(2) Fünf Morde für das Seelenheil

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Das Klingeln des Telefons unterbrach John Emil List beim Mittagessen. Seine Tochter Patricia war am Apparat. Sie sagte, sie fühle sich nicht wohl. Sie bat ihren Vater, sie von der Schule abzuholen. Dies war nicht in seinem Plan vorgesehen. Er musste improvisieren. Er fuhr zur Westfield High School und sammelte seine Tochter ein.

Zu Hause angekommen eilte er unter einem Vorwand zur Haustür und stürmte ins Gebäude. Sobald Patricia List die Blutspuren im Flur bemerken würde, würde sie Verdacht schöpfen. Das musste er verhindern. List hockte sich hinter die Eingangstür. Als Patricia eintrat, schoss er dem Mädchen aus nächster Nähe in den Hinterkopf.

List zog sie an den Füßen bis in den Tanzsaal auf einen der Schlafsäcke. Er säuberte sich erneut und erledigte danach einige Besorgungen. Er brachte die Schreiben zum Briefkasten und suchte anschließend die Bank auf. Er löste seine Konten auf und hob das verbliebene Geld ab, insgesamt 2.500 Dollar.

Am späten Nachmittag holte er seinen jüngsten Sohn Frederick von einem Aushilfsjob ab, mit dem er sich nach der Schule etwas Taschengeld hinzuverdiente. Wieder eilte List als erster ins Haus. Er griff nach der Waffe, die er zuvor hinter der Küchentür versteckt hatte. Fred kam nicht einmal dazu, seinen Mantel auszuziehen. Der Schuss in den Kopf tötete den Jungen sofort. List brachte ihn in den Tanzsaal und legte Frederick neben seine Schwester auf einen Schlafsack.

Todeskampf

Der Sohn John Jr. trainierte am Nachmittag mit dem Fußball-Team seiner Schule. Doch er kehrte früher vom Training zurück, als sein Vater erwartet hatte. List bemerkte ihn erst, als er das Haus schon durch einen Nebeneingang betrat, der in die Waschküche führte. Er stellte sich in den Flur, mit einer Pistole in jeder Hand. Als John Jr. die Tür öffnete, muss er sofort begriffen haben, dass sein Leben in Gefahr war.

Bevor sein Vater auf ihn schießen konnte, packte John Jr. nach dessen Händen und rang mit ihm um die Waffen. Eine Kugel durchbohrte die Decke. Zwei weitere Schüsse gingen in den Boden. Ein viertes Projektil durchschlug einen Schrank, ein fünftes einen Fensterrahmen im Esszimmer.

Inzwischen war es List Senior aber gelungen, sich aus der Umklammerung zu lösen. Sein Sohn versuchte vergeblich, den nächsten Schüssen auszuweichen. Das sechste Geschoss traf ihn im Rücken, direkt unterhalb des Nackens. Eine weitere Kugel im Kopf.

John Jr. fiel auf den Boden und brach sich den Kiefer. List feuerte erneut auf ihn. Doch der Junge lebte noch. John Jr. kroch schwer verwundet über den Fußboden, um sich in Sicherheit zu bringen. List drehte den Kopf seines Sohnes nach oben und schoss ihm direkt in die Augen. Der Teenager war immer noch nicht tot. List feuerte jetzt Kugel um Kugel auf ihn.

Der Pathologe zählte später zehn Projektile, die den Jungen getroffen hatten. List zerrte die Leiche in den Tanzsaal zu den anderen. Er bedeckte die Gesichter seiner Kinder mit einem Tuch. Schließlich kniete er neben seinen Angehörigen nieder, deren Leben er soeben ausgelöscht hatte, und betete für ihr Seelenheil, wie er in seinem Brief an Pastor Rehwinkel betonte.

List aß zu Abend und schlug anschließend sein Nachtlager auf. Er schlief im Billard-Zimmer, das sich neben dem Tanzsaal mit den Leichen befand. Als der Morgen graute, stand er auf und stellte den Thermostat der Klimaanlage auf 10° Celsius ein. Dann schaltete er in jedem Raum das Licht an. Er suchte im Radio einen Kirchensender heraus und stellte das Gerät direkt vor die Hausprechanlage. Er packte etwas Kleidung in einen Koffer, verließ das Haus und brach in eine ungewisse Zukunft auf.

Gott würde ihn verstehen

Warum ermordete John Emil List fünf Menschen? Er rechtfertigte seine Tat in den Briefen, die er zurückgelassen hatte, vorwiegend mit religiösen Gründen. Er glaubte deshalb, dass Reverend Eugene Rehwinkel seine Entscheidung am ehesten nachvollziehen könne. So behauptete List, seine Frau habe sich bereits vor vielen Jahren von Gott abgewandt. Bei seinem ältesten Kind, der Tochter Patricia, habe er in letzter Zeit leider eine ähnliche Entwicklung feststellen müssen.

Er machte dafür die Zeitumstände und die Gesellschaft als Ganzes verantwortlich. Mit anderen Worten: Die weitreichenden Veränderungen, welche die 1960-er Jahre mit sich brachten, hatten John List nicht gefallen. Oder wie er es selbst ausdrückte: Ein gottgefälliges Leben sei unter diesen Rahmenbedingungen kaum noch möglich.

List stellte die Tat so dar, als habe er seine Familie in Wahrheit vor noch viel größerem Schaden beschützen wollen. Außerdem wies er darauf hin, dass alle einen „schmerzfreien“ Tod gestorben seien. Zumindest im Falle seines Sohnes John Jr. hatte er diese Wahrnehmung exklusiv. Die Spurenlage deutete auf einen längeren Todeskampf hin. Und der Junge starb im vollen Bewusstsein, dass ihn sein eigener Vater töten würde.

John List war nichtsdestotrotz überzeugt, dass Gott ihn verstehen und seine Taten vergeben würde. Jesus Christus würde es schon richten. Gottes Sohn sei ja schließlich für ihn am Kreuz gestorben, um alle menschliche Sünde auf sich zu nehmen.

Im Brief an seinen Chef schimmerte dann ein doch eher weltliches Problem durch, das an List genagt zu haben schien: „Es tut mir leid, dass alles so enden musste. Aber mit einem so geringen Einkommen konnte ich die Familie einfach nicht weiter versorgen. Und ich wollte nicht, dass sie in Armut leben muss.“

Das Geständnis an den Pfarrer schloss mit konkreten Anweisungen für die Opferbestattung. Auch bei diesem Detail ließ List durchblicken, dass er nur das Seelenheil seiner Angehörigen im Sinne hatte. Die Leichen sollten eingeäschert werden. Denn dies würde garantieren, dass ihre Seelen auf dem schnellsten Weg in den Himmel gelangen könnten. Diesem Ritual hätte auch die gesamte Familie vor den Morden ausdrücklich zugestimmt.

Die Spur endet am Flughafen

Leiter der Ermittlung war zunächst James Moran von der örtlichen Polizei. Er war zuversichtlich, dass man den Schuldigen für dieses Massaker binnen kurzer Zeit schnappen würde. Binnen einer Stunde nach Entdeckung der Leichname ging ein Telex mit der Fahndung nach John List an alle Polizeibehörden hinaus.

Den blauen Chevrolet Impala des Flüchtigen fand man schließlich am Kennedy International Airport in New York City. Er war auf einem Langzeitparkplatz abgestellt. Das Parkticket war auf den 10. November datiert. Lists Name war jedoch auf keiner Passagierliste verzeichnet. Seinen Reisepass hatte er allerdings eingesteckt, wie die Durchsuchung des Hauses ergeben hatte. Weitere vielversprechende Hinweise kamen nicht herein. Am New Yorker Flughafen verlor sich also jegliche Spur von John List.

Massiv verschuldet

Das FBI übernahm von da an die Ermittlungen. Die Morde in Westfield galten immerhin als das spektakulärste Verbrechen, das im Bundesstaat New Jersey seit der Entführung des Lindbergh-Babys im Jahre 1932 geschehen war. Die Bundesbehörde untersuchte zunächst Lists persönliche Verhältnisse. Die Ermittlungsergebnisse warfen ein anderes Licht auf die Geschichte, die John List in seinem Geständnis zum Besten gegeben hatte.

Die Aufzeichnungen belegten, dass er hochgradig verschuldet war. Er war mit seinen Hypothekenzahlungen im Rückstand. Er konnte seine Versicherungsbeiträge nicht mehr zahlen. Und er schuldete seiner Mutter einen hohen Betrag. Die Hausbank hatte bereits die Zwangsversteigerung der Villa „Breeze Knoll“ beantragt. Die Agenten konnten auch die Ursache für die massiven Geldprobleme rasch ausmachen. List hatte im aktuellen Jahr gerade einmal 5.000 Dollar eingenommen.

Hier hatte also jemand auf großem Fuß gelebt, der sich diesen Lebensstil schlichtweg nicht leisten konnte. Andere Menschen in seiner Situation hätten sich der Lage gestellt und zum Beispiel von sich aus einen Verkauf des Hauses angestrebt. Die Lebenshaltungskosten zurückgefahren. Mit Gläubigern verhandelt.

Einige wenige Zeitgenossen hätten vielleicht auch drastischere Reaktionen ins Auge gefasst. Wären einfach abgehauen. Oder hätten Selbstmord begangen. Doch List löschte stattdessen seine ganze Familie aus und verschwand dann von der Bildfläche. Das FBI grub tiefer in der Lebensgeschichte des Mörders. Irgendwo mussten doch Gründe zu finden sein, die den Wahnsinn von Westfield erklärten.

Deutsche Vorfahren

John Emil List kam am 17. September 1925 in Bay City (Michigan) zur Welt. Sein Vater John Frederick war bei seiner Geburt bereits 64 Jahre alt, ein Vierteljahrhundert älter als seine Frau Alma. Das Paar war zu diesem Zeitpunkt seit einem Jahr verheiratet.

Sie gehörten beide der Missouri-Synode der deutsch-lutherischen Kirche an. Der Großvater väterlicherseits, John George List, stammte aus dem fränkischen Roßtal, Landkreis Fürth, die Großmutter Maria Barbara Lotter aus Weissenbronn im benachbarten Landkreis Ansbach.

Alma List wiederum war eine Enkeltochter von John Adam List, ebenfalls aus Roßtal eingewandert. Er war ein Bruder vom erwähnten Großvater John George. Das machte John Lists Eltern zu Cousin und Cousine zweiten Grades.

Insgesamt umfasste die Immigrantengruppe aus Deutschland rund 90 Personen, die 1845/46 in die USA kamen, angeführt von einem Pastor Johann Konrad Wilhelm Loehe. Sie ließen sich in der Gemeinde Frankenmuth (Michigan) nieder. Die starke Bindung an die Kirchengemeinde und ihre religiösen Ansichten sollte auch für die Nachfahren der Einwanderergeneration prägend bleiben.

Kindheit ohne Privatsphäre

Die Familie List lebte in einem viktorianischen Haus, hatte das Obergeschoss allerdings vermietet. Der Sohn John hatte deshalb kein eigenes Zimmer, sondern musste im Wohnzimmer schlafen. Er lernte früh, seine persönlichen Gegenstände ordentlich wegzuräumen, damit seine Anwesenheit erst gar nicht auffiel. Raum für Privatsphäre blieb ihm nicht.

Johns Vater betrieb ein Ladengeschäft und galt seinem Umfeld als wunderlicher Kauz. Das Verhältnis zu seinem Sohn war bestenfalls distanziert. Er sprach von ihm immer nur als „dem Jungen“. Die beiden verbrachten kaum Zeit miteinander. Die Erziehung überließ er weitestgehend seiner Frau. Für ihn war nur wichtig, dass sich John in der Schule und Kirche zu benehmen wusste.

Johns Mutter Alma verhielt sich hingegen überfürsorglich. Sie fürchtete ständig, ihr Sohn könne erkranken oder sich verletzen. Sie beobachtete ihn deshalb auf Schritt und Tritt, zog ihm stets etwas zu dicke Kleidung an, damit er sich nicht verkühlte, und verbot ihm, mit anderen Kindern zu spielen. Für John List musste die Welt außerhalb der geschützten Mauern des Elternhauses wie ein bedrohlicher Ort voller Gefahren gewirkt haben.

Das soziale Umfeld des Jungen beschränkte sich daher, abseits von Familie und Schule, im Wesentlichen auf die Kirchengemeinde. Sein Vater war dort im Kirchenvorstand tätig und kümmerte sich um die Verwaltung der Gemeindegelder. Alma List redete ihrem Sohn zu, eines Tages in dessen Fußstapfen zu treten. In vielen Nächten las sie mit ihrem Sohn gemeinsam in der Bibel. An dieser Gepflogenheit hielt John List bis zum Mord an seiner Mutter fest.

Zarter Widerstand

Auf der High School hatte John zwar einige Freunde, aber keine Freundinnen. Nach seinem Abschluss schien er sich vorübergehend gegen sein Elternhaus „aufzulehnen“. Er trat 1943 freiwillig in die Armee ein, obwohl seine Mutter vehement dagegen war. Die USA waren nach dem Angriff auf Pearl Harbor im Dezember 1941 ohnehin als Kriegspartei in den Zweiten Weltkrieg verwickelt. List wäre also über kurz oder lang eingezogen worden. Aber immerhin traf er einmal in seinem Leben eine Entscheidung, die nicht dem Willen seiner Eltern entsprach.

Ein Jahr später starb sein Vater. Während des Zweiten Weltkriegs beschaffte er sich auch die Steyr-Pistole, die er rund 25 Jahre später als Mordwaffe einsetzen sollte. Den Colt erbte er von seinem Vater.

Nach Kriegsende drängte ihn seine Mutter zu einer Ausbildung als Buchhalter. Der Beruf sei krisensicher und angesehen. Ob John List andere Pläne für seine Zukunft hatte, lässt sich nicht sagen. Er studierte jedenfalls Betriebswirtschaft und Rechnungswesen an der Universität von Michigan in Ann Arbor.

Alma List besuchte ihren Sohn einmal im Monat. Die Besuche liefen immer nach dem gleichen Ritual ab. Sie gingen zusammen essen und anschließend zum Gottesdienst. Dann lasen sie in der Bibel und diskutierten über die gelesenen Textstellen.

Verliebt

List schloss sein Studium zunächst mit einem Bachelor ab und bestand auch den anschließenden Master-Studiengang. Als er gerade seine erste Stelle angetreten hatte, berief ihn das Militär erneut zum Wehrdienst ein. Inzwischen tobte der Korea-Krieg. List hatte Glück im Unglück. Er musste nicht nach Übersee an die Front, sondern blieb im Bundesstaat Virginia stationiert. Dort lernte er seine zukünftige Frau Helen Morris Taylor beim Bowling kennen.

Sie war Kriegerwitwe und Mutter einer neunjährigen Tochter. John List war sofort verliebt. Helen Morris Taylor zeigte sich seinen Avancen weniger aus romantischen Gefühlen aufgeschlossen. Die alleinerziehende Mutter mit kleiner Witwenrente sorgte sich schlichtweg um ihre Zukunft. Immerhin schien ihr Verehrer ein freundlicher und verlässlicher Mann zu sein, wenn er auch nach ihrem Geschmack noch zu sehr am Rockzipfel der Mutter hing.

Alma List war strikt gegen die Beziehung. Sie misstraute der neuen Frau im Leben ihres Sohnes. Sie hatte das Kind eines anderen ausgetragen. Sie hatte im Alter von 24 Jahren bereits mehrere Fehlgeburten erlitten. Zudem gehörte sie nicht der deutsch-lutherischen Kirche an. Helen Morris Taylor war keine von ihnen.

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