(3) Vertreibung aus dem Paradies

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Helen Morris Taylor schuf Fakten. Sie behauptete, schwanger zu sein. Für John List stand fest, dass er die Frau jetzt heiraten musste. So traten die beiden am 1. Dezember 1951, nur zwei Monate nach ihrer ersten Begegnung, vor den Traualtar. Bald darauf entpuppte sich die vermeintliche Schwangerschaft als Fehlalarm – oder Finte, um John List zu einer Hochzeit zu bewegen. Wie auch immer: Alma List verzieh ihrem Sohn nie, dass er diese Heirat gegen ihren ausdrücklichen Ratschlag eingegangen war.

Das frisch vermählte Paar verschlug es zunächst nach Kalifornien. Die US Army versetzte John List in die dort ansässige Abteilung für Rechnungswesen. Nach der Entlassung aus dem Militärdienst siedelten die beiden nach Detroit über. Eine renommierte Firma hatte John List einen Job als Buchhalter angeboten. Ihr erstes gemeinsames Kind Patricia kam dort im Januar 1955 zur Welt. Nächste Station war die Kleinstadt Kalamazoo im Südwesten des Bundesstaats Michigan, wo er für eine Papierfirma als Leiter der Revision arbeitete.

Seine Frau, gerade mit dem dritten gemeinsamen Kind schwanger, wirkte deprimiert und entfremdete sich mehr und mehr von ihrem Mann. Als der jüngste Sohn Frederick 1958 schließlich auf der Welt war, pumpte sie sich mit Beruhigungsmitteln voll und griff zur Flasche. Das führte dazu, dass sie sich immer weniger um ihre Kinder kümmerte. Die Erziehungsarbeit blieb nun fast gänzlich am Vater hängen.

Zwar suchte sie in dieser Zeit Hilfe bei einem Psychiater. Das änderte aber nichts an ihrem Zustand. Im Gegenteil. Sie weigerte sich fortan, ihren Mann zum Kirchgang zu begleiten. John List war wie vor den Kopf gestoßen. Ihre älteste Tochter Brenda aus erster Ehe hielt die angespannte Situation im Elternhaus nicht länger aus. Sie heiratete 1960 mit 18 Jahren und verließ den Haushalt.

Ein seltener Wutausbruch

John List fraß den Ärger vorläufig in sich hinein und beklagte sich kaum. In seltenen Momenten trieb ihn seine Frau so weit, dass er vor Wut am ganzen Körper zitterte und das Gesicht fleckig anlief. Aber er schrie nicht. Und erst recht wurde er nicht gewalttätig.

Die extremste Reaktion, zu der er sich jemals hinreißen ließ: Er schmiss den Küchentisch um. Seine Frau beeindruckte der ungewohnte Wutausbruch nicht. Sie sagte ihm, sie würde das Chaos bestimmt nicht aufräumen, und ließ ihn einfach stehen. Er kniete nieder und sammelte das zerbrochene Geschirr ein.

Die schlechten Nachrichten im Leben von John List häuften sich. Sein Arbeitgeber fusionierte mit einem anderen Unternehmen und entließ ihn. Er fand eine neue Stelle als Leiter des Rechnungswesens bei Xerox in Rochester (New York), auf der er sich aber nicht lange halten konnte. Dieses Mal blieb er zunächst arbeitslos. Zum ersten Mal hatte er akute Geldsorgen. Seine Frau entfremdete sich immer weiter von ihm und strafte ihn nur noch mit Missachtung.

John List schien nochmals den Kopf aus der Schlinge ziehen zu können, als er eine relativ gut dotierte Stelle als Buchprüfer bei der First National Bank von Jersey City (New Jersey) angeboten bekam. Die Familie zog 1965 nach Westfield. John bat seine Mutter um eine Anzahlung für die Hypothek, damit die Familie „Breeze Knoll“, das Herrenhaus an der Hillside Avenue, kaufen konnte. Alma List erklärte sich einverstanden, allerdings unter einer Bedingung: Sie bekam eine eigene Wohnung in dem Haus.

Schiffbruch

Doch John List hatte seine beruflichen Fähigkeiten maßlos überschätzt. Bei der First National Bank erlitt er nach nur einem Jahr Schiffbruch. Sein Job verlangte nämlich von ihm, dass er Kundenkontakte pflegte und neue Geschäfte an Land zog. Doch List ging jegliches Verkaufsgeschick ab. Seine Social Skills, wie es neudeutsch heißt, waren gänzlich unterentwickelt.

Jetzt sah er sich mit einer gewaltigen Hypothek auf das Haus und hohen Ausgaben konfrontiert. Er wagte es nicht, seiner Frau das erneute berufliche Scheitern zu beichten. Stattdessen verließ er jeden Morgen das Haus, als würde er zur Arbeit gehen. Er verbrachte dann den den ganzen Tag im Bahnhof und las Zeitung oder ein Buch. Er tat dies sechs volle Monate lang.

Das Geld für die Rechnungen entnahm er vom Konto seiner Mutter, auf das er inzwischen Zugriff hatte. Alma List ahnte nichts davon. Als ihr Sohn 1971 die Familie tötete, hatte er fast die gesamten 200.000 Dollar aufgebraucht, die sich ursprünglich auf dem Sparbuch seiner Mutter befanden.

Seine nächste Festanstellung war deutlich schlechter bezahlt. Sein Arbeitgeber war zudem im Bundesstaat New York ansässig. Entsprechend länger war er jeden Tag unterwegs. Auch diesen Job verlor er nach nur einem Jahr. Um flüssig zu bleiben, nahm er eine zweite Hypothek auf.

Pflegefall

1969 diagnostizierte ein Arzt eine zerebrale Atrophie bei Helen List. Mit anderen Worten: Sie war unheilbar an Syphilis erkrankt und die Krankheit war in fortgeschrittenem Stadium. Ihr Gehirngewebe schrumpfte bereits. Der Alkohol- und Medikamentenmissbrauch hatte den körperlichen Verfall zusätzlich beschleunigt. Für irgendeine Art von Behandlung war es zu spät. Der Arzt riet John List, sie in ein Pflegeheim zu geben. Aber er lehnte dies ab.

Um die Alltagssorgen auszublenden, verlor er sich stattdessen zunehmend in seine Hobbys. Er las Bücher über Waffen und wahre Kriminalfälle. Und er entwickelte eine Leidenschaft für Strategiespiele, die sich zur Besessenheit steigerte. Wenn ihm schon in der realen Welt kein Erfolg vergönnt war, dann wenigstens auf dem Spielbrett. Das FBI stieß außerdem auf ein Postfach, das List eröffnet hatte. Dorthin hatte er sich pornografische Werke schicken lassen. Ganz der Saubermann, der er nach außen hin immer vorgab zu sein, war er also nicht.

Seine letzte Tätigkeit war quasi von Beginn an zum Scheitern verurteilt. Er sollte auf Provisionsbasis neue Anleger für Investmentfonds gewinnen. Bei seinem augenscheinlich nicht vorhandenen Verkaufstalent war es kein Wunder, dass er im letzten Jahr nur 5.000 Dollar eingenommen hatte. Inzwischen schliefen er und seine Frau in getrennten Schlafzimmern. Hauptsache, er konnte ihrer scharfen Zunge ausweichen, die sie trotz Krankheit behalten hatte.

Sodom und Gomorrha

Auch an einer anderen Front entglitt ihm zunehmend die Kontrolle. Die Kinder kamen in die Pubertät und stellten seine strengen Regeln immer häufiger infrage. Die Tochter Patricia ging dabei als ältestes Kind im Haushalt am weitesten. Sie probierte Drogen aus. Sie nahm an okkulten Praktiken teil. Ihr Vater ahnte nichts davon.

So viel brauchte es auch gar nicht, um ihn nachhaltig zu erschüttern. Die 16-Jährige trug die Mode jener Tage und entwickelte ein starkes Interesse an Theater. Beides galt in der begrenzten Vorstellungswelt von John List vermutlich bereits als Teufelswerk.

Dann griff die Polizei seine Tochter im September 1971 auf und lieferte sie bei ihren Eltern zu Hause ab. Was war passiert? Sie war nachts alleine auf den Straßen von Westfield unterwegs gewesen. Unbegleitet und rauchend. Sodom und Gomorrha rückten näher.

So stellte es John List zumindest in seinem Geständnis dar. Seine Frau war schon verloren. Die Tochter befand sich auf Schussfahrt direkt in die Hölle. Richtig ist, dass in dieser Zeit sein Plan, die gesamte Familie auszulöschen, endgültig Gestalt annahm. Und möglicherweise war Patricias Begegnung mit der Polizei tatsächlich so etwas wie ein Startsignal für List.

Abgebrannt

Aber man darf natürlich nicht außer Acht lassen, dass der Mann zu diesem Zeitpunkt bereits völlig abgebrannt war. Schulden bis weit über die Halskrause; Mamas Konto fast bis auf den letzten Cent geplündert; praktisch schon arbeitslos ohne Aussicht auf weiteres Einkommen; die Zwangsversteigerung vor der Tür. Die Fassade, die John List ein Leben lang um sich herum aufgebaut hatte, drohte nicht nur zu bröckeln. Das ganze Haus würde binnen weniger Monaten vom Erdboden verschluckt werden.

Am 5. November 1971, vier Tage vor den Morden, versammelte er seine Kinder nach dem Abendessen in der Küche. Er erklärte ihnen, dass sie sich auf ihren Tod vorbereiten müssten. Er fragte, ob sie lieber begraben oder verbrannt würden. Man weiß nicht, ob alle Kinder die Botschaft hinter den Worten verstanden hatten. Mit Sicherheit musste aber Patricia spätestens ab diesem Moment geahnt haben, dass der Vater ihre Ermordung ernsthaft in Erwägung zog. Die unheilvolle Warnung gegenüber Ed Illiano, dem Leiter ihrer Theatergruppe, bewies es.

Alma Lists Leichnam hatte man in ihren Heimatort Frankenmuth in Michigan gebracht. Die vier übrigen Familienmitglieder bekamen ein Armenbegräbnis in billigen Särgen aus Metall auf dem Fairview Cemetery in Westfield. Das letzte Geld hatte schließlich der flüchtige Mörder mitgenommen. Mutter und Schwester von Helen List hatten auf einer Erdbestattung bestanden, obwohl List in den Briefen die Einäscherung der Leichen gefordert hatte. Auf der Internetseite findagrave.com finden sich Fotos der Grabstätten und Familienmitglieder.

Hämorrhoiden und Kurzsichtigkeit

Da der Reisepass fehlte, musste das FBI die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass sich John List ins Ausland abgesetzt hatte. Dennoch überwachte die Polizei mit rund einem Dutzend Beamten die Beerdigung der List-Familie. Doch List ließ sich am Tag der Bestattung nicht blicken.

Das FBI veröffentlichte ein Fahndungsplakat mit einem aktuellen Foto und mehreren Hinweisen zum Gesuchten. Neben den üblichen Angaben zu Größe, Gewicht, Alter, Haar- und Augenfarben etc. veröffentlichte man auch die Hinweise, dass List an Hämorrhoiden und extremer Kurzsichtigkeit litt. Das FBI verschickte die Fahndungsplakate deshalb auch gezielt an Apotheken und Augenärzte im ganzen Land.

Doch es kamen keine brauchbaren Hinweise auf Lists Verbleib herein. Neun Monate nach dem Verbrechen, am 30. August 1972, brannte die Villa „Breeze Knoll“ nieder. Ursache war eindeutig Brandstiftung, wie die Ermittlung der zuständigen Polizei ergab. Wer das Feuer legte, blieb bis heute ein ungelöstes Rätsel.

Flucht nach Denver

John List hatte in den ersten beiden Wochen nach seiner Flucht fest mit seiner Verhaftung gerechnet, wie er später zugab. Die Festnahme blieb aus. Er war nach wie vor ein freier Mann. Er begann, sich ein neues Leben aufzubauen. Nachdem er das Auto am Flughafen abgestellt hatte, war er zunächst mit dem Zug von New York nach Michigan geflüchtet. Dann fuhr er weiter bis nach Denver (Colorado), wo er sich einen Wohnwagen mietete.

Er änderte seinen Namen in Robert P. Clark um. Ob er dabei an einen ehemaligen Kommilitonen von der Uni gedacht hatte, ist unklar. Der echte Robert Clark konnte sich später jedenfalls nicht erinnern, jemals mit John List in Kontakt gestanden zu haben.

List fälschte eine Sozialversicherungsnummer, die in den USA eine vergleichbare Bedeutung hat wie hierzulande ein Personalausweis, wenn es darum geht, sich gegenüber Behörden und Unternehmen zu legitimieren. Damit fand er zunächst einen Job als Koch in einem Holiday Inn Hotel.

Nach einiger Zeit zog er in die kleine Gemeinde The Pinery um, an die Peripherie von Denver. Dort ergatterte er einen Job als Buchhalter und stellvertretender Geschäftsführer. 1975 wagte er sich noch mehr aus der Deckung heraus. Er schloss sich wieder einer Kirchengemeinde an, der St. Paul’s Lutheran Church in Denver. Im folgenden Jahr beantragte er einen Führerschein und legte sich ein Auto zu. Er machte sich nützlich, indem er ältere Mitglieder der Kirchengemeinde zu Arztterminen oder ähnlichen Verabredungen chauffierte. Schließlich berief man ihn in den Kirchenrat der Gemeinde.

Neue Liebe

Dort verliebte er sich in eine geschiedene Frau namens Delores Miller, die er während einer Kirchenveranstaltung kennenlernte. Delores fragte ihn nach seiner Vergangenheit. Er erzählte ihr, seine Frau sei an Krebs verstorben. 1985 heirateten die beiden.

Seine Abneigung gegenüber gesellschaftlichen Veränderungen hatte offensichtlich abgenommen. Statt in Anzug und Krawatte sah man ihn nun immer häufiger in Jeans und mit offenem Hemd. Er stimmte sogar zu, bei einem Square-Dance-Kurs teilzunehmen. Zehn Jahre zuvor wäre man dafür gemäß dem List’schen Regelwerk vermutlich noch im Fegefeuer verschmort.

Aber so einfach ließ sich die Vergangenheit nicht abstreifen. Denn kurz danach verlor List seine Arbeit. Er konnte nicht mehr mit den Entwicklungen in seiner Branche und den Herausforderungen an seinen Job Schritt halten. Zudem bat ihn die Kirchengemeinde, seinen Posten als Lehrer der Sonntagsschule aufzugeben. Es hatte Beschwerden von Eltern gegeben. Er ging nach dem Geschmack der Eltern zu streng mit den Kindern um und verlangte von ihnen zu viel. Die Geschichte schien sich zu wiederholen.

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