Am 7. Juni 1977 musste Ted Bundy zu seiner ersten Anhörung im Gerichtsgebäude von Aspen erscheinen. Seine Bewacher hatten darauf verzichtet, ihm Hand- und Fußfesseln anzulegen. Er bat den Richter, die Bibliothek aufsuchen zu dürfen. Dort versteckte sich Bundy hinter einem Bücherregal, öffnete unbemerkt ein Fenster und sprang hinaus. Zwar verstauchte sich Bundy beim Sprung aus dem zweiten Stock den rechten Knöchel. Doch er blieb beweglich genug, um seinen Häschern zu entkommen.
Die Polizei löste sofort Großfahndung aus, errichtete Straßensperren und durchsuchte die Wagen, die die Stadt verlassen wollten. Ted Bundy hatte mit diesem Vorgehen der Polizei gerechnet. Die Flucht war keine spontane Entscheidung gewesen. Er hatte sich jeden seiner Schritte vorher genau überlegt. Das hätte man angesichts seines Fluchtversuchs in Utah wissen können.
Ted Bundy ahnt die Schritte der Polizei voraus
Ted Bundy entledigte sich zunächst einmal seiner Klamotten. Darunter trug er vorausschauend eine zweite Schicht Kleidung. Dann tauchte er innerhalb der Stadtgrenzen von Aspen unter und lief somit keine Gefahr, sich in den zahlreichen Kontrollen zu verheddern. Natürlich setzte die Polizei auch eine Hundertschaft in Bewegung, die ihm mit Spürhunden nachjagte. Doch Bundy hatte darauf gesetzt, dass die Hunde in dem Touristenort Aspen schnell seine Witterung verlieren würden, und behielt mit dieser Einschätzung recht.
Ted Bundy nutzte die vorhandene Infrastruktur auch anderweitig zu seinen Gunsten aus. Rund um Aspen gab es eine Vielzahl an Skihütten und Wochenendhäusern, die nun in den Sommermonaten leer standen. Bundy brach in diese Häuser ein, ernährte sich von den dort gelagerten Konserven, besorgte sich neue Kleidung und fand ein geladenes Gewehr.
Ohne Orientierung
Ted Bundy war allerdings klar, dass er nicht ewig in Aspen bleiben konnte. Irgendwann würde die Polizei systematisch jedes Haus durchsuchen. Zunächst setzte er seine Flucht zu Fuß fort. Vom Aspen Mountain im Süden von Aspen ging er weiter in Richtung der Ortschaft Crested Butt. Aber er verlief sich in dem großen Waldgebiet. Zwei Tage irrte er orientierungslos herum. Am 10. Juni stieß er auf einen verlassenen Wohnwagen am Maroon Lake, etwa 15 Kilometer südlich von Aspen. Er brach den Wagen auf und stahl ein paar Lebensmittel und eine Skijacke. Statt seinen Weg nach Süden fortzusetzen, kehrte er aber nun wieder nach Aspen zurück.
Bundy hielt Ausschau nach einem geeigneten Fluchtfahrzeug. Am 13. Juni 1977 entdeckte er am Rande eines Golfplatzes in Aspen einen Wagen, in dem der Schlüssel noch in der Zündung steckte. Er setzte sich rein und düste los. Doch die Flucht hatte Kraft gekostet. Bundy war unterkühlt, hatte kaum geschlafen und litt noch immer unter starken Schmerzen, die von seinem verstauchten Knöchel herrührten. Einer Streifenbesatzung fiel Bundy auf, weil er in Schlangenlinien durch Aspen fuhr. Den beiden Beamten gelang es ohne Probleme, den entkräfteten Flüchtling zu überwältigen. Nach sechs Tagen war Bundys Flucht zu Ende.
Irrational
Zurück im Gefängnis redeten Freunde und juristische Berater auf Ted Bundy ein, tunlichst jeden weiteren Fluchtversuch zu unterlassen. Es wäre in seiner Lage schlichtweg dumm. Denn das Verfahren gegen ihn, das ohnehin schon auf wackligen Füßen stand, entwickelte sich immer mehr zu seinen Gunsten. Der Richter hatte zahlreiche Indizien der Anklage nicht zur Beweisaufnahme zugelassen. Die Staatsanwaltschaft war nicht mehr in der Lage, eine schlüssige Indizienkette darzulegen. Wirklich belastendes Beweismaterial, das Bundy mit dem Mord an Cary Campbell in Verbindung brachte, existierte ohnehin nicht.
Ein rational denkender Mensch hätte angesichts dieser Ausgangslage seine Chancen abgewägt und wäre zu dem Schluss gekommen, dass vieles für einen Freispruch sprach. Die Ermittlungsbehörden in Utah und Washington hätten es sich zweimal überlegt, Mordanklage gegen Bundy einzureichen, wenn die Staatsanwaltschaft in Colorado damit Schiffbruch erlitten hätte. Denn auch sie hatten nicht mehr Beweise zu bieten. Für die Entführung von Carol DaRonch hätte Bundy realistisch betrachtet noch etwa anderthalb Jahre absitzen müssen, bevor er auf Bewährung freigekommen wäre. So unglaublich dies klingen mag angesichts dessen, was man heute über die Mordserie weiß, aber Ted Bundy hätte 1978 oder 1979 ein freier Mann sein können. Wenn er ein rational denkender Mensch gewesen wäre. Er war es nicht.
Neuer Fluchtplan
Stattdessen heckte Ted Bundy sofort einen neuen Fluchtplan aus. Er legte ein geheimes Bargelddepot an. Er pumpte Freunde an, die ihn im Gefängnis besuchten. Speziell Carol Ann Boone, seine Ex-Kollegin, mit der er 1974 ein Verhältnis angefangen hatte, tat sich dabei hervor. Am Ende hatte er so 500 Dollar zusammengekratzt. Er besorgte sich von einem Mitinsassen eine Bügelsäge. Während die anderen Häftlinge abends duschen gingen, sägte Bundy ein Loch in seine Zellendecke. Die Öffnung hatte lediglich einen Durchmesser von 30 Zentimetern. Bundy hungerte sich 15 Kilogramm Gewicht runter, um sich durch das kleine Loch zwängen zu können.
Oberhalb der Decke befand sich ein ungenutzter Kriechboden. Statt direkt zu fliehen, nachdem er die Öffnung fertiggestellt hatte, schaute sich Ted Bundy in Ruhe in dem Kriechboden um und erkundete jede Ecke. Er trainierte jeden Abend akribisch seine Flucht. Ein anderer Häftling beschwerte sich mehrfach bei den Wachleuten, dass er nachts Geräusche in der Decke gehört habe. Das Wachpersonal untersuchte den Vorfall jedoch nicht. Man ging davon aus, dass Ratten oder Mäuse die Geräusche verursacht hatten.
Nächster Fluchtversuch
Am Abend des 30. Dezember 1977 unternahm Ted Bundy schließlich seinen nächsten Fluchtversuch. Der Termin war wohlüberlegt. Der Großteil des Gefängnispersonals war über die Feiertage im Urlaub. Der verbliebende Rest war mit der Entlassung von Gefangenen, die nur kurze Haftstrafen verbüßten, ausgelastet. Üblicherweise schickte man diese kurz vorm Jahresende nach Hause, damit sie Weihnachten und Neujahr im Kreise ihrer Familien verbringen konnten. Bundy stopfte einige Bücher und Akten unter die Decke auf seiner Zellenpritsche. Wenn ein Wachmann einen kurzen Blick durch den Türspion hineinwerfen würde, würde er glauben, der Insasse Bundy schliefe.
Dann schlüpfte Ted Bundy durch die Öffnung in der Decke. Er kroch zum anderen Ende des Gebäudes, bis er zu einer Luke gelangte, die in eine Abstellkammer führte. Der Raum war Teil einer Wohnung, die der Gefängnisaufseher zusammen mit seiner Frau bezogen hatte. An diesem Abend waren beide ausgegangen. Bundy harrte lauschend in der Kammer aus, um sicherzugehen, dass sich niemand in der Wohnung aufhielt. Er zog sich Straßenkleidung über und spazierte dann zur Eingangstür hinaus in die Freiheit.
Ted Bundy brach einen Wagen auf und floh auf dem Interstate 70 in Richtung Osten. Dort hatte das Fluchtfahrzeug allerdings einen Defekt und Bundy musste per Anhalter weiter nach Vail fahren. Nun hatte er sich bereits 100 Kilometer vom Gefängnis entfernt, ohne dass seine Flucht dort bisher jemandem aufgefallen war. Von Vail fuhr Bundy mit dem Bus nach Denver und bestieg hier einen Flieger nach Chicago. Als er dort am 31. Dezember gegen Mittag landete, registrierte man im Gefängnis in Colorado endlich, dass Ted Bundy geflohen war. Zu diesem Zeitpunkt hatte Bundy bereits 17 Stunden Vorsprung.
Vertrautes Terrain
Von Chicago reiste Bundy mit dem Zug nach Ann Arbor, Michigan. Fünf Tage später stahl er ein Auto und fuhr nach Atlanta, wo er einen Bus bestieg, der ihn am 8. Januar 1978 nach Tallahassee in Florida brachte, dem eigentlichen Ziel seiner Flucht. Er mietete ein Zimmer in einer Pension in der Nähe der Florida State University unter dem Pseudonym Chris Hagen. Bundy sagte später aus, dass er zunächst geplant habe, sich einen Job zu suchen und völlig unauffällig zu leben. Solange er nicht die Aufmerksamkeit der örtlichen Polizei erregte, würde ihn hier niemand finden.
Doch als sich Ted Bundy um einen Job auf dem Bau bewarb, scheiterte er daran, dass er keine gültigen Papiere vorlegen konnte. Um sich gefälschte Ausweisdokumente leisten zu können, brauchte er Geld. Ohne Job kam er nicht an Geld ran. Seine 500 Dollar Fluchtgeld waren praktisch schon aufgebraucht. Bundy kehrte zu seinen alten Gewohnheiten zurück. Er finanzierte sich seinen Lebensunterhalt durch Ladendiebstähle und indem er die Handtaschen von Frauen plünderte.
Ted Bundy genoss seine neu gewonnene Freiheit in einer Umgebung, in der er sich bestens auskannte. Er war zwar noch nie zuvor in Florida gewesen. Aber das Universitätsgelände der Florida State University bedeutete für ihn vertrautes Terrain. Die meiste Zeit schlenderte er zu Fuß über den Campus, schlich sich gelegentlich in ein Seminar oder eine Vorlesung. Wenn er sich nicht an der Uni aufhielt, blieb er in seinem Zimmer und schaute Fernsehen. Den Apparat hatte er natürlich gestohlen, Diebstahl war längst zu seiner zweiten Natur geworden. Das Einzige, was Bundy vermisste, war Kommunikation und Kontakt. Er sollte ihn bald herstellen. Auf seine Art.
weiter zu —> (13) Chi-Omega
Weitere Kapitel zum Fall Ted Bundy
- Ted Bundy - Der Campus Killer
- (2) Lynda Ann Healy
- (3) Washington und Oregon 1974
- (4) Lake Sammamish
- (5) Utah 1974
- (6) Carol DaRonch
- (7) Debra Kent
- (8) Colorado 1975
- (9) Verhaftung von Ted Bundy
- (10) Lebensgeschichte Ted Bundy
- (11) Prozess in Utah 1976
- (12) Flucht von Ted Bundy
- (13) Chi-Omega
- (14) Kimberly Leach
- (15) Prozess in Miami 1979
- (16) Prozess in Orlando 1980
- (17) Im Todestrakt
- (18) Modus Operandi Ted Bundy
- (19) Pathologie Ted Bundy
- (20) Mögliche weitere Opfer von Ted Bundy
- (21) Bücher zu Ted Bundy
- (22) Filme zu Ted Bundy
- Ann Marie Burr - Die Sturmnacht