(6) Der mysteriöse Besucher

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Am Dienstag, dem 15. Oktober, fand ein Gedenkgottesdienst für Arlis Perry statt. Ausgerechnet in der Memorial Church, am Schauplatz des Verbrechens. Vielen der Trauergäste, insbesondere Ehemann Bruce Perry, fiel es sichtlich schwierig, mit dieser Situation umzugehen. Der Pfarrer tat sein Bestes, dem sinnlosen Tod der jungen Frau eine würdige Bedeutung abzuringen.

Der Trauergemeinde gehörten auch Arlis Perrys Kollegen aus der Anwaltskanzlei an. Einer der Angestellten traute seinen Augen nicht, als er im Anschluss an die Messe der Familie Perry sein Beileid bekundete. Der Mann, der sich ihm als Bruce Perry vorstellte, war definitiv nicht der Bruce Perry, den er erwartet hatte.

Eine Verwechslung

Der Angestellte wandte sich an die Polizei. Am Freitag, dem 10. Oktober, also einen Tag vor dem Mord, habe er beobachtet, wie ein Mann an den Empfang der Rechtsanwaltskanzlei zu Arlis Perry herangetreten sei. Der Fremde habe sich eine Viertelstunde lang sehr intensiv mit Arlis Perry unterhalten. Er habe das Gefühl gehabt, die beiden seien sehr vertraut miteinander gewesen. Arlis Perry habe ihm aber selbst gesagt, dass sie bisher in Kalifornien noch keine Bekanntschaften geschlossen habe. Deshalb, so der Zeuge, habe er den Besucher spontan für den Ehemann Bruce Perry gehalten. Ein Irrtum, wie sich während des Gottesdienstes herausstellte.

Dem Angestellten war darüber hinaus aufgefallen, dass Arlis Perry dieses Gespräch wohl nicht ganz recht war. So jedenfalls sein spontanes Empfinden. Er habe dies darauf zurückgeführt, dass es ihr vielleicht unangenehm gewesen sei, dass ihr Mann ihr während der Dienstzeit einen Besuch abgestattet habe. Schließlich sei Arlis Perry sichtlich bemüht gewesen, im Büro einen möglichst seriösen und professionellen Eindruck zu hinterlassen. Privatbesuche während der Arbeitszeit hätten dieses Bild getrübt, insbesondere da sie den Job ja gerade erst angetreten habe.

Seltsames Verhalten von Arlis Perry

Nun musste der Zeuge herausfinden, dass es sich gar nicht um ihren Ehemann gehandelt hatte. Aber wer war dann der mysteriöse Besucher? Der Angestellte beschrieb ihn wie folgt: Anfang zwanzig, gepflegte Erscheinung, sympathische Ausstrahlung, circa 1,80 Meter groß, gelocktes blondes Haar, das er aber kurz geschnitten trug. Bestimmt keine Hippietype. Er wirkte eher durchtrainiert wie ein Sportler: breite Schultern, kräftige Statur. Außerdem trug er Jeans und ein kariertes Hemd. Um einen Anwalt habe es sich also definitiv nicht gehandelt.

Der Angestellte wunderte sich noch, dass ihm Arlis Perry den Mann nicht vorgestellt hatte. Auch nachdem er verschwunden gewesen sei, habe sie ihn mit keinem Wort erwähnt. Ähnlich bedeckt habe sie sich gegenüber den übrigen Kollegen verhalten, die den Besuch mitbekommen hätten. Sie setzte einfach ihre Arbeit fort, als sei nichts geschehen.

Bruce Perry perplex

Die Polizei befragte daraufhin Bruce Perry, ob er nicht vielleicht doch seiner Frau an diesem Freitag einen Besuch abgestattet habe. Die Beamten hatten bei Zeugenaussagen schon die tollsten Sachen erlebt. Aber wie sich herausstellte, war Bruce Perry nicht im Büro der Anwaltskanzlei gewesen. Seine Frau habe ihm sogar ausdrücklich untersagt, dort zu erscheinen. Er habe sie noch nicht einmal anrufen sollen, solange sie sich noch in der Probephase befände. Arlis Perry befürchtete, wie es der Zeuge vermutet hatte, dass dies ihren Arbeitgeber verärgern könne.

So hatte Bruce Perry keinerlei Erklärung für die Beobachtung des Angestellten. Er reagierte im Gegenteil perplex, als die Ermittler ihm eröffneten, jemand habe sich mit seiner Frau eine Viertelstunde lang vertraulich unterhalten. Arlis Perry habe auch an dem besagten Freitag ihm gegenüber nichts von einem Besuch oder einem längeren Gespräch im Büro erwähnt.

Andererseits gab Bruce Perry zu bedenken, dass er es seiner Frau durchaus zutrauen würde, dass sie ihm etwas verschweige, wenn sie der Meinung gewesen sei, dass es ihn hätte aufregen können. Das sei so ihre Art gewesen. Familienmitglieder und Bekannte des Paars bestätigten später diesen Wesenszug von Arlis Perry. Schließlich fragten die Beamten ihren Ehemann noch, ob die Personenbeschreibung des unbekannten Besuchers ihn an jemanden erinnere, den er kenne. Bruce Perry hatte keinen blassen Schimmer, wer dieser Mann sein könnte.

Ermittler lässt die Spur kalt

Seltsamerweise verzichtete die Polizei auf weitere Nachforschungen hinsichtlich dieser Spur. So fertigte sie zum Beispiel kein Phantombild nach den Angaben von Arlis Perrys Kollegen. Ein überflüssiges Unterfangen aus Sicht der Beamten. Der mysteriöse Fremde war bestimmt ein Kurier oder sonst jemand gewesen, der beruflich in der Kanzlei zu tun hatte. Bloß seltsam, dass ihn keiner der Mitarbeiter, die viel länger als Arlis Perry für die Kanzlei tätig waren, wiedererkannt hatte.

Die Ermittler hielten stattdessen an ihrer Theorie vom spontan agierenden Sexualstraftäter fest. Dieser Ermittlungsansatz hatte aber seine Schwächen. Denn schließlich war die Mordwaffe ein Eispickel. Nicht unbedingt die Art von Gegenstand, den man gewöhnlich mit sich herumschleppte. Angenommen, man ging davon aus, dass Arlis Perry ein Zufallsopfer war. Dann bedeutete dies im Umkehrschluss, dass der Täter mindestens in dieser Nacht auf der Suche nach einer passenden Gelegenheit länger umhergestreift war.

Oder er hatte gezielt die Memorial Church zum Schauplatz des Verbrechens ausgewählt. Den Ort vermutlich bereits zuvor ausgekundschaftet. Samstagnacht wartete er dann den richtigen Zeitpunkt ab. Kurz vor der Schließung. Eine Frau alleine in der Kirche. Arlis Perry. Wirklich spontan war dieses Vorgehen jedoch nicht.

Jede Menge ungeklärter Fragen

Wenn man hingegen voraussetzte, dass der mysteriöse Fremde in der Kanzlei in dem Mordfall eine wichtige Rolle spielte, ergaben sich daraus eine Reihe interessanter Fragen. Wie hatte er zum Beispiel erfahren, wo er Arlis Perry finden konnte? Sie arbeitete erst seit dem 1. Oktober für die Firma. Außer ihrem Mann und einigen engen Familienmitgliedern wusste niemand von ihrem neuen Job. Andere Leute in Kalifornien kannte sie nun mal nicht. Sofern er sich also nicht zuvor mit Bruce oder Arlis Perry persönlich unterhalten hatte, konnte er die Adresse der Anwaltskanzlei allenfalls aus dem direkten Umfeld ihrer Familie in Bismarck, North Dakota, bekommen haben.

Als einzige weitere Möglichkeit blieb nur noch, dass der Mann Arlis Perry in den Tagen vor dem Freitag beobachtet hatte und ihr zur Arbeitsstelle gefolgt war. Wozu sollte er das getan haben? Welches Interesse hatte er an der unauffälligen jungen Frau? Und wieso unterhielt er sich so lange mit ihr? Welche wichtige Botschaft hatte er ihr mitzuteilen, dass ihm Arlis Perry eine Viertelstunde zuhörte, obwohl es ihr nachweislich unangenehm war, wenn sie am Arbeitsplatz Privatbesuche empfing? Zudem tauchte der Mann ausgerechnet 36 Stunden vor dem Mord auf. Sollte er also in irgendeiner Weise in das Verbrechen verwickelt gewesen sein, hätte sich damit das Szenario vom spontanen Sexualmord erledigt.

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