Abstecher nach New York

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Am 17. August 1946 schlug Harvey Glatman gegen Mitternacht erneut zu. Er hielt das Liebespaar Thomas Staro und Doris Thorn mitten auf dem Bürgersteig an, zückte eine Pistole und zwang sie, unter den Schatten von ein paar Bäumen zu treten. Das Liebespaar beschrieb den Täter später wie folgt: Knapp 1,80 Meter groß. Etwa 70 kg schwer. Große, abstehende Ohren. Vernarbtes Gesicht. Ungekämmtes Haar. Hornbrille.

Glatman entwendete Staros Brieftasche aus dessen Hosentasche, band ihm die Beine zusammen und verlangte von ihm, sich in den Grasstreifen unter den Bäumen zu legen. Dann wandte sich Glatman Doris Thorn zu. Er ließ seine Hände über ihren Körper wandern. Er begrapschte ihre Brüste. Die junge Frau spürte den Pistolenlauf, der sich in ihren Bauch drückte, und wagte nichts zu sagen.

Harvey Glatman war so gefangen vom Anblick der Frau, dass er nicht bemerkte, wie sich Thomas Staro seine Fesseln abstreifte und auf Zehenspitzen von hinten heranschlich. Trotz des überraschenden Angriffs gelang es Glatman, sein Taschenmesser aus der Hose zu ziehen. Er versetzte Staro einen Stich in die Schulter. Die Verletzung war zwar nicht lebensgefährlich, doch der geschockte Staro ließ den Übeltäter daraufhin entkommen. Glatman hetzte zum Bahnhof und verließ mit dem ersten Zug die Stadt. Sein Ziel: Albany im Norden des Staates New York.

Albany

Denver, Yonkers, Albany – im Prinzip war Glatman einerlei, wohin es ihn verschlug. Eine Stadt war wie die andere, solange sich dort genügend junge Frauen aufhielten. Harvey Glatman mietete sich nach seiner Ankunft in Albany eine neue Wohnung in der Commercial Street an. Er verbrachte die ersten Tage damit, wie schon in Yonkers, durch die Straßen seiner neuen Heimat zu streifen und alles und jeden zu beäugen.

Am 22. August 1946, nur vier Tage nach seiner Ankunft in Albany, verübte Glatman seinen nächsten Überfall. Auf der Main Avenue hatte er die Krankenschwester Florence Hayden erblickt. Sie kam von der Arbeit und war alleine unterwegs. Es war inzwischen Mitternacht, die Straßen praktisch menschenleer. Glatman näherte sich Florence Hayden von hinten und griff nach ihrer Handtasche. Die Krankenschwester klammerte sich instinktiv an die Tasche. Glatman nutzte die Finte, um Florence Hayden in einen angrenzenden Hinterhof zu schubsen. Er drückte ihr die Mündung seiner Pistole in die Seite. Er befahl ihr, sich ruhig zu verhalten und auf den Boden zu legen. Dann kramte er das Seil hervor.

Doch Florence Hayden war nicht so leicht einzuschüchtern, wie sich Glatman das vorgestellt hatte. Gegenüber der Polizei beschrieb sie die Szene folgendermaßen: »Ich sah, wie er beide Hände benutzen musste, um mir das Seil umzubinden. Er hatte die Pistole beiseitegelegt. Also rollte ich mich herum und trat ihn so hart, wie ich konnte. Und dann schrie ich. Ich brüllte die ganze Nachbarschaft zusammen. Das jagte dem Typen eine Heidenangst ein. Mann, der Kerl hatte plötzlich noch mehr Fracksausen als ich selbst.«

Doppelschlag

Glatman flüchtete erneut. Aber dieses Mal wechselte er nicht die Stadt. Bereits am nächsten Abend begab er sich wieder auf die Jagd. Er hielt auf der Hollywood Avenue Ausschau nach Opfern. Jede Frau, die er an diesem Abend sah, war in männlicher Begleitung. Seit seiner Begegnung mit Thomas Straro waren Pärchen für Glatman Tabu. Männer wehrten sich. Männer waren stärker als er. Männer konnten ihm gefährlich werden. Er würde die Finger von Pärchen lassen. Sein Plan konnte nur funktionieren, wenn er eine einzelne Frau in seine Gewalt bekam. Er zwang sich zur Geduld.

Dann schlenderten Evelyn Berge und Beverly Goldstein die Hollywood Avenue hinab. Kein Mann in ihrer Begleitung. Aber sie waren zu zweit. Glatman pfiff auf seine »Prinzipien«. Er folgte ihnen. Hinter der nächsten Straßenecke fuchtelte er mit seiner Spielzeugpistole vor den Gesichtern der Frauen herum. Erst forderte er ihre Geldbörsen. Dann wollte er sie fesseln. Glatman kam ins Stottern. Glatman lief rot an. Glatman nahm seine Beine in die Hände und sah zu, dass er davonkam. Zwei Frauen waren einfach zu viel für ihn.

Jagd auf Harvey Glatman

Bisher waren Glatmans Verbrechen in Albany noch glimpflich ausgegangen. Für die Polizei waren solche Raubüberfälle eigentlich Routinekram. Doch als Polizeichef James Kirwin hörte, dass ein Typ binnen eines Tages zweimal Frauen mit einer Pistole bedroht hatte und sie hatte fesseln wollen, läuteten bei ihm alle Alarmglocken. Die Beschreibungen des Täters, die Hayden, Berge und Goldstein geliefert hatten, stimmten überein. Das nächste Mal würde er mit seiner Masche möglicherweise Erfolg haben und die Frau vergewaltigen. Wenn er dann auf den Geschmack gekommen wäre, würde es nicht mehr lange dauern, bis weitere Opfer folgten.

Police Commissioner James Kirwin räumte dem Fall höchste Priorität ein. Alle verfügbaren Polizeikräfte von Albany jagten nun Harvey Glatman. Es dauerte bloß zwei Tage, bis er ihnen ins Netz ging. Zwei Streifenbeamten fiel ein Mann auf, der einer Frau auf der Western Avenue folgte. Der Verdächtige entsprach exakt der Täterbeschreibung: Abstehende Ohren, kleines Gesicht, vorstehende Zähne, Hornbrille. Sie hielten den Mann an und durchsuchten seine Taschen. Sie fanden eine Spielzeugpistole, ein Taschenmesser und ein aufgewickeltes Seil.

Auf der Wache nahmen ihn die Beamten in die Mangel und drohten ihm Schläge an. Es waren die 1940er. Niemand scherte sich darum, wenn die Polizisten aus einem dringend Tatverdächtigen ein Geständnis herausprügelten. Glatman wusste das. Er hatte Angst. Er gestand die Überfälle in Albany und Yonkers. Daraufhin verlangte die Polizei von Yonkers, dass der Gefangene zu ihnen überstellt wurde. Schließlich wog der Tatvorwurf der Körperverletzung mit einer Stichwaffe schwerer als die Verbrechen, die sich Glatman in Albany zuschulden kommen ließ. Möglicherweise konnte man ihm auch einen versuchten Mord anhängen.

Harte Strafe

Doch die Behörden in Albany weigerten sich, Glatman auszuliefern. Yonkers hatte ihn einmal entkommen lassen. Die Polizei in Albany hatte ihn aus dem Verkehr gezogen. Sie würden ihm auch den Prozess machen. Vier Tage nach der Festnahme erfolgte die Anklagerhebung. Inzwischen hatte der zuständige Staatsanwalt in Erfahrung gebracht, dass Glatman in Colorado kein unbeschriebenes Blatt war. Glatman sah sich nun plötzlich einer langjährigen Gefängnisstrafe gegenüber.

Ophelia und Albert Glatman waren schockiert, als sie die Neuigkeiten hörten. Sie hatten ernsthaft geglaubt, dass sich ihr Sohn gebessert habe und ein braves, gesetzestreues Leben in Yonkers führe. Ophelia eilte an die Ostküste und bat um Gnade für ihren Sohn. Ihre Tränen ließen Richter Earl Gallup kalt. Glatman war zum Tatzeitpunkt noch keine 21 Jahre und damit noch nicht volljährig. Gallup musste ihn nach dem Jugendstrafrecht aburteilen. Wenn man diesen Umstand in Betracht zieht, war die Strafe, die der Richter im Oktober verhängte, verhältnismäßig hart. Er verurteilte Glatman zu fünf bis zehn Jahren Haft. Die erste Zeit würde er in der Erziehungsanstalt Elmira absitzen müssen, nach seinem 21. Geburtstag sollte er in den Hochsicherheitsknast Sing Sing verlegt werden.

Sobald Glatman einsaß, wickelte der Musterhäftling wieder alle um den Finger. Er widmete sich jeder Arbeit und Aufgabe, die man ihm übertrug, mit Feuereifer. Zudem ergaben psychologische Tests, dass Glatman einen IQ zwischen 130 und 140 besaß. Nach nur zwei Jahren Haft in Elmira und acht Monaten in Sing Sing entließ man den vermeintlich hochbegabten Glatman vorzeitig auf Bewährung, obwohl ihn das Gericht zu einer Mindeststrafe von fünf Jahren verurteilt hatte.

Bewährungszeit

Die Entlassung erfolgte unter strengen Auflagen. Harvey Glatman musste sich in die Obhut seiner Mutter begeben und zudem regelmäßig nachweisen, dass er einer geregelten Arbeit nachging. Die folgenden viereinhalb Jahre stand er unter Aufsicht des Gerichts und eines ihm zugeteilten Bewährungshelfers, der ihn kontrollierte. Aus den Berichten des Bewährungshelfers ging hervor, dass Glatman Probleme hatte, dauerhaft einen Job zu behalten. Dennoch gelang es ihm immer wieder, eine neue Stelle zu ergattern. Da er ansonsten nicht kriminell in Erscheinung trat, rettete ihn dieser Eifer vor einer Rückkehr in den Knast.

Bis zum Tod seines Vaters lebte Glatman in der elterlichen Wohnung. Danach häuften sich die Streitereien mit seiner Mutter. Als der Bewährungshelfer davon erfuhr, erlaubte er Glatman, eine eigene Wohnung in Denver zu beziehen. Im September 1956 lief die Bewährungsfrist schließlich ab. Glatman war wieder ein freier Mann. Nur wenige Monate später kehrte er Denver den Rücken. Im Januar 1957 ließ er sich in Los Angeles nieder – weit weg von Mutter Ophelia, einem Bewährungshelfer und jedem anderen Menschen, der ihm vorschreiben wollte, was er zu tun und zu lassen hatte.

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