(9) Wer ermordete Abby und Andrew Borden?

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Die Literatur zum Borden-Fall ist höchst umfangreich. Neben der Hauptverdächtigen Lizzie Borden wurden mehrere andere Personen der Verbrechen oder zumindest einer Mittäterschaft beschuldigt: ihre Schwester Emma Borden, der Onkel John Morse, das Dienstmädchen Bridget Sullivan, der Hausarzt Dr. Bowen, ein Irrer mit Strohhut, ein chinesischer Schüler, den Lizzie Borden auf der Sonntagsschule unterrichtete, und ein angeblich illegitimer Halbbruder namens William. Es folgt eine Übersicht der wichtigsten Theorien bis heute.

Theorie 1: Lizzie Borden war die Mörderin

Diesem Credo folgen insbesondere die meisten Bücher, die vor 1940 erschienen sind. Ich kann es auch anders formulieren: Heutzutage wäre jedem Verleger das Porto zu schade, wenn man als Autor nicht einen völlig anderen Täter präsentiert. Einem Buch, das sich von der Schuld Lizzie Bordens überzeugt zeigt, würden keine Vermarktungschancen eingeräumt, egal, wie überzeugend es auch geschrieben sein mag. Motto: Das ist doch schon alles bekannt. Wer soll dafür noch Geld ausgeben?

Edwin H. Porter: The Fall River Tragedy. 1893.

Porters Buch ist die erste ausführliche Arbeit über den Mordfall. Porter war als Polizeireporter für den „Fall River Daily Globe“ tätig. Er begleitete in dieser Funktion sowohl die Polizeiermittlungen als auch die Verhandlung. Er legte sich in seinem Buch zwar nicht ausdrücklich fest, dass Lizzie Borden die Taten begangen hatte. Aber nach seiner Analyse der Spuren ist es naheliegend, dass ein Außenstehender die Tat nicht verübt haben kann.

Von dem Buch wurden damals nur einige Hundert Exemplare gedruckt. Am Tag der Veröffentlichung kaufte Lizzie Borden auf Rat ihres Anwalts alle erhältlichen Exemplare auf. Ein Belegexemplar für die Library of Congress verschwand später spurlos. Doch einige Bücher gingen Borden durch die Lappen, sodass der Titel zu einem späteren Zeitpunkt neu aufgelegt werden konnte.

In einem anderen Buch zum Fall Borden äußerte sich Arnold R. Brown zu der Person des Autors. Er beschrieb Porter als außergewöhnlich begabten Journalisten, von dem man nach 1893 aber nie jemals wieder etwas gehört habe. Brown implizierte, jemand habe Porter Geld geboten, damit er von der Bildfläche verschwinde und sein Buch niemals neu verlege.

The Fall River Tragedy: A History of the Borden Murders

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Edmund Pearson: The Trial Book of Lizzie Borden. 1937.

Pearson war ein bekannter Autor von True-Crime-Literatur, bevor er 1937 verstarb. Sein Buch stützt sich vor allem auf die Protokolle des Gerichtsverfahrens. Er gelangte zu dem Schluss, dass Lizzie Borden die Täterin war.

Auf Pearson gehen allerdings auch Behauptungen zurück, für die es keinen wirklichen Beleg gibt. So schildert er in seinem Buch beispielsweise, wie sich Lizzie Borden nach den Morden nackt ausgezogen habe, um sich im Keller das Blut abzuwaschen.

Pearson konzentrierte sich in seiner Darstellung auf Indizien, die Lizzie Borden als mögliche Täterin belasteten. Widersprüchliche Details oder entlastendes Material lässt der Autor außen vor. Seine Argumentation hinsichtlich Motiv und Gelegenheit ist dennoch überzeugend.

Trial of Lizzie Borden

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Robert Sullivan: Goodbye Lizzie Borden. 1974.

Wie Pearson gelangte Sullivan zu dem Schluss, dass Lizzie Borden die Täterin war. Er wollte im Wesentlichen erklären, wieso es dennoch zu einem Freispruch kommen konnte. Als Jurist am Obersten Gerichtshof von Massachusetts konnte er die offiziellen Gerichtsakten natürlich mit einem anderen Hintergrundwissen analysieren als andere Autoren.

Sullivan geht ausführlich auf die fragwürdige Instruktion der Geschworenen durch den Richter ein. Seiner Meinung nach ist der Freispruch eine Folge der Entscheidung, Lizzie Bordens widersprüchliche Aussage vor dem Haftrichter nicht in den Prozess aufzunehmen. Außerdem hätte die Zeugenaussage, dass Borden versucht hatte, Blausäure zu kaufen, dem Prozess ebenfalls eine Wende geben können.

Goodbye Lizzie Borden

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Victoria Lincoln: A Private Disgrace: Lizzie Borden by Daylight. 1967.

Victoria Lincoln war eine Schriftstellerin, die in Fall River nur wenige Querstraßen entfernt von der Villa „Maplecroft“ aufgewachsen war. Als Kind hatte sie sich ein paar Mal mit Lizzie Borden unterhalten, als diese Vögel und Eichhörnchen in ihrem Garten fütterte. Lincolns Familie war mit den Bordens bekannt.

Die Autorin vertritt die These, dass Lizzie eigentlich nur ihre Stiefmutter habe töten wollen. Doch dann sei sie zu dem Schluss gelangt, dass ihr Vater gegen sie aussagen würde, weil er von ihrer Wut wusste. Deshalb habe auch er sterben müssen.

Lincoln behauptet, Lizzie Borden habe unter Epilepsie gelitten. Der konkrete Auslöser der Verbrechen sei daher ein epileptischer Anfall während ihrer Regel gewesen. Außerdem habe sich Lizzie Borden zwischen 10.30 und 11.00 Uhr tatsächlich in der Scheune aufgehalten. In dem Schuppen habe es fließendes Wasser gegeben, mit dem sie ihr Kleid von dem ersten Mord gereinigt habe.

In der Scheune befand sich laut Lincoln zudem ein Schraubstock. Mit dessen Hilfe hätte sie den Griff vom Beil abbrechen können. Den Stiel habe sie im Küchenherd verbrannt. Den frisch gereinigten und noch nassen Klingenkopf habe sie dann dort in der Asche gewendet, um darüber hinwegzutäuschen, dass die Klinge noch kürzlich benutzt wurde.

Zudem hat Lincoln eine Idee, warum die Polizei niemals die Tatkleidung hatte finden können. Wenn Lizzie Borden an jenem heißen Augusttag ein dünnes Seidenkleid getragen habe, so Lincoln, hätte sie es problemlos unter einem zweiten Seidenkleid auf einem Bügel verstecken können. Den Polizisten, die allesamt Männer waren, wäre dies mit Sicherheit nicht aufgefallen.

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Theorie 2: Ein anderer Täter

Edward D. Radin: Lizzie Borden, The Untold Story. 1961.

Radins Buch ist zunächst eine Abrechnung mit Edmund Pearson, den er für voreingenommen hält. Er habe nur jene Fakten berücksichtigt, die seine vorgefasste Meinung zu bestätigen schienen. Radin versucht deshalb, die Schlussfolgerungen von Pearson Punkt für Punkt zu widerlegen.

Er ist überzeugt, dass die eigentliche Täterin das Hausmädchen Bridget Sullivan war. Seiner Meinung nach war der Auslöser für die Morde, dass Bridget am heißesten Tag des Jahres zum Putzen der Fenster verdammt wurde. Bridget flippte aus und tötete Abby Borden. Andrew Borden musste sterben, weil er wusste, dass Bridget am Morgen eine ernsthafte Auseinandersetzung mit ihrem Dienstmädchen hatte.

Dummerweise gibt es jedoch im Originalmaterial keinerlei Hinweis darauf, dass Bridget irgendwann einen Groll gegen ihre Arbeitgeber hegte. Aber es wird noch noch bunter. Radin unterstellt, dass Lizzie und Bridget ein heimliches Liebespaar gewesen seien. Bridget sei obendrein erbost gewesen, wie die Eltern mit Lizzie umgesprungen seien. Wirkliche Belege gibt es für diese Theorie nicht.

 

Evan Hunter: Lizzie.

Hinter dem Pseudonym Evan Hunter verbirgt sich der bekannte Krimi-Autor Ed McBain. Auch er unterstellt Lizzie Borden und Bridget Sullivan eine lesbische Beziehung.

Er spekuliert, dass Abby Borden das Liebespaar an diesem Morgen in flagranti erwischt und mit Abscheu reagiert habe. Daraufhin habe Lizzie die Stiefmutter im Affekt erschlagen. Als der Vater zurückgekehrt sei, habe sie ihm die Tat gestanden. Doch als dieser ebenso wenig Verständnis zeigte wie die Stiefmutter, habe sie sich ein Beil geschnappt und ihn in rasender Wut ebenfalls gemeuchelt.

Als Lizzie Borden in späteren Jahren zurückgezogen in „Maplecroft“ lebte und enge Freundschaften zu Theatermenschen wie Nance O’Neil unterhielt, tauchten in der Tat Gerüchte auf, sie sei lesbisch. Aber dies ist noch lange kein Beleg, dass irgendetwas an diesen Gerüchten dran war. Lizzie Borden blieb ledig und sozial geächtet, sodass sie das natürliche Ziel für solche Spekulationen war.

Einer anderen Theorie zufolge wurde Lizzie Borden von ihrem Vater sexuell missbraucht. Auch für diese These gibt es null Beweise. Andererseits hätte 1892 wohl auch niemand dieses Thema an die große Glocke gehangen. Dies war in der öffentlichen Diskussion ein Tabu.

Lizzie: A Novel

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Frank Spiering: Lizzie. 1984.

Spiering ist der Überzeugung, dass Emma Borden die eigentliche Mörderin ihrer Eltern war und Lizzie eine verängstigte Komplizin. Der Autor unterstellt ihr das gleiche Motiv, wie die Staatsanwaltschaft Lizzie Borden. Sie habe es auf das Erbe abgesehen und befürchtet, der Vater vermache das Vermögen ihrer Stiefmutter.

Spiering versucht nachzuweisen, dass Emma für Lizzie eine Art Ersatzmutter darstellte, der die jüngere Schwester quasi hörig gewesen sei. Emma habe sich den Plan für den Mord ausgedacht, der unter anderem ihr Alibi in einer 25 km entfernten Nachbarstadt beinhaltete. Von da sei sie heimlich in einer Kutsche nach Fall River zurückgekehrt und habe sich im Obergeschoss des Borden-Hauses versteckt. Dort habe sie sich aufgehalten, bis Dr. Bowen das Telegramm verschickt habe. Als Lizzie angeklagt wurde, hätten die beiden Schwestern kooperiert, um sich gegenseitig zu schützen.

Spiering zieht als Beleg für seine Theorie Aussagen von Menschen heran, die Lizzie und Emma in der Zeit nach dem Prozess kannten. Sie berichteten von einem gespannten Verhältnis zwischen den Schwestern. Auch Spiering behauptet, Lizzie habe eine intime Beziehung mit der Schauspielerin Nance O’Neil unterhalten, was schließlich zum endgültigen Bruch mit ihrer Schwester geführt habe.

Lizzie

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Arnold R. Brown: Lizzie Borden. 1992.

Dieses Buch entwirft eine komplizierte Verschwörungstheorie, um die Morde zu erklären. Der Autor Brown stammt aus Fall River. Er behauptet, er sei mit dem Schwiegersohn eines Ehepaares befreundet, das den wahren Mörder kenne. Außerdem sei die Schwiegermutter eine direkte Augenzeugin gewesen, die den Täter hätte flüchten sehen.

Der Mörder sei ein gewisser William Borden gewesen, der zurückgebliebene und wahrscheinlich illegitime Sohn von Andrew Borden, der sich als Metzger und Pferdefleischhändler durchschlug. Wegen seines Status als unehelicher Sohn hätten Lizzie, Emma, Dr. Bowen und der Anwalt Jennings konspiriert, um die Familienehre zu bewahren. Williams Motiv für die Morde sei gewesen, dass er sich um sein Erbe betrogen gefühlt habe.

Die Töchter hätten ihm Geld gezahlt, damit er von der Bildfläche verschwinde. Warum sich Lizzie verhaften ließ? Weil ihr immer bewusst gewesen sei, dass sie noch den wahren Täter benennen könnte, falls es eng würde vor Gericht.

Ehrlich gesagt habe ich keine Ahnung, ob dieser angebliche uneheliche Sohn überhaupt ausreichend belegt ist. In den zeitgenössischen Berichten gibt es jedenfalls keinen Hinweis auf solch eine Figur.

Lizzie Borden: The Legend, the Truth, the Final Chapter

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Gerald Gross: The Pearson-Radin Controversy over the Guilt of Lizzie Borden.

In: Masterpieces of Murder: An Edmund Pearson True Crime Reader, Gerald Gross, editor. Little, Brown and Company 1963.

Gross geht zwar davon aus, dass Lizzie Borden ihre Eltern ermordet habe. Bridget Sullivan sei jedoch ihre Komplizin gewesen. Das Hausmädchen habe die Mordwaffe und das blutbefleckte Kleid verschwinden lassen.

Sein Argument: Beide seien die einzigen Personen gewesen, die sich während der Tatzeit nachweislich im Haus aufgehalten hätten. Wie war es dann erklärbar, dass Abby Borden ermordet wurde, ohne dass Bridget davon etwas mitbekam? Das Opfer wog schließlich mehr als 90 Kilogramm und knallte ungebremst auf den Boden. Dies musste einen großen Krach im Haus gegeben haben.

Von Gross stammt auch das Gerücht, Lizzie habe Bridget ein Schweigegeld bezahlt, damit diese nach Irland verschwindet. Damit habe sich Bridget eine große Farm in Irland gekauft.

Richtig ist, dass Bridget Sullivan nach den Morden in ihre Heimat zurückkehrte. Es ist auch naheliegend, dass Lizzie Borden ihr das Ticket für die Überfahrt finanzierte. Aber es gibt keinerlei stichhaltigen Hinweis, dass noch mehr Geld zwischen den beiden geflossen ist.

Die Geschichte ist alleine deshalb unwahrscheinlich, weil Bridget Sullivan wenige Jahre später wieder in die USA einwanderte, dort heiratete und sich im Bundesstaat Montana niederließ, wo sie 1948 in Butte eines natürlichen Todes starb.

Weitere Bücher zum Fall Lizzie Borden

Elizabeth Engstrom: Lizzie Borden. 1997

 

David Kent: Doppelmord in Fall River. 1993.

 

Charles Samuels & Louise Samuels: Girl in the House of Hate. 1976

 

William Masterston: Lizzie Didn’t Do It! 2000.

 

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