte er sich der Gruppe sofort anschließen. Aber der 31-jährige Packer führte weder Geld noch passende Ausrüstung mit sich. Er wäre nur nutzloser Ballast gewesen.
Der Fremde spürte die Vorbehalte gegen seine Person. Er behauptete, er sei selbst Erzschürfer und könne ihnen zudem als Führer dienen. Er kenne sich in dem fraglichen Gebiet im San-Juan-Gebirge hervorragend aus. Das änderte die Lage. Keiner der Expeditionsteilnehmer verfügte über genauere Ortskenntnisse in Colorado. Es machte also Sinn, den Mann mitzunehmen.
Alfred Packer [By Unknown author – Colorado State Archives: The Alferd Packer Collection, Public Domain, Link]
Auf dem Mormonen-Pfad
Doch sie hatten sich schwer getäuscht. Im Verlaufe des Trips gewannen sie zunehmend den Eindruck, Packer habe hinsichtlich seiner Ortskenntnisse geschwindelt. Als Führer war er auf jeden Fall nicht zu gebrauchen. Stattdessen war er faul und unbelehrbar. Er geriet ständig in Streit mit Frank Miller, einem der Schürfer.
Und er war gierig auf ihre Vorräte. Es war ihm nicht einmal peinlich, um Essen förmlich zu betteln. Zum Nahrungserwerb konnte er selbst nichts beitragen, weil er lediglich mit einem Revolver bewaffnet war, aber kein Gewehr mit sich führte.
Die Gruppe kam kaum voran. Sie folgte dem Mormon Trail, der zu dieser Jahreszeit bereits zugeschneit war. Der Wegverlauf war häufig nicht mehr zu erkennen. Die Pferde und Fuhrwerke blieben wieder und wieder stecken. Die Männer navigierten nur noch mit dem Kompass und irrten durch die weiße Winterlandschaft. Die Vorräte gingen rasch zur Neige. Sie mussten auf das Pferdefutter zurückgreifen. Und bald würden sie die Pferde selbst schlachten müssen.
Häuptling Ouray
In dieser schwierigen Situation stießen sie am 21. Januar 1874 auf ein Lager des Häuptlings Ouray nahe Montrose im nordwestlichen Teil des Bundesstaates Colorado. Ouray führte den Stamm der Uncompahgre aus dem Volk der Ute an. Der Hunger obsiegte über die Sorgen der Männer, wie der Stamm auf ihr Erscheinen reagieren würde.
Sie hatten Glück. Teile des Ute-Volkes befanden sich damals tatsächlich in einem gewaltsamen Konflikt mit Siedlern und Armee. Nicht so der Uncompaghre-Stamm. Häuptling Ouray hatte sich zeit seines Lebens für eine friedliche Koexistenz mit den Weißen eingesetzt. Dementsprechend empfing er die hungernden und durchfrorenen Gäste.
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Häuptling Ouray und Frau
Er versorgte die 21 Männer mit Essen und Unterkünften. Als er von ihren Plänen erfuhr, die sie in seine Gegend geführt hatten, riet er ihnen eindringlich davon ab, die Reise sofort fortzusetzen. In dieser Jahreszeit seien die Gebirgspässe viel zu gefährlich. Der Schnee bleibe dort so hoch liegen, dass die Männer darin völlig versinken würden. Er riet ihnen, bis zum Frühjahr zu warten. Bis dahin seien sie selbstverständlich seine Gäste. Der Stamm würde seine Vorräte mit ihnen teilen.
Ungeduldig
Ein Teil ließ sich überzeugen. Doch Anfang Februar wurden elf Erzsucher ungeduldig. Sie wollten vor allen anderen zu den Minen gelangen und sich die besten Schürfplätze sichern, obwohl die Schneefälle noch andauerten. Ouray merkte, dass sich die Männer von ihrem Vorhaben nicht abbringen ließen. Er schilderte ihnen detailliert, wie sie die Berge am besten umgehen konnten, um zur Indianeragentur Los Piños zu gelangen, die sich in der Nähe der Minen befand. Er gab ihnen zudem Proviant mit.
Alfred Packer behauptete jedoch, er kenne einen kürzeren Weg, der direkt durch die Berge führe. Die Schürfer waren sich uneins. George „California“ Noon, Frank „Butcher“ Miller, James Humphrey, Israel Swan und Shannon Wilson Bell schlossen sich Packer an und verließen am 9. Februar 1874 das Lager.
Eine fünfköpfige Gruppe um Oliver D. Loutsenhizer verließ sich lieber auf die Empfehlung von Häuptling Ouray. Die Männer folgten bei schlechtem Wetter und eisigen Temperaturen größtenteils dem Lauf des Gunnison River. Doch obwohl sie am Fluss blieben, gingen ihnen die Vorräte aus, bevor sie ihr Ziel erreichen konnten. Die Männer waren dem Hungertod schon nahe, als Kuhhirten sie nahe der Gemeinde Gunnison fanden. Sie nahmen die Männer mit in ihr Lager, wo sie bis Ende April verblieben.
Verschollen
Vor der Packer-Gruppe lagen rund 120 Kilometer Fußmarsch. Die Goldschürfer hatten keine Schneeschuhe im Gepäck und trugen keine zweckmäßige Kleidung, die sie gegen die eisige Kälte in den Bergen geschützt hätte. Sie führten lediglich zwei Gewehre, eine Pistole, etwas Munition, ein paar Messer, ein Beil und einige wenige Streichhölzer (jedoch keinen Feuerstein) mit sich.
Aber das Schlimmste war: Ihre Lebensmittelvorräte reichten noch nicht einmal für 14 Tage. Und diese Menge würden sie mindestens benötigen, um die Wegstrecke zu bewältigen – vorausgesetzt, sie konnten den Schnee und die Berge tatsächlich bezwingen.
Es vergingen mehr als zwei Monate, ohne dass man vom Verbleib der zweiten Gruppe etwas erfuhr. Dann torkelte am 16. April 1874 ein Mann über einen noch zugefrorenen See, die Füße in zerrissene Lumpen gepackt, auf die Indianeragentur Los Piños zu. Als er dort eintraf, bat er um Essen und Unterkunft.
Schneeblind
Der Fremde trug ein Gewehr bei sich, ein Messer, einen Tornister und eine Kaffeekanne aus Stahl. Die Leute, die sich in der Agentur aufhielten, halfen ihm an den Tisch und stellten ihm etwas zu essen hin. Nach einigen Bissen erbrach er aber alles wieder. Er habe lange gehungert. Seine Verdauung habe sich umgestellt, entschuldigte sich der Mann. Er heiße Alfred Packer.
Man reichte ihm Whiskey. Nach ein paar Schlucken berichtete Packer, was ihm widerfahren war. Er erzählte von Utah und der Reise in die Berge. Von Häuptling Ouray. Und schließlich auch von den Ereignissen der letzten beiden Monate. Er behauptete, schneeblind geworden zu sein.
Seine Gruppe habe ihn daraufhin zurückgelassen, weil sie aufgrund ihrer geringen Vorräte nicht hätten warten können, bis er wieder genesen sei. Sie hätten ihm ein Gewehr dagelassen und seien verschwunden. Eigentlich sei er davon ausgegangen, dass sie Hilfe schicken würden, sobald sie eine Siedlung erreicht hätten.
Doch es sei niemand gekommen. Wo seine Kameraden abgeblieben seien, vermochte er nicht zu sagen. Er habe sich von Wurzeln und Rosenknospen ernährt, um zu überleben. Als es zu tauen begann, habe er sich zur Agentur durchgeschlagen.
Die Zuhörer wollten die Geschichte nicht so recht glauben. Dieser Packer sah nicht wie einer aus, der dem Hungertod ins finstere Antlitz geblickt hatte. Sein Gesicht wirkte eher gedunsen. Auf den Rippen hatte er noch reichlich Fleisch. Die echten Hungerleider, die ihnen in der Vergangenheit begegnet waren, waren nur noch ausgezehrte, klapprige Skelette mit Haut gewesen.
Packer lässt es krachen
Packer behauptete, er habe kein Geld. Deshalb verkaufte er sein Winchester-Gewehr an Major Downer, den Friedensrichter in der Indianeragentur, der ihm dafür 10 Dollar gab. Er verweilte insgesamt zehn Tage in der Agentur, um sich zu erholen. Dann kündigte er an, in seine Heimat Pennsylvania zurückkehren zu wollen. Die notwendigen Vorräte dazu wollte er sich in der benachbarten Stadt Saguache besorgen.
In Saguache nahm er sich ein Zimmer in Dolan’s Saloon. Der Eigentümer Larry Dolan erzählte später, er habe während seines Aufenthalts bei ihm rund 100 Dollar hingeblättert. Einmal habe er sogar angeboten, ihm 300 Dollar zu leihen. Im Gemischtwarenladen von Otto Mears habe er in der Zeit weitere 78 Dollar ausgegeben. Zudem behaupteten Zeugen, sie hätten bei Packer mehrere unterschiedliche Geldbörsen bemerkt. Woher hatte er plötzlich so viel Geld? Hatte er nicht gesagt, er sei vollkommen abgebrannt, als er aus der Wildnis zurückgekehrt war?
Packer ließ sich fast täglich im Saloon vollaufen. Wenn er betrunken war, erzählte er über die zwei Monate in den Bergen. Jedes Mal, so schien es, bot er eine andere Version seiner Geschichte feil. Oft genug widersprach sich seine Darstellung der Ereignisse. Bald begannen die Leute über ihn zu reden. Band er ihnen nur einen Bären auf? War er bloß ein Aufschneider? Was war mit den anderen fünf Männern geschehen? Weshalb blieben sie verschwunden? Verheimlichte er ihnen etwas?
Begegnung mit Preston Nutter
Preston Nutter hatte den Winter im Lager von Häuptling Ouray verbracht. Er kam mit zwei weiteren Mitgliedern der ursprünglichen Expedition nach Saguache und traf Packer in Dolan’s Saloon. Er fragte ihn, wo die fünf anderen Männer aus seiner Gruppe abgeblieben seien.
Dieses Mal erzählte Packer, er habe sich auf der Reise nasse Füße geholt. Bei den Minusgraden sei das lebensgefährlich gewesen. Er habe daher ein Feuer gemacht, um sich aufzuwärmen. Die anderen hätten aber nicht auf ihn warten wollen. Swan habe ihm ein Gewehr dagelassen. Dann seien sie davongezogen.
Kurz darauf habe ein Schneesturm eingesetzt, der ihn in seinem provisorischen Lager festhielt. Die Kameraden seien nie zurückgekehrt. Sie hatten ihn, so seine Mutmaßung, einfach aufgegeben. Seine Überlebenschancen seien ja praktisch gleich null gewesen. Er sei jedoch auf eigene Faust losgezogen, habe sich hauptsächlich von Rosenknospen und ab und an einem Eichhörnchen ernährt, das er schießen konnte.
Unbefriedigend
Nutter empfand die Erklärungen unbefriedigend. Packer sah gut genährt aus. Es wollte ihm nicht in den Kopf, warum fünf Bergleute, die sich in Colorado nicht auskannten, ausgerechnet ihren Führer zurücklassen sollten. Das kam doch unter diesen Bedingungen fast einem Selbstmord gleich.
Preston Nutter fand es auch merkwürdig, dass Israel Swan Packer einfach sein Gewehr überlassen hatte und ihm alles Gute gewünscht haben sollte. Sie hatten damit schließlich nur noch eine weitere Langwaffe zur Jagd. Würde man so etwas machen, wenn das schiere Überleben davon abhing?
Wo war außerdem Packers Revolver abgeblieben, den er noch getragen hatte, als er Ourays Lager verlassen hatte? Woher kam das viele Bargeld? Als er sich ihnen anschloss, war er noch komplett blank gewesen. Nutter bemerkte auch, dass Packer ein Jagdmesser bei sich führte, das einst Frank „Butcher“ Miller gehört hatte. Nutter fragte Packer, wie er an das Messer gekommen sei. Packer erklärte, Miller habe es in einem Baum stecken lassen und es dort vergessen.
Nutter glaubte ihm kein Wort seiner Geschichte und sagte es ihm auf den Kopf zu. Der Streit schaukelte sich hoch. Beleidigungen flogen hin und her. Am Ende äußerte Nutter, dass er dafür sorgen würde, dass man Packer hängen würde für das, was er den anderen angetan habe.
weiter zu —> (2) Der Stein kommt ins Rollen
Weitere Kapitel zum Fall Alfred Packer
- Alfred Packer – der Menschenfresser von Colorado
- (2) Der Stein kommt ins Rollen
- (3) Fünf Leichen in einer Kiefernsenke
- (4) Die Geschworenen fällen ihr Urteil
- (5) Der Fall wird neu aufgerollt
Vielen Dank für die Erstellung dieser Seite und die intensive Recherche in den einzelnen Fällen! Mit Ihrer Arbeit haben Sie eine einzigartige website im deutschsprachigen Raum erstellt, welche ich bereits seit Jahren verfolge und mich über jeden neuen Beitrag mit Spannung freue!
Guten Tag Herr Deis,
ich lese Ihre Geschichten unglaublich gerne, jedoch gibt es seit jetzt mehr als 3 jahren keine neuen mehr 🙁
Ich wollte daher mal fragen ob demnächst noch neue erscheinen werden oder man anderswo (abgesehen von Ihren Büchern) Geschichten von Ihnen lesen kann?
Grüße Tom:)
Hallo, ich hoffe es geht Ihnen gut. Ich muss ehrlich sagen, so komisch das auch klingen mag, da es hier um Mordfälle geht, vermisse ich Ihre Artikel dennoch sehr. Ich schaue immer mal wieder hier vorbei und bin jedesmal traurig. Aber ich hoffe, dass wir noch neues von Ihnen lesen dürfen.
Freundliche Grüße! Lola:)