Harvey Glatman, auch als »Lonely Hearts Killer« oder »Glamour Girl Slayer« bekannt, war vermutlich der erste Serienmörder, der seine Verbrechen in allen Einzelheiten mit einer Fotokamera dokumentierte. Nicht nur deshalb wirkt der hochintelligente Glatman wie der Prototyp bekannterer Serienverbrecher wie Ted Bundy, Jeffrey Dahmer und Edmund Kemper.
Ein seltsames Kind
Was machen Eltern, wenn sie ihren vierjährigen Jungen keuchend, mit hochrotem Kopf in seinem Kinderzimmer vorfinden, während um seinen Penis eine Schnur gewickelt ist, deren anderes Ende in einer Schublade klemmt, und der Filius sich weit zurückgelehnt hat, sodass die Schnur voll angespannt ist?
Der als Disziplinfanatiker bekannte Albert Glatman hatte zwei Antworten auf dieses Problem parat: Zunächst mal verabreichte er seinem Sohn Harvey eine tüchtige Tracht Prügel mit dem Gürtel. Dann erklärte er ihm wortreich, dass man sich Akne und andere unschöne Gebrechen einfange, wenn man »da unten an sich herumspiele«.
Harveys Mutter Ophelia Glatman hingegen suchte ärztlichen Rat. Das seltsame Verhalten ihres Sohnes war ihr unerklärlich. Nun spielt die Geschichte um Harvey Glatman nicht in der Gegenwart, in der es in New York vermutlich mehr Psychologen als Bäckereien gibt. Sondern in der Bronx des Jahres 1931. Ophelia Glatman blieb nur der Gang zum Hausarzt.
Der Doktor beruhigte die verstörte Mutter. Das sei eine vorübergehende Phase, typisch für Kinder in diesem Alter. Das würde sich ganz von alleine »herauswachsen«. Sie dürfe bloß nicht den Fehler machen, den Vorfällen allzu viel Beachtung zu schenken. Wenn der Junge merke, dass er dadurch Aufmerksamkeit erregen könne, würde ihn das motivieren, damit fortzufahren. Ophelia und Albert Glatman hielten sich in den kommenden Jahren an den ärztlichen Rat. Er schien zu fruchten.
Harvey Murray Glatman, ihr seltsames und einziges Kind, das am 10. Dezember 1927 zur Welt gekommen war, blühte regelrecht auf, als er auf die Schule kam. Der Junge war hochbegabt. Die Außenwelt nahm ihn als wissbegierig, fleißig, brav, wenn auch als schüchtern und außergewöhnlich still wahr. Von dem, was in der Wohnung der Glatmans zuweilen vor sich ging, ahnte niemand etwas. Und die Eltern schauten tapfer weg, wenn der Junge sich mal wieder eigenartig benahm, so wie es ihnen der Arzt geraten hatte.
Geschockte Eltern
Als Harvey Glatman 1939 auf die Junior High School wechselte, zog die Familie aus dem schmutzigen und lauten New York in das damals noch beschauliche Denver um. Dem Jungen schien die Luftveränderung zu bekommen. Er brachte weiterhin exzellente Noten nach Hause, die Lehrer lobten ihn über den grünen Klee. Eines Abends jedoch kehrten die Eltern vom Einkaufen in die Wohnung zurück und bemerkten am stark geschwollenen Hals ihres Sohnes verdächtige rote Striemen. Sie stellten Harvey zur Rede. Der Junge erzählte kleinlaut, was er dieses Mal angestellt hatte.
Er hatte sich in der Badewanne eine Schlinge um den Hals gelegt und das lose Ende des Seils um ein Wasserrohr gewickelt. Während er mit der einen Hand masturbiert hatte, hatte er mit der anderen an dem Seil gezogen. Mit anderen Worten: Der frühreife 11-jährige hatte mit autoerotischer Asphyxie herumexperimentiert. Die geschockten Eltern vertrauten dieses Mal nicht dem Urteil eines Hausarztes, sondern suchten einen der wenigen Psychiater in Denver auf. Seine Diagnose unterschied sich allerdings kaum von der seines Kollegen in New York. Er schob das Verhalten des Jungen auf die einsetzende Pubertät und die überschüssigen Hormone. Kein Grund zur Sorge.
Backenhörnchen
Tatsächlich bemerkten die Eltern in den nächsten Jahren bei ihrem Sohn keine Verhaltensauffälligkeiten mehr. Das lag aber einzig darin begründet, dass Harvey Glatman seine Aktivitäten besser zu tarnen verstand. Nach der für ihn demütigenden Erfahrung war er peinlichst darauf bedacht, sich nie mehr erwischen zu lassen. In Wahrheit entwickelte er in dieser Phase seinen Erfahrungsschatz immer weiter, wie er später gestand. Das Fesseln und Strangulieren war alsbald ein Fetisch für ihn, der untrennbar mit Glatmans Sexualität verknüpft bleiben sollte.
Der extrem schüchterne Harvey Glatman hatte nie viele Freunde besessen. Aber im Alter von zwölf Jahren begannen ihn seine Mitschüler auf der Junior High School komplett auszugrenzen. Zum einen war er als Streber verschrien. Zum anderen nahmen die Kinder sein Äußeres zum Anlass, um ihn zur Zielscheibe ihres Spotts zu machen. Glatman hatte große abstehende Ohren, einen im Verhältnis dazu zu klein geratenen Kopf und Hasenzähne. Zudem litt er in diesem Alter unter heftiger Akne. Die Mitschüler verhöhnten ihn als »Backenhörnchen«.
Der Serieneinbrecher
Harvey Glatman driftete zunehmend in eine gefährliche Parallelwelt ab, in der er die vermeintlichen Glücksgefühle erlebte, die ihm in der Realität verwehrt blieben. Nach Schulende rannte er nach Hause und spielte auf dem Speicher mit seinen Seilen herum. Doch der Kick ließ nach. Er hielt nach neuen Reizen Ausschau. Er fand sie, als er in fremde Wohnungen einbrach – der Beginn seiner kriminellen Aktivitäten.
Bei den Einbrüchen ging es ihm nicht in erster Linie um die Beute. Er griff sich einfach, was herumlag. Ihn erregte vielmehr die Tatsache, dass er in die Intimsphäre eines anderen Menschen eindrang. Dann fiel ihm bei einem seiner Raubzüge eine Pistole in die Hände. Damit war die nächste Eskalationsstufe erreicht. Die Waffe verlieh ihm plötzlich ungewohnte Macht. Ab diesem Zeitpunkt verübte er keine wahllosen Einbrüche mehr. Nun suchte er sich seine Opfer gezielt aus. Denn er führte anderes im Schilde.
Wenn er eine Frau auf den Straßen von Denver sah, die ihm gefiel, folgte er ihr. Sobald er wusste, wo sie wohnte, spähte er das Haus aus. Lebte die Frau allein? Wann kam sie gewöhnlich nach Hause? Wie konnte er sich Zugang zur Wohnung verschaffen? Dann stieg er durch ein Fenster ein, kletterte die Feuerleiter hoch oder knackte die Hintertür. War Glatman in das Apartment gelangt, wartete er die Rückkehr der Mieterin ab.
Werkzeuge der Macht
Sobald sie die Wohnung betrat, hielt er sie mit gezückter Pistole in Schach. Er zwang die überrumpelte Frau ins Schlafzimmer, wo er sie knebelte und fesselte. Er benutzte dazu ein Seil, das er bei allen seinen Einbrüchen in der Jackentasche mit sich führte. Vorläufig genügte es Glatman, die Frauen zu befummeln, während er sich selbst befriedigte. Zu einer Vergewaltigung oder sexuellen Nötigung kam es in dieser Phase noch nicht. Manchmal verlangte er von den Frauen, dass sie sich neben ihn legten. Dann sollten sie so tun, als ob seine Gegenwart sie erregte.
Harvey Glatman empfand die Überfälle einerseits als Genugtuung für die Demütigungen, denen er sich in der Schule ausgesetzt sah. Gleichaltrigen Mädchen oder gar erwachsenen Frauen sich so zu nähern, wie er sich seinen Opfern genähert hatte, war ihm bisher undenkbar erschienen. In der Schule fing er sofort an zu stottern und lief rot an, sobald ihm ein Mädchen begegnete. Dort war er nur der Trottel, der Versager, über den alle Witze rissen. Die Pistole und das Seil hatten die Verhältnisse in ihr Gegenteil verkehrt. Mittels dieser Werkzeuge war er nun in der Position des Überlegenen. Niemand lachte ihn mehr aus. Jeder tat, was er verlangte.
Das Seil war andererseits schon längere Zeit fester Bestandteil von Glatmans Sexualität gewesen. Aber zuvor hatte er nur sich selbst gefesselt und stranguliert. Mit den Überfällen auf die Frauen hatte Glatman eine Grenze überschritten. Das Seil bot ihm die Möglichkeit, einen anderen Menschen zu kontrollieren – eine Erfahrung, die ihn sexuell stark erregte. Er malte sich in seinen Fantasien detailliert aus, welche Dinge er mit seinen wehrlosen Opfern anstellen konnte. Diese Gewaltfantasien prägten fortan sein Verhältnis zu Frauen. Für Glatman namenlose, austauschbare Objekte, die für ihn nur dann eine Bedeutung besaßen, wenn sie ihm hilflos ausgeliefert waren. An anderweitigen Beziehungen zu Frauen hatte er keinerlei Interesse.
Geübter Lügner
Die ersten Übergriffe auf Frauen verübte Harvey Glatman im Alter von 16 Jahren, als er die High School besuchte. Die Verbrechen blieben unentdeckt. Vermutlich empfanden die betroffenen Frauen zu viel Scham, um zur Polizei zu gehen. Vielleicht redeten sie sich auch ein, dass nicht wirklich etwas passiert sei. Die Behörden von Denver hatten zumindest keinen blassen Schimmer, dass ein jugendlicher Serientäter reihenweise Frauen in ihrer Stadt missbrauchte.
Harvey Glatman war inzwischen ein geübter Lügner. Seine Seilspiele auf dem Dachboden hatte er bereits erfolgreich vor seinen Eltern verbergen können. Als er ihnen nun erklären musste, warum er häufiger verspätet aus der Schule zurückkehrte, hatte er sich vorab die passende Antwort zurechtgelegt. Er habe einige freiwillige Kurse an seiner High School belegt. Die Eltern gaben sich mit der Antwort zufrieden. Endlich fand der Junge Anschluss und nahm mehr an sozialen Aktivitäten teil. Sie sahen keinen Grund, ihm zu misstrauen. Schließlich brachte er ja nach wie vor gute Noten nach Hause.
Der ertappte Einbrecher
Doch am 18. Mai 1945 fielen seine Eltern aus allen Wolken. An diesem Tag brach Harvey Glatman in die Wohnung einer gewissen Elma Hamum in der Vrain Street ein. Glatman war nachlässig. Er bemerkte den Streifenpolizisten nicht, der ihn misstrauisch beäugte und beobachtete, wie Glatman durch ein Fenster einstieg. Der Polizist durchsuchte den ertappten Einbrecher und entdeckte ein Seil und eine Pistole in seiner Tasche.
Auf der Wache musste sich Glatman erstmals einem Verhör unterziehen. Er verlor die Nerven. Er wollte hier nur raus. Er musste ihnen etwas anbieten. Also gestand er seine Einbrüche, ließ jedoch die Übergriffe auf die Frauen unerwähnt. Die Beamten gaben sich damit zufrieden, obwohl das Seil und die Pistole eigentlich darauf hinwiesen, dass der Bursche noch anderes als Diebstahl im Schilde geführt hatte. Glatmans Eltern brachten die Kaution auf, sodass Harvey bis zum Prozess auf freiem Fuß blieb.
Die tickende Zeitbombe
Doch Harvey Glatman hatte seine Lektion nicht gelernt. Nur einen Monat nach seiner Festnahme – das Verfahren wegen Einbruchs war noch nicht eröffnet worden – entführte Glatman eine junge Frau. Er zwang Norene Laurel mit vorgehaltener Pistole auf offener Straße, in seinen Wagen einzusteigen. Dort fesselte er sie und fuhr mit ihr zum Sunshine Canyon außerhalb von Denver. Glatman blieb seinem bisherigen Tatverhalten treu. Er vergewaltigte die Frau zwar nicht, begrapschte sie aber hemmungslos und befriedigte sich währenddessen selbst. Anschließend kehrte er nach Denver zurück und ließ sein Opfer laufen.
Norene Laurel begab sich schnurstracks zur Polizei und erstattete Anzeige. Die Beamten zeigten ihr Fotos aus der Verbrecherkartei, darunter auch einen druckfrischen Porträtabzug eines 17-jährigen Einbrechers namens Harvey Glatman. Norene Laurel zögerte keine Sekunde. Dieser Typ mit dem kleinen Kopf, den Riesenohren und den Hasenzähnen war nicht zu verwechseln. Die Polizei verhaftete Glatman erneut. Dieses Mal gewährte der Richter keine Kaution. Harvey Glatman verblieb bis zum Prozesstermin in Untersuchungshaft. Im November 1945 verurteilte ihn das Gericht zu einer Haftstrafe von einem Jahr, die er im Staatsgefängnis von Colorado zu verbüßen hatte.
Davon saß Glatman acht Monate ab, bevor die Behörden ihn wegen guter Führung entließen. Der Serieneinbrecher mit den sexuellen Gewaltfantasien erwies sich im Gefängnisalltag als Musterknabe. Er ordnete sich unter, verhielt sich stets höflich und korrekt gegenüber dem Wachpersonal und ging jedem Konflikt aus dem Weg. Verhaltensweisen, die das Vollzugsystem zu schätzen wusste. Am 27. Juli 1946 war Harvey Glatman wieder ein freier Mann.
Draußen erwartete ihn seine Mutter, die ihn umgehend zum Psychologen schleppte. Ophelia Glatman war klar, dass sie handeln musste. Der Junge war eine tickende Zeitbombe, auch wenn die Behörden das noch nicht wahrhaben wollten. Der Arzt behauptete, dass Glatman extreme Angst vor Frauen zeige. Dies sei der tiefere Grund für sein kriminelles Verhalten. Der Psychiater schien ein Anhänger der Schocktherapie zu sein. Denn als Behandlungsmethode schlug er vor, den Jungen bewusst in Kontakt mit dem anderen Geschlecht zu bringen. Harvey Glatman sollte zum Beispiel an Tanzkursen teilnehmen, um seine Ängste und Unsicherheiten zu überwinden. Glatman hörte aufmerksam zu. Er besuchte in der Folge tatsächlich Tanzkurse und einschlägige Musiklokale. Aber er hatte gänzlich anderes im Sinn als der Arzt. Er sah darin eine clevere Möglichkeit, ungestört potenzielle Opfer zu studieren und anzusprechen.
Luftveränderung
Ophelia Glatman war zudem der Überzeugung, dass ihrem Sohn eine Luftveränderung guttun würde. In Denver war Harvey Glatman als verschlagener Einbrecher und Triebtäter gebrandmarkt. Sie begleitete ihn in seine Geburtsstadt New York, besorgte ihm eine Bleibe und blieb die ersten Wochen bei ihm. Sie beschaffte ihm außerdem Arbeit in einer Fernsehreparaturwerkstatt. Glatman hatte bereits im Gefängnis erste Erfahrungen in diesem Job gesammelt. Als Ophelia Glatman überzeugt war, dass der Junge nun für sich alleine sorgen könnte, kehrte sie zurück zu ihrem Mann nach Denver.
Harvey Glatman hatte geduldig die Abreise seiner Mutter abgewartet. Jetzt konnte er seine Freiheit endlich in seinem Sinne genießen. Sobald Mami verschwunden war, trieb er sich auf den Straßen von New York herum und begaffte die jungen Frauen. Der Aufenthalt im Knast hatte Glatman ein Stück weit schlauer gemacht, allerdings nicht im Sinne einer Resozialisation. Er hatte gelernt, dass der Gebrauch einer echten Knarre automatisch eine lange Haftstrafe nach sich zog. Doch eine Pistole war fester Bestandteil seines Modus Operandi. Ihm fiel keine andere Möglichkeit ein, seine Opfer zu überwältigen. Also besorgte sich Harvey Glatman eine billige Spielzeugpistole. Hauptsache, sie ähnelte auf den ersten Blick einer echten Waffe. Zusätzlich steckte er ein Taschenmesser und natürlich das Seil aus bestem Hanf ein. Es ging nichts über ein echtes Hanfseil, das niemals verrutschte, fand Glatman. Da konnte dieser neumodische Nylonkram nicht mithalten.
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- Harvey Glatman – Prototyp eines Serienmörders
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