Mordserie in Los Angeles

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Die lange Zeit des Wartens – seit seinem letzten Übergriff waren inzwischen sieben Jahre vergangen – hatte Harvey Glatman genutzt, um seinen Modus Operandi zu überdenken. Glatman erschien seine bisherige Methode, die Frauen auf offener Straße zu attackieren, als zu riskant. Sein jüngstes Hobby, das Fotografieren, brachte ihn auf die Idee, wie er sich viel leichter und unauffälliger potenziellen Opfern nähern konnte.

In Los Angeles legte sich Harvey Glatman ein Pseudonym zu und kontaktierte einschlägige Modelagenturen. Er gab sich als professioneller Fotograf aus, der im Auftrag der seinerzeit höchst erfolgreichen True-Crime-Magazine wirke. Die Auftraggeber würden von ihm verlangen, auch Bondagefotografien anzufertigen. Die Leser der Magazine ständen nun mal auf gefesselte Frauen. Die Agenturinhaber und Models wussten, was gespielt wurde. Viele dieser »professionellen Fotografen« waren in Wahrheit schräge Vögel, die die Nacktfotos für den Eigenbedarf produzierten. Den Frauen war es egal, solange sie ihre Gage bekamen. Die meisten von ihnen träumten vergeblich von einer Karriere in Hollywood und mussten auf irgendeine Art und Weise die teuren Lebenshaltungskosten in Los Angeles bestreiten.

Auch Harvey Glatman kostete sein Hobby einiges an Geld. Er hatte sich eine neue Rolleicord mit einem Zoomobjektiv von Schneider Xenar zugelegt, dazu einiges an Zubehör. Um sich das kostspielige »Hobby« leisten zu können, arbeitete Glatman tagsüber wieder in einer Fernsehreparaturwerkstatt. In den ersten Monaten engagierte er die Frauen tatsächlich nur, um Fotos zu schießen. Es kam zu keinem Missbrauch. Glatman wollte sich mit der Situation vertraut machen, mögliche Risiken erkennen und seine Rolle perfektionieren.

Judith Ann Dull

Das sollte sich im August 1957 ändern. Er hatte über eine Agentur die Telefonnummer der 19-jährigen Judith Dull erhalten. Die junge Frau lebte in Scheidung und stritt mit ihrem Ex-Mann um das Sorgerecht für das gemeinsame Kind. Judith Dull benötigte dringend Geld, um ihren Anwalt zu bezahlen. Sie sagte Glatman am Telefon zu, der zum vereinbarten Zeitpunkt bei dem Model in der Sweetzer Avenue auftauchte.

Glatman schaute sich skeptisch in der Wohnung um, monierte die Lichtverhältnisse und die Dekoration. Er schlug vor, die Aufnahmen in seinem Studio durchzuführen. Dort hätte er Scheinwerfer. Sie fuhren zu seinem »Studio«, dass sich als eine verratzte Junggesellenbude entpuppte. Das Fotoshooting lief zunächst wie ein gewöhnlicher Modelauftrag ab. Glatman platzierte seine Scheinwerfer und schoss ein paar Fotos. Dann wickelte Glatman das unerfahrene Fotomodel mit seiner einstudierten Räuberpistole ein. Sein Auftraggeber verlange von ihm Fesselbilder für das Titelbild eines auflagenstarken Magazins. So ein Bild könne sie über Nacht berühmt machen. Sei sie bereit, mitzumachen? Judith Dull willigte ein, setzte sich auf einen Stuhl und ließ sich von Glatman die Hände und Beine fesseln.

Dieser knipste noch einige weitere Fotos, bevor er plötzlich eine Pistole der Marke Browning zückte. Neben dem Wetter einer der Vorteile, wenn man in Kalifornien lebte. 1957 musste sich der Käufer einer Schusswaffe weder ausweisen noch irgendwelche Formulare ausfüllen. Es gab keine Überprüfung, ob der Kunde vielleicht über ein Vorstrafenregister verfügte. Das Einzige, was die Waffenhändler interessierte, war Bargeld.

Judith Dull musste in diesem Augenblick gedämmert haben, dass sie einen schweren Fehler begangen hatte. Glatman löste mit vorgehaltener Waffe ihre Handfesseln und zwang sie, sich zu entkleiden. Judith Dull war ihrem Peiniger nun hilflos ausgeliefert. Glatman gab Anweisungen. Er hatte die volle Kontrolle. Glatman erniedrigte sein Opfer. Schließlich vergewaltigte er Judith Dull mehrfach in den nächsten Stunden. Während der gesamten Zeit schoss Glatman weitere Fotos und dokumentierte jede Phase des Verbrechens.

Als es vorüber war, zwang er Judith Dull, sich neben ihn auf die Wohnzimmercouch zu setzen. Glatman wollte Ehepaar spielen. Er schaute sich seine Lieblingssendungen im Fernsehen an: Sitcoms. »Nur noch eine Folge«, versprach er Dull. Danach würde er sie nach Hause fahren. Aber das war gelogen. Glatman hatte eine weitere Lehre aus seinen vergangenen Verbrechen gezogen: Er würde nie mehr Zeugen zurücklassen. In den Wochen zuvor hatte er in der Wüste östlich von Los Angeles nach geeigneten Plätzen Ausschau gehalten, an denen er seine Opfer verschwinden lassen konnte, ohne dass sie jemand entdecken würde.

Als die Sendung vorbei war, fuhr er mit Judith Dull zu einem Ort namens Thousand Palms hinaus. Hinter der Ortschaft bog er in die Wüste ab. Dort schoss er weitere Fotos von Judtih Dull, vergewaltigte die junge Mutter ein weiteres Mal und legte ihr schließlich eine Schlinge um den Hals. Das andere Ende des Seils band er um ihre Knöchel. Er zog so lange am Seil, bis er die Frau erdrosselt hatte.

Der Trophäensammler

Glatmans mörderisches Ritual war damit noch nicht beendet. Nun brachte er die Leiche in jede Position, die er sich zuvor in seinen Fantasien ausgemalt hatte. Erneut fertigte Glatman Fotos an. Später sollte ihm diese Besessenheit zum Verhängnis werden, was nicht ohne Ironie war. Einerseits verwendete er viel Mühe darauf, keine Zeugen und Spuren zu hinterlassen. Er kundschaftete geeignete Verstecke aus, die mehrere Fahrtstunden von Los Angeles entfernt lagen. Er tötete skrupellos Menschen, die ihm gefährlich werden konnten.

Andererseits behielt er unzählige Fotos als Erinnerungsstücke in seinem Besitz. Souvenirs, die ihn vor Gericht schwerstens belasten sollten. Andere Serienmörder wie Ted Bundy, Jeffrey Dahmer, Edmund Kemper oder Rodney Alcala verhielten sich später ähnlich. Das Dokumentieren der Taten, der Besitz von Trophäen und die Dinge, die sie ihren Opfern nach dem Mord antaten, waren in der Regel wichtiger als alles, was vor dem Töten geschah. Für Harvey Glatman beinhalteten die Fotografien die vollständige Kontrolle über seine Opfer. Ihre Leichname konnte er nicht behalten. Aber die Erinnerung daran, wie ihre Körper ihm schutzlos ausgeliefert waren, konnte er durch die Bilder ständig neu beleben.

Shirley Bridgeford und Ruth Mercado

Im folgenden Jahr tötete Harvey Glatman zwei weitere Frauen nach dem gleichen Muster. Im März 1958 traf er im »Lonely Hearts Club«, einem Tanzschuppen für Singles, Shirley Bridgeford. Er stellte sich ihr unter dem Falschnamen George Williams vor und lud sie zum Essen ein. Sie besuchten ein Restaurant in Oceanside. Anschließend schlug er Shirley Bridgeford vor, in die Vallecito Mountains zu fahren, um das Stadtpanorama zu genießen. Dort angekommen bedrohte er sie mit seiner Browning Automatik. Er vergewaltigte sie und machte Fotos von ihr. Nachdem er sie getötet hatte, wiederholte er das Ritual, das er mit Judith Dull durchgezogen hatte. Sein nächstes Opfer, die 24-jährige Ruth Mercado, lernte er erneut über einen angeblichen Fotoauftrag kennen.

Die Polizei ahnte weder Zusammenhänge zwischen dem Verschwinden der drei Frauen, noch geriet Glatman in den Fokus der Ermittlungen. Wie vielen anderen Serienmördern wurde Glatman schließlich seine zunehmende Besessenheit und Gier zum Verhängnis. Er wollte andere Menschen kontrollieren und dennoch entglitt ihm mit jedem Verbrechen mehr und mehr die Kontrolle über sich selbst. Die Abstände zwischen den Taten wurden immer kürzer. Der erste Mord geschah im August 1957. Bis zum zweiten Verbrechen verstrichen noch sieben Monate. Bereits drei Monate später tötete er Ruth Mercado. Bis zu seiner vierten Tat verging lediglich ein Monat.

Lorraine Vigil

Im Juli 1958 wandte sich Harvey Glatman an die Modelagentur »Diane Studio«. Eigentlich hatte er geplant, die Inhaberin der Agentur für ein Fotoshooting zu engagieren und anschließend zu töten. Aber die Frau reagierte misstrauisch auf sein Angebot. Sie schlug Glatman stattdessen vor, eines ihrer Models für den Job anzuheuern. Sie empfahl ihm Lorraine Vigil, die noch ganz neu und »unverbraucht« in dem Geschäft sei. Glatman schluckte den Köder. Er dachte, er habe mit dem unerfahrenen Frischling leichtes Spiel. Ein Trugschluss, wie Glatman bemerkte, als er Lorraine Vigil mit seiner Waffe bedrohte. Statt in Todesangst zu erstarren, flüchtete sie zur Tür hinaus. Auf ihrer Flucht begegnete sie zufällig zwei Streifenbeamten, die Harvey Glatman umgehend in Gewahrsam nahmen.

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Wie zuvor war Glatman dem Druck im Verhör, den die Kriminalbeamten auf ihn ausübten, nicht gewachsen. Er gestand drei Morde und erzählte den Polizisten zudem von seiner »Werkzeugkiste«. Dabei handelte es sich um einen Kasten, in dem er unter anderem die Fotografien aufbewahrte, die er von seinen Opfern geschossen hatte. Die Beamten fanden die »Werkzeugkiste« in Glatmans Wohnung. Glatman verriet der Polizei schließlich auch, wo er die Leichen seiner Opfer versteckt hatte. Damit hatten die Ermittler alle Beweise in Händen, die sie benötigten, um Harvey Glatman wegen dreifachen Mordes anzuklagen.

Der Prozess

Während des Prozesses entschuldigte sich Glatmans inzwischen 69-jährige Mutter Ophelia für die Verbrechen ihres Sohnes. Sie konnte sich sein Verhalten nicht erklären und beschrieb ihn als »krank«. Auf dieser angeblichen Unzurechnungsfähigkeit basierte auch die Strategie von Glatmans Strafverteidiger Willard Whittinghill. Angesichts der Beweislage erübrigten sich andere juristische Manöver.

Doch die psychiatrischen Gutachter waren der Ansicht, dass Harvey Glatman keinesfalls unter einer Psychose litt. Er war in vollem Umfang verantwortlich für sein Handeln. Das Gericht sprach Glatman wegen mehrfachen Mordes aus niederen Beweggründen schuldig und verurteilte ihn zum Tode. Das Urteil sollte in der »Lounge« vollstreckt werden, wie man die Gaskammer des Staatsgefängnisses von San Quentin zynischerweise nannte. Am 18. September 1959, um Punkt 10 Uhr morgens, öffnete der Henker das Ventil und setzte damit das tödliche Zyanidgas frei. Harvey Glatman verstarb zwölf Minuten später.

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Opfer

1939-1944: Glatman bricht in Wohnungen von alleinstehenden Frauen ein. Teilweise belästigt er die Bewohnerinnen sexuell. Unklar ist, ob er einige der Frauen vergewaltigte. Keiner der Fälle kam jemals zur Anzeige.
18. Mai 1945: Elma Hamum (versuchte Vergewaltigung, versuchter Raub)
18. Juni 1945: Noreen Laurel (Entführung und sexuelle Belästigung)
August 1946: Thomas Staro und Doris Thorn (Raub und sexuelle Belästigung)
August 1946: Florence Hayden (versuchte Vergewaltigung)
August 1946: Evelyn Berge und Beverly Goldsten (versuchte Vergewaltigung)
August 1957: Judith Ann Dull (19) (Entführung, Vergewaltigung, Mord)
März 1958: Shirley Ann Bridgeford (24) (Entführung, Vergewaltigung, Mord)
Juni 1958: Ruth Rita Mercado (24) (Entführung, Vergewaltigung, Mord)
Juli 1958: Lorraine Vigil (Entführung und versuchter Mord)

Harvey Glatman steht außerdem im Verdacht, 1954 in Boulder (Colorado) die 18-jährige Dorothy Gay Howard getötet zu haben, deren Leiche erst 2009 identifiziert werden konnte.

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