(2) Josefina Rivera

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Josefina Riveras Albtraum begann fast auf den Tag genau vier Monate zuvor. Am 26. November 1986 hatte sie einen heftigen Streit mit ihrem Freund und Lebensgefährten Vincent Nelson. Es ging um Geld, es ging um die Kinder, es ging um ihre Kokainsucht. Die 23-Jährige verließ am späten Abend wütend und aufgebracht die gemeinsame Wohnung. Sie musste zur Arbeit. Zu allem Überdruss schüttete es draußen in Strömen. Es war bitterkalt. Sie würde sich eine Erkältung holen, dachte sie. Sie trug nicht allzu viele Klamotten am Leib. Denn Josefina Riveras Arbeitsplatz war der Straßenstrich von Philadelphia.

Das Schicksal schien Mitleid mit ihr zu haben. Kaum war sie zur Haustür hinaus, rollte ein silberfarbener Cadillac Coupe DeVille langsam an ihr vorbei. Vielleicht war es der erste Freier in dieser Nacht. Das Fahrzeug hielt an. Der Fahrer fuhr das Fenster auf seiner Seite herunter. Josefina trat näher heran. Ein bärtiger Mann fragte sie, ob er sie ein Stück mitnehmen könne. Der Typ sah in Ordnung aus, fand Josefina Rivera. Herrje, in dieser beschissenen Nacht hätte sie wohl Quasimodo ganz okay gefunden. Josefina stieg in den Cadillac ein.

Ein schräger Typ

Der Mann stellte sich ihr als Gary vor. Sie regelten zuerst das Geschäftliche. Er bot ihr an, dass sie zu ihm nach Hause fuhren. Ihr war das nur recht. Zuvor müsse er aber noch einen Zwischenstopp einlegen. Er hielt vor einem McDonald’s in der Nähe. Sie gingen hinein. Der Bärtige spendierte Josefina einen Cheeseburger, er selbst nahm mit einem Kaffee vorlieb. Sie setzten sich an einen Tisch.

Der Typ schien nett zu sein. Obendrein hatte er noch Kohle. Der teure Wagen. Josefina Rivera musterte ihren Begleiter genauer. Gepflegter Vollbart, stahlblaue Augen. An den Händen trug er Schmuck und eine Uhr, die nach viel Geld aussah. Seltsamerweise schien er aber auf billige Klamotten von der Stange abzufahren, die zudem auch schon lange keine Waschmaschine mehr von innen gesehen hatten.

Außerdem war der Typ alles andere als ein großer Redner. Bis auf zwei, drei Sätze hatte er bisher nichts gesagt. Josefina fiel nichts ein, wie sie das Gespräch am Laufen halten sollte. Also fragte sie ihn erneut nach seinem Namen. »Gary Heidnik«, antwortete er mürrisch. Heidnik trank seinen Kaffee auf und gab das Zeichen zum Aufbruch.

Heidniks Haus entpuppte sich als Bruchbude in einer heruntergekommenen Gegend von Philadelphia. Aber Josefina Rivera wollte ihren Augen kaum trauen, als sie auf dem Hof neben dem Haus einen älteren Rolls Royce herumstehen sah. Der Typ war schon ziemlich schräg. Josefina verdrängte ihre berufsbedingten Zweifel. Auf sie warteten hoffentlich ein warmes Bett und ein Freier, der seine Schulden ohne Murren beglich.

Die Dollar-Tapete

Als Heidnik seinen Haustürschlüssel hervorzog, sprang Josefina gleich die seltsame Form des Schlüsselbarts ins Auge. Sie fragte neugierig nach, was es damit auf sich habe. Heidnik erklärte ihr, er habe den Schlüssel in zwei Hälften geschnitten. Eine Hälfte stecke im Türschloss. So könne er sichergehen, dass er der einzige Mensch auf der Welt sei, der den passenden Schlüssel zu diesem Schloss besitze.

Das Haus war nicht sonderlich geräumig, wie Josefina schon von außen aufgefallen war. Auf eine Diele hatte der Architekt deshalb wohl verzichtet. Wenn man das Gebäude betrat, landete man sofort in der Küche. Dahinter schloss das Wohnzimmer an. Die Möbel waren billig und abgewetzt. Von dort führte eine enge Treppe ins Obergeschoss. An der Treppenhauswand klebten mehrere Hundert Penniestücke. Aber wirklich skurril wurde es im Flur, der zum Schlafzimmer führte. Josefina Rivera glaubte, sie halluziniere. Die beiden Wände waren mit Ein- und Fünfdollarnoten tapeziert – mit echten Geldscheinen wohlgemerkt.

Und während Josefina Rivera noch fasziniert die Wanddekoration bestaunte, trat Gary Heidnik hinter die junge Frau und würgte sie mit seinen kräftigen Händen. Josefina verlor vorübergehend das Bewusstsein. Als sie wieder erwachte, hatte Heidnik ihr die Arme mit Handschellen auf den Rücken gefesselt. Er führte sie in den kalten, feuchten Keller hinab.

Festgekettet

Heidnik drückte Josefina auf eine schmutzige Matratze, die auf dem Boden lag. Er befestigte zwei Metallschellen an ihren Knöcheln. An den Schellen waren Ringe angebracht, die er nun mit einer massiven Kette verband. Das Ende der Kette wickelte er straff um ein gusseisernes Rohr unter der Kellerdecke und verriegelte es mit einem großen Vorhängeschloss. Anschließend träufelte er in die Fußschellen Leim hinein, den er mit einem Haarföhn trocknete.

Als Heidnik seine Arbeit beendet hatte, befahl er Josefina, sich aufzusetzen. Er legte seinen Kopf in ihren Schoß und schlief sofort ein. Josefina hatte fest damit gerechnet, dass der Bärtige sie vergewaltigte. Und sie hatte Angst, dass er sie danach tötete. Wozu sonst die Ketten? Doch jetzt legte sich der Typ einfach schlafen. Was sollte sie davon halten? Was wollte dieser Gary Heidnik von ihr?

Irgendwann musste Josefina in der Nacht der Schlaf übermannt haben. Als sie am Morgen aufwachte, war Heidnik verschwunden. Durch das Kellerfenster, das mit einer Decke verhangen war, drangen ein paar Lichtstrahlen ein, sodass sie ihr Gefängnis genauer betrachten konnte. Der Raum war bis auf die Matratze, einen Eimer und eine Kommode praktisch leer. In einer der Ecken war ein Stück vom Estrich entfernt. Jemand hatte dort ein mehrere Zentimeter tiefes Loch gegraben.

Das Loch im Boden

Josefina Rivera hörte Schritte. Er kam die Treppe herunter. Und mit einem Schlag war die Todesangst zurück, die sie in der Nacht zuvor verspürt hatte. Nun würde er sie umbringen, da war sie sicher. Doch Heidnik beachtete sie kaum und sagte kein Wort, als er den engen Raum betrat. Er hatte eine Hacke und eine Schaufel dabei. Er machte sich daran, das Loch im Boden zu vergrößern. Josefina ahnte, was er vorhatte. Das würde ihr Grab werden. Sie betete, dass es schnell vorüberging, was immer ihr bevorstand.

Heidnik unterbrach mehrfach an diesem Tag seine Arbeit und verschwand zwischenzeitlich. Jedes Mal, wenn Schritte seine Rückkehr ankündigten, durchfuhr Josefina wieder Panik. Als er am nächsten Tag ein weiteres Mal in der Grube arbeitete, brach Gary Heidnik plötzlich sein Schweigen. »Ich will Kinder haben«, knurrte Heidnik, »einen Haufen Kinder. Ich hab schon welche. Aber der Staat nimmt sie mir immer wieder weg. Egal. Ich hab jetzt einen Weg gefunden, wie mir niemand mehr die Kinder wegnimmt. Du bist bloß der Anfang. Du wirst mein Baby hier unten austragen. Aber nicht nur du. Ich will zehn Mädchen hier runterbringen, damit ihr alle meine Kinder zur Welt bringt.«

Im ersten Moment fiel Josefina ein Stein vom Herzen. Sie begriff, dass er sie nicht umbringen wollte. Noch nicht jedenfalls. Sie schöpfte wieder Hoffnung, heil aus dieser Sache herauszukommen. Dann begriff sie langsam, was Heidnik gerade gesagt hatte. Der Typ war vollkommen durchgeknallt, dachte Josefina. Dieser Irre wollte hier eine Art Babyfarm errichten. Zehn Frauen in diesem winzig kleinen Keller. Und die Babys, von denen der Wahnsinnige träumte, nicht zu vergessen. Wie sollte das funktionieren? Das konnte er doch unmöglich ernst meinen. Doch Josefina Rivera musste kurz darauf feststellen, dass es Gary Heidnik mit seiner Ankündigung bitterernst war. Sie musste die erste von zahllosen Vergewaltigungen in den kommenden Monaten über sie ergehen lassen.

Fluchtversuch

Sobald Heidnik Josefina wieder allein ließ, dachte sie nur noch an Flucht. Der Irre war brandgefährlich. Sie musste hier raus. Sie konnte doch nicht abwarten, bis der Typ seinen Willen bekam und sie seine Babys austrug. Sie hatte zu Hause selber zwei kleine Kinder zu versorgen, die sie brauchten. Eines ihrer Babys hatte ihr das Jugendamt schon weggenommen. Sie wollte das nicht noch einmal durchmachen müssen.

Josefina Rivera zerrte an ihren Fußfesseln. Eine gab tatsächlich etwas nach, auch wenn der Leim ihr Haut vom Knöchel riss. Sie konnte schließlich ihren Fuß herauswinden. Sie schob die Kommode vor das Kellerfenster und kletterte hinauf. Sie riss die Laken vom Kellerfenster und öffnete die kleine Luke. Josefina hatte Glück. Sie war so zierlich, dass sie durch die kleine Öffnung hindurchpasste. Aber auf halber Strecke hielt sie die verbliebene Fußkette zurück. Und die ließ sich einfach nicht abstreifen.

Lebendig begraben

Josefina Rivera schrie laut um Hilfe. Irgendwer musste sie doch hören. In der Straße standen die Häuser dicht an dicht. Aber der Einzige, der ihre Rufe bemerkte, war Gary Heidnik. Er stürzte in den Keller und zerrte sie zurück auf den Boden. Er verprügelte sie mit einem Knüppel, bis sie sich nicht mehr wehrte. Dann zog er ihren Körper zur Grube, die inzwischen etwa einen halben Meter tief war, und drückte ihr den Kopf auf die Brust, sodass sie hineinpasste. Anschließend schob er eine Sperrholzplatte über die Öffnung und beschwerte sie mit Sandsäcken.

Josefina wurde in der Grube förmlich zerquetscht. Heidnik schaffte ein Radio in den Keller, suchte einen Sender, der Heavy Metal spielte, und drehte den Lautstärkeregler bis zum Anschlag auf. Selbst wenn Josefina nun nochmals wagen sollte zu schreien, würde der Musiklärm alles übertönen. Josefina hatte er halb nackt in dem hart gefrorenen Boden liegen lassen. Sie bekam unter der Last der Gewichte, die auf ihren Brustkorb drückten, kaum noch Luft. Wieder stand sie Todesängste aus.

Sandra Lindsay

Einige Stunden später dröhnte immer noch die Musik durch den Raum. Dennoch glaubte Josefina, andere Geräusche ausmachen zu können. Sie hörte deutlich das Wimmern einer Frauenstimme. Dann eine Kette, die über den Fußboden schleifte. Heidnik zog die Platte von ihr herunter. Josefina japste verzweifelt nach Luft. Heidnik hievte sie aus der Grube.

Josefina blickte auf und sah eine junge Schwarze, die bis auf eine Bluse nackt war. Sie war an dasselbe Rohr gekettet wie Josefina. Die Frau schien gar nicht mitzubekommen, was mit ihr passierte. Gary Heidnik stellte ihr das Mädchen als Sandy Lindsay vor und verließ dann den Raum. Als Sandy sprach, begriff Josefina, warum das Mädchen so unbeeindruckt wirkte. Sandy war augenscheinlich geistig behindert.

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