(4) Ende der Flucht

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John List machte sich als Finanzberater selbstständig. Der Versuch scheiterte. Rund 15 Jahre nach seiner Flucht geriet er erneut in einen Strudel, der seinerzeit ein fatales Ende genommen hatte. Inzwischen war er 55 Jahre alt. Der Arbeitsmarkt war angespannt. Er galt als altes Eisen, kaum noch vermittelbar. Zeitgleich erlebte das Viertel, in dem er mit seiner Frau wohnte, einen unaufhaltsamen Niedergang.

Der Wert der Immobilie sank. Der Hund des Paares lag eines Tages tot vor dem Eingangstor, erschlagen von einem Passanten. Sie mussten verschwinden, hatten aber kein Geld, um irgendwo anders von vorne anzufangen. Delores begann, ihre Partnerwahl zu bereuen. Sie sprach davon, ihn zu verlassen.

In dieser Phase verbrachte er viel Zeit zu Hause und lernte seine Nachbarin Wanda Flannery näher kennen. Sie hörte ihm zu. Wanda Flannery las gerne Boulevardzeitungen. Im Februar 1987 blätterte sie in der „World Weekly News“. Dort entdeckte sie einen Artikel über einen Mann namens John List, der vor vielen Jahren seine gesamte Familie ermordet hatte und entkommen war.

Ein erster Verdacht

Das abgedruckte Foto wies eine bemerkenswerte Ähnlichkeit zu ihrem Nachbarn Robert Clark auf. Und dann die Merkmale. Die Verhaltensweisen. Der flüchtige Täter war Buchhalter gewesen. Hatte Schwierigkeiten, seinen Job nicht zu verlieren. Und er hatte eine Narbe hinter dem rechten Ohr. Bob Clark hatte ebenfalls so eine Narbe. War es wirklich denkbar, dass der Mann von gegenüber zu solch einem brutalen Verbrechen fähig war?

Wanda Flannery zeigte Delores Clark den Zeitungsartikel, als ihr Mann nicht zu Hause war. Die Nachbarin reagierte verunsichert. Flannery forderte sie auf, ihren Mann mit den Vorwürfen zu konfrontieren. Sie versprach es zwar, aber verwarf schließlich den Gedanken und schmiss die Zeitung weg. Dann fand ihr Mann eine neue Anstellung in Richmond (Virginia). Die Clarks zogen fort. Wanda Flannery blieb zurück, ohne dass sie die Polizei von ihrem Verdacht unterrichtete.

Die Hellseherin

Mittlerweile war der Fall auf dem Schreibtisch von Detective Jeffrey Paul Hummel gelandet, der für die Staatsanwaltschaft in Union County (New Jersey) arbeitete. Er las die Akte, in der Hoffnung nach so vielen Jahren neue Ansatzpunkte für eine Ermittlung zu finden. Eine Spur, die seine Kollegen übersehen hatten. Vergeblich.

In seiner Ratlosigkeit wandte er sich an eine Hellseherin. Er hatte von einer Elizabeth Lerner gehört, die in anderen aussichtslosen Fällen nützliche Hinweise geben konnte. Die Frau lebte ebenfalls in New Jersey. Also kontaktierte er sie.

Er verbrachte rund zwei Stunden bei ihr, in denen er ihr Tatortfotos zeigte. Sie berührte während der Séance deren Rückseite. Sie konnte ihm zwar keinen konkreten Hinweis auf den aktuellen Aufenthaltsort von List geben. Aber überraschenderweise bewahrheiteten sich später einige ihrer Voraussagungen.

  • So behauptete Elizabeth Lerner unter anderem, dass John List noch lebe und nicht mit einem Flugzeug geflüchtet sei. Er sei stattdessen mit Zug oder Bus geflohen. Das stimmte.
  • Außerdem gebe es eine neue Frau in seinem Leben sowie eine Verbindung nach Baltimore (Maryland). Ebenfalls richtig. Er hatte Delores in Baltimore geheiratet.
  • List sei nach Südwesten geflüchtet. Der Bundesstaat Colorado, der erste Zufluchtsort von List, lag im Südwesten der USA.
  • Die Bundesstaaten Florida und Virginia würden ebenfalls eine Rolle in dem Fall spielen. Zumindest bei Virginia lag sie richtig. List war dorthin mittlerweile umgezogen.

In einem Punkt irrte sich Elizabeth Lerner allerdings. Sie prophezeite, dass John List an seinem Geburtstag, dem 17. September, die Gräber seiner getöteten Familie aufsuchen würde. Detective Jeffrey Hummel legte sich zwei Nächte und einen Tag vergeblich auf die Lauer.

America’s Most Wanted

Hummel musste den Fall anschließend wieder abgeben, da man ihn in eine Sonderkommission versetzte. 1988 sah er ein neues Fernseh-Format im US-Fernsehen: „America’s Most Wanted“. Die Sendung war an den deutschen Fernsehklassiker Aktenzeichen XY angelehnt und zeigte bei jeder Ausstrahlung mehrere ungelöste Kriminalfälle als Kurzfilme, in denen Schauspieler echte Verbrechen nachspielten.

Er beriet sich mit seinem Kollegen Captain Frank Marranca von der Mordkommision in Elizabeth (New Jersey). Marranca war der List-Fall inzwischen zugeteilt worden. Machte es Sinn, sich bei „America’s Most Wanted“ mit dem List-Fall zu bewerben? Einen Versuch war es wert. Man hatte nichts mehr zu verlieren.

Die Produzenten der Sendung reagierten zunächst skeptisch. Der Fall lag mittlerweile 18 Jahre zurück. Das Hauptproblem aus ihrer Sicht: Es gab kein aktuelles Foto von John List. Ihren bisherigen Erfahrungen zufolge hatte aber die Bild-Fahndung die größte Aussicht auf Erfolg. Bei allen anderen Fällen kamen kaum brauchbare Hinweise herein.

Da kam den Produzenten eine Idee. Sie kontaktierten Frank Bender, einen Bildhauer und Fotografen aus Philadelphia. Bender hatte sich darauf spezialisiert, Gesichter von unbekannten Toten zu rekonstruieren, die durch Verwesung bereits bis zur Unkenntlichkeit entstellt waren. Er willigte ein, eine Büste auf Grundlage der alten Fotografien herzustellen, die den natürlichen Alterungsprozess berücksichtigte.

Der entscheidende Hinweis

Die Sendung lief am 21. Mai 1989 im US-Fernsehen. 22 Millionen Zuschauer schalteten ein. Der Beitrag über List hatte eine Länge von zehn Minuten. Der Gesuchte selbst zählte normalerweise zu den Stammzuschauern. Doch ausgerechnet an diesem Abend war er mit seiner Frau zu einer Veranstaltung eingeladen.

Dafür verfolgte seine ehemalige Nachbarin Wanda Flannery „America’s Most Wanted“. Die gezeigte Büste wies für sie zwar keine Ähnlichkeit zu Robert Clark auf. Doch ihr bereits bestehender Verdacht wurde dadurch nicht zerstreut. Sie bat ihren Schwiegersohn, bei der eingeblendeten Telefonnummer anzurufen. Er sollte ihnen den Namen und die neue Adresse des Ehepaars Clark in Virginia mitteilen.

Es war einer von 300 Anrufen, die an diesem Abend den Sender erreichten. Das FBI-Büro in Richmond (Virginia) überprüfte den letztlich entscheidenden Hinweis von Wanda Flannery am 1. Juni 1989, knapp zwei Wochen nach der Ausstrahlung von „America’s Most Wanted“. Zwei FBI-Agenten suchten die angegebene Adresse auf. Dort öffnete ihnen Delores Clark die Tür.

Sie zeigten ihr das Fahndungsplakat mit einem alten Foto von John List. Die Beamten fragten die Frau, ob sie den Mann darauf erkenne. Delores Clark wurde blass. Sie gab zu, dass die abgebildete Person gewisse Ähnlichkeiten mit ihrem Mann habe. Doch es könne sich unmöglich um ihren Gatten handeln.

Die Agenten baten die Frau daraufhin um ein aktuelles Foto von Robert Clark. Sie suchte ein Hochzeitsfoto heraus. Für die Ermittler war klar: Das war ihr Mann. Sie wollten von Delores Clark wissen, woher ihr Mann stamme, was er beruflich mache, ob er Narben habe. Ein Puzzlestück fügte sich zum nächsten.

Die Flucht hat ein Ende

Die Agenten forderten Verstärkung an und trafen sich mit den Kollegen an Clarks Arbeitsplatz. John List alias Robert Clark stand gerade am Kopierer, als sie das Gebäude betraten. Sie wiesen sich als FBI-Beamte aus und verlangten von ihm seinerseits ein Ausweisdokument. Dann fragten sie ihn direkt, ob er John Emil List sei. Er verneinte. Er zeigte aber auch keinerlei Verunsicherung oder Verwirrung angesichts der Frage. Die Beamten nahmen ihn fest.

Sobald die Polizei Fingerabdrücke genommen hatte, war klar, dass sie den richtigen Mann verhaftet hatten: Robert Clark war John List, der 18 Jahre zuvor seine Familie ermordet hatte. List war inzwischen 63 Jahre alt. Trotz der Beweislage plädierte List bei der Anhörung vor Gericht auf nicht schuldig, stimmte aber überraschenderweise sofort einer Auslieferung in den Bundesstaat New Jersey zu.

Die Beamten mussten annehmen, dass er sich gegen eine Überstellung sträubte. In Virginia wusste kaum jemand etwas über den Fall. Seine Chancen waren angesichts der erdrückenden Beweislage ohnehin gering. Aber der Gerichtsort New Jersey, wo sich viele Leute noch an die Geschichte erinnern konnte, verschlechterte seine Perspektive nochmals.

Ab dem 16. Februar 1990, noch vor dem Prozessauftakt, stritt der Beschuldigte nicht mehr ab, dass es sich bei ihm in der Tat um John List höchstpersönlich handelte. Das späte Geständnis machte es für Elijah Miller, seinen Verteidiger, nicht leichter, eine überzeugende Strategie zu finden. Miller versuchte es mit der Wahrheit.

Er konnte nicht anders

Er nahm Lists schriftliches Geständnis aus dem Jahr 1971, um mithilfe eines Sachverständigen nachzuweisen, dass sein Klient unter einer obsessiv-zwanghaften Persönlichkeitsstörung litt. Angesichts der aussichtslosen Situation, in der er sich zum Zeitpunkt der Morde befunden habe, habe ihm seine kranke Psyche gar keine andere Wahl gelassen.

List sei der festen Überzeugung gewesen, dass ein Leben in einer gottlosen Welt keinen Sinn ergebe. Noch schlimmer aus Sicht von List: Seine Familie habe nur dann ein Anrecht auf das versprochene Paradies im Jenseits erlangen können, wenn er sie durch Mord vor einem Leben in Sünde bewahren konnte.

Die einzige denkbare Alternative wäre ein Leben in Abhängigkeit von der Wohlfahrt gewesen. Das war für seinen Mandanten keine akzeptable Option. Denn sie hätte seine Familie der Lächerlichkeit preisgegeben. Und sie hätte allem widersprochen, was ihn sein Vater gelehrt hatte. Als Haushaltsvorstand musste er seine Angehörigen ernähren können.

Schuldig

Selbst im frommen Amerika verfing diese Argumentation nicht. Staatsanwältin Eleanor Clark rief einen Psychiater in den Zeugenstand, der Lists Zustand lediglich als depressive Phase beschrieb, vergleichbar mit einer Midlife Crisis. Es habe sich bei ihm angesichts des umfassenden Kontrollverlusts ein gewaltiger Frust angestaut. Er habe den eigenen Ansprüchen irgendwann nicht mehr gerecht werden können. Sobald die Wut in einen konkreten Plan mündete und die erste Person sterben musste – seine Frau –, habe es kein Zurück mehr gegeben.

Für die Urteilsfindung spielte das Tatmotiv letztlich eine untergeordnete Rolle. Die Fingerabdrücke, Ballistikberichte, Autopsien und Lists eigene Briefe bewiesen eindeutig, dass er fünf Menschen umgebracht hatte. Der Prozess dauerte daher lediglich sieben Tage. Das Gericht sprach ihn am 12. April 1990 in allen Anklagepunkten für schuldig. Er erhielt fünf Mal lebenslänglich. In den USA bedeutete dieses Urteil, dass er keine Chance hatte, jemals wieder in Freiheit zu gelangen.

John List reichte Berufung gegen das Urteil ein. Einerseits argumentierte er, dass sein Geständnis Teil einer vertraulichen Kommunikation mit Pastor Eugene Rehwinkel gewesen sei. Ähnlich wie eine Beichte hätte es niemals als Beweismaterial vor Gericht zugelassen werden dürfen.

Andererseits berief er sich auf eine posttraumatische Störung infolge seines Wehrdienstes, die ihn zur Bluttat getrieben habe. Wohlgemerkt: John List hatte weder im Zweiten Weltkrieg noch im Korea-Krieg Fronterfahrungen gemacht. Er hielt sich immer in einem Büro auf, weit weg von jeglichem Kriegsgeschehen. Der Stress in der Buchhaltung dürfte sich überschaubaren Grenzen gehalten haben. Sein Widerspruch wurde abgeschmettert.

„So war das halt“

Im März 2002 erhielt die Fernsehjournalistin Connie Chung die Erlaubnis, John List für die Sendung „Downtown“ vom Sender ABC zu interviewen. Es war das erste Mal, dass sich List  öffentlich zu den Morden äußerte, wenn man von den Briefen 1971 absah. Er beschrieb in dem Interview auch, wie er genau vorgegangen war.

So schilderte er zum Beispiel, wie er sich am Morgen seiner Frau von hinten genähert hatte und sie in den Kopf schoss, während sie gerade ein Toastbrot aß. Anschließend habe er seine Mutter aufgesucht und sie geküsst, bevor er sie getötet und sich ein Mittagessen zubereitet habe. „Ich hatte Hunger“, sagte er lapidar. „So war das halt.“

Die Reporterin befragte List unter anderem zu dem Detail, warum er mehrfach auf seine Frau, Mutter und seinen Sohn John Jr. geschossen hatte. Ein Sachverständiger hatte in diesem Verhalten einen Overkill vermutet, was für ein hohes Maß an aufgestauter Wut sprach. List wiegelte ab. Er begründete die Schüsse anderweitig. In dem Moment habe sich bei ihm einfach bloß die Anspannung gelöst, „nachdem ich meinen Auftrag erfüllt hatte.“

„Welchen Auftrag?“, fragte Chung. „Nun, den Auftrag, den ich mir selbst erteilt hatte.“

Keine Reue

Chung wollte schließlich wissen, warum List nicht Selbstmord begangen hatte, um einen Schlussstrich zu ziehen, wenn Tod die einzige denkbare Lösung für ihn war, um aus der ausweglosen Situation herauszufinden.

Er berief sich erneut auf die Religion. Selbstmord sei eine Sünde, die ihn von der Aufnahme in den Himmel ausgeschlossen hätte. Im Falle eines Mords habe er allerdings beste Chancen, dass Gott ihm seine Taten vergebe. Tatsächlich ging er im Interview davon aus, dass ihm seine Familie die Tat längst verziehen und den Grund für sein Vorgehen verstanden habe. Er vermutete, dass sie sich wieder bestens verstehen würden, wenn sie alle eines Tages im Himmel wiedervereint seien.

Das Interview machte klar: John List empfand weder Reue für seine Tat, noch schmerzte ihn der Verlust seiner Angehörigen. Dass seine minderjährigen Kinder noch das ganze Leben vor sich hatten und er ihnen die Möglichkeit auf eine Zukunft genommen hatte? Darüber machte er sich gar keine Gedanken. Stattdessen argumentierte er, er habe seinem Vater versprochen, sich um die Mutter zu kümmern und sie nicht leiden zu lassen. Er habe seinen Teil der Abmachung eingehalten.

Tod und D.B. Cooper

John List starb am 21. März 2008 infolge einer Lungenentzündung. Zuvor war er noch in Verdacht geraten, jener geheimnisvolle D.B. Cooper zu sein, der 1972 ein Flugzeug entführt hatte und mit der Lösegeldsumme unerkannt entkommen war. Das FBI war diesem Verdacht nachgegangen.

List stritt ab, mit diesem Verbrechen irgendetwas zu tun zu haben. Der beste Beweis für seine Unschuld in diesem Fall war sein Leben nach den Morden 1971. Er war augenscheinlich nicht in der Lage, ein Leben zu führen, was seinen eigenen Ansprüchen genügt hätte. Die erpresste Summe hätte ihm das – zumindest zeitweise – zweifelsohne ermöglicht. Stattdessen musste er sich mit dem begnügen, wozu ihn seine Anlagen befähigten.

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