Die Besucher kamen direkt aus dem Büro und hatten noch ihre Aktentaschen dabei. Sie suchten ein wenig Zerstreuung, bevor der Alltag sie wieder einholte. Die anderen hatten den Nachmittag genutzt, um Weihnachtsgeschenke zu besorgen, und betraten den Saal mit ihren Einkaufstaschen und Päckchen. Die Frühvorstellung im »Paramount-Kino« in Brooklyn war an diesem 2. Dezember 1956 gut besucht. Um 19.55 Uhr zerstörte die Explosion einer Bombe jegliche vorweihnachtliche Stimmung. Es brach Panik aus. Sechs Menschen wurden bei diesem Bombenanschlag von George Metesky verletzt. Die Tatsache, dass niemand getötet worden war, sollte Metesky später in einem seiner Schreiben als »göttliche Fügung« bezeichnen. Die betroffenen Opfer sahen eher den Teufel am Werk.
Mit diesem verheerenden Attentat hatte es der »Mad Bomber« endgültig auf alle Titelseiten der New Yorker Gazetten geschafft. Die Kolumnisten forderten, dass die Behörden dem wahnsinnigen Täter endlich Einhalt geboten. Polizeichef Stephen P. Kennedy nannte die Taten »ein Verbrechen, das wir nicht tolerieren werden«. Er versprach jedem New Yorker Polizisten eine sofortige Beförderung, sofern er den Täter schnappen würde. Kennedy versetzte alle Polizeikräfte der Stadt in erhöhte Alarmbereitschaft. Die größte Sonderkommission in der Geschichte New Yorks jagte von nun an den »Mad Bomber«. Zudem setzten die New Yorker Behörden eine Belohnung von 26.000 US-Dollar für Hinweise aus, die zur Ergreifung des Täters führten. Inflationsbereinigt würde das heute der stolzen Summe von rund 225.000 Dollar entsprechen.
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Die Polizei birgt im Dezember 1956 eine von Meteskys Bomben aus einem Kino
»Mad Bomber« terrorisiert New York
George Metesky ließ sich durch den gewachsenen Fahndungsdruck nicht aus der Ruhe bringen. An Heiligabend 1956 betrat ein Büroangestellter eine Telefonzelle in der New York Public Library. Ihm rutschte das Münzgeld aus der Hand. Als er sich bückte, um es aufzuheben, fiel sein Blick auf eine dunkelbraune Socke. Diese baumelte an der der Unterseite des Telefongehäuses und war mit einem Magneten befestigt. In der Socke steckte ein Eisenrohr mit einer Gewindekappe an beiden Enden.
Inzwischen waren die New Yorker durch die intensive Berichterstattung über den Fall vorgewarnt. Der Mann trug die Socke zunächst einmal vorsichtig zu einem Fenster und schmiss sie in den angrenzenden Bryant Park. Danach verständigte er die Polizei und das Entschärfungskommando. Anschließend erschienen 60 Beamte vor Ort. In einem Brief, den George Metesky vier Wochen später an das »New York Journal« einsandte, behauptete er, die Bombe in der Zentralbibliothek sowie eine weitere, die man in derselben Woche in einem Kino am Times Square entdeckt hatte, wären bereits monatelang an Ort und Stelle gewesen.
Nur zwei Tage später forderte die Serie ihr erstes Todesopfer. In einer Telefonzelle an der Grand Central Station fand man einen Zettel, auf dem vor einer Bombe im Empire State Building gewarnt wurde. Die Polizei evakuierte daraufhin alle 102 Stockwerke des New Yorker Wahrzeichens und durchkämmte den Bahnhof nach verdächtigen Personen. Ein 63-jähriger Eisenbahnarbeiter geriet dabei in die Fänge der Polizei. Als man den Mann auf der Wache ins Verhör nahm, starb er unvermittelt an einem Herzinfarkt.
Man würde niemanden für diesen tragischen Tod belangen können. Aber jeder New Yorker wusste, wer für das Unglück verantwortlich war: der »Mad Bomber« oder »F.P.«, wie er sich in seinen bizarren Briefen selber nannte. Seit 16 Jahren zehrte er nun schon mit seiner beispiellosen Anschlagsserie an den Nerven der New Yorker Bevölkerung. Die Bewohner der Stadt hatten inzwischen den Glauben verloren, dass ihre Polizei diesen Kerl jemals schnappen würde. Wenn es ihr 16 Jahre lang nicht gelungen war, warum dann jetzt? Man würde mit dem »Mad Bomber« leben müssen wie mit einer Naturgewalt. Der Attentäter hatte es geschafft, sich eine der mächtigsten und reichsten Städte der Welt zur Geisel zu machen.
Ratlose Ermittler
Die Ermittler waren ähnlich deprimiert und ratlos wie die übrigen New Yorker, auch wenn sie dies niemals öffentlich eingestanden hätten. Die Briefe von George Metesky ließen die zum damaligen Zeitpunkt wahrscheinlich modernste Polizeibehörde der Welt zusätzlich verdammt alt aussehen. Er verspottete seine Häscher in aller Öffentlichkeit. Er machte sich über ihre Inkompetenz lustig. Aber sie hatten keinen blassen Schimmer, wie sich dagegen zur Wehr setzen konnten.
Experten für Fingerabdrücke, Schriftanalysen und Bomben hatten sich an dem Fall abgearbeitet, ohne irgendwelche relevanten Ergebnisse zutage zu fördern. Der »Mad Bomber« hatte in all den Jahren keine verwertbaren Spuren zurückgelassen, die zu ihm geführt hätten. Die traditionellen Methoden der polizeilichen Ermittlungsarbeit hatten auf der ganzen Linie versagt. Die Beamten konnten nur noch auf Kommissar Zufall hoffen. Jemand würde den »Mad Bomber« vielleicht auf frischer Tat überraschen. Ein Nachbar würde den »Mad Bomber« möglicherweise beobachten, wie er eine Bombe präparierte.
Die Polizei von New York begab sich damit auf ein reichlich schmales Brett. Denn die Sprengsätze, die der »Mad Bomber« fertigte, wurden immer gefährlicher. Die zunehmende Verzweiflung aufseiten der Ermittler führte dazu, dass die Behörde für jeden Vorschlag offen war, der auf die Spur eines Tatverdächtigen führte. Hellseher, Astrologen, Paraypsychologen, Wünschelrutengänger – immer nur hereinspaziert beim NYPD. Den Beamten war inzwischen alles egal.
Der Hirnklempner
So reagierte Inspector Howard Finney vom zuständigen Kriminallabor auch keinesfalls abwehrend, als ihm ein befreundeter Kollege den Vorschlag machte, einen Psychiater zu konsultieren. Normalerweise war es vollständig ausgeschlossen, dass solche Leute eine beratende Funktion während einer laufenden Ermittlung übernahmen. Das waren »Hirnklempner«, wie die damals gängige Sichtweise lautete. Die durften begutachten, ob ein Angeklagter zurechnungsfähig war, ja. Und sie durften einem Irren, den die Polizei auf den Straßen auflas, ein paar Spritzen reinjagen, damit der endlich Ruhe gab. Aber kein Polizist würde sich von einem Psychiater in seine Arbeit reinquatschen lassen. Normalerweise. Doch der »Mad Bomber« hatte längst alle normalen Regeln außer Kraft gesetzt.
So hörte sich Inspector Finney den Vorschlag von Captain Cronin, der die Fahndungsabteilung für vermisste Personen leitete, aufmerksam an. Cronins Hauptargument: Psychiater kannten sich mit Verrückten aus. Und der »Mad Bomber« wurde nun mal gemeinhin – auch von den Ermittlern – für verrückt gehalten. Ein erfahrener Psychiater konnte doch auf Grundlage der Fakten vielleicht eine genauere Analyse treffen, was mit dem Kerl nicht stimmte. Er konnte klarere Kriterien liefern, nach welchem Typus Mensch die Beamten Ausschau halten sollten. Vielleicht hatten die Ermittler Glück und sie wurden mit dieser präzisen Beschreibung in den vorhandenen Akten von psychisch Kranken fündig.
Dr. James Brussel
Kurzum: Der Psychiater sollte ein Profil des Täters fertigen. Cronin nannte Finney auch sogleich einen konkreten Arzt, an den er sich wenden könne: Dr. James Brussel. Dem Mann seien polizeiliche Ermittlungen nicht gänzlich unbekannt. Er sei nicht nur ein anerkannter Psychiater mit eigener Praxis, sondern habe auch ein Studium in Forensik abgeschlossen. Brussel habe zudem bei einigen weniger spektakulären Fällen erste Gehversuche in diese Richtung unternommen. Er sei den beteiligten Beamten – darunter auch Cronin selbst – als äußerst scharfsinnig und kompetent in Erinnerung geblieben.
Finney teilte zwar die grundsätzliche Skepsis seiner Kollegen hinsichtlich der Einmischung von Zivilisten in laufende Ermittlungen. Aber als Leiter des Kriminallabors nahm er sich selbst als Mann der Wissenschaft wahr, der sich modernen Entwicklungen nicht verschloss. Zudem genoss er innerhalb des Polizeiapparats hohe Anerkennung und galt als durchsetzungsfähiger Vorgesetzter. Wenn er den anderen Ermittlern verklickerte, dass nun ein Hirnklempner Teil des Teams war, würden die das schlucken.
Aber das würde nicht geschehen, bevor ihn Dr. Brussels nicht in einem persönlichen Gespräch überzeugt hatte. Wenn sich Brussels dabei als Schwätzer entpuppen sollte, konnte er die Sache gleich abblasen. Inspector Howard Finney schnappte sich seine Aktentasche und machte sich auf den Weg zu einem Gespräch, das einerseits den Wendepunkt im »Mad Bomber«-Fall brachte, andererseits weltweit die Arbeitsweise aller Mordkommissionen für immer verändern sollte.
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