(5) Die Schlinge zieht sich zu

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Am Samstag, dem 6. August, sollten Andrew und Abby Borden beerdigt werden. Die geplante Trauerfeier fand auch statt, doch auf die eigentliche Beisetzung mussten die Trauergäste verzichten. In letzter Minute hatte der Gerichtsmediziner Dr. Wood aus Harvard sein Veto eingelegt. Offensichtlich hatten ihn nicht alle Details der Obduktion seines Kollegen Dr. Nolan überzeugt und er bestand auf einer zweiten Autopsie. Bei dieser Gelegenheit entfernte er die Köpfe der Leichen. Die Totenschädel sollten später nochmals im Prozess eine Rolle spielen.

Erst zwei Tage nach der Tat gründliche Durchsuchung

Am Tag der Beerdigung führte die Polizei erstmals eine gründliche Durchsuchung des Tatorts in der Second Street durch. Sie nahmen die Kleider der beiden Schwestern genauer in Augenschein und beschlagnahmten die zerstörte Axt im Keller. Die Geschwister Borden und ihre Freundin Alice Russell hielten sich an diesem Wochenende immer noch im Haus der Bordens auf. Das Dienstmädchen Bridget Sullivan war nicht mehr dorthin zurückgekehrt, John Morse inzwischen abgereist.

Offiziell tatverdächtig

Am Samstagabend erschienen der Bürgermeister und ein Polizeibeamter im Haus. Sie teilten Lizzie Borden offiziell mit, dass sie in beiden Mordfällen als Tatverdächtige galt. Vorläufig blieb sie jedoch noch auf freiem Fuß. Emma Borden benachrichtigte daraufhin Andrew Jennings, den Anwalt ihres Vaters. Er vertrat fortan Lizzie Borden.

Lizzie Borden - Andrew Jennings
Andrew Jennings

Verbranntes Kleid

Als Alice Russell am Sonntagmorgen die Küche betrat, sah sie, wie Lizzie Borden ein Kleid im Küchenofen verbrannte. Lizzie behauptete, dass sie sich das Kleid mit Farbe verschmutzt habe und es deshalb unbrauchbar sei. Es konnte niemals eindeutig geklärt werden, ob es sich um das Kleid handelte, das Lizzie Borden am Tag der Morde trug. Aber die Polizei bewertete die Zeugenaussage als weiteres Indiz dafür, dass sie die richtige Verdächtige im Visier hatten. Nachdem bekannt wurde, was Alice Russell der Polizei erzählt hatte, brachen Lizzie und Emma Borden im Übrigen den Kontakt zur einstmals besten Freundin komplett ab.

Lizzie Borden
Lizzie Borden

Ein Insider-Job

Sicherlich gab es eine Reihe von Entdeckungen und Beobachtungen, die Lizzie Borden tatverdächtig erschienen ließen. Aber war sie deshalb zwingend die einzige Person, die als Täterin in Betracht kam? Um zu verstehen, warum sich die Polizei frühzeitig auf Lizzie Borden festlegte, muss man wissen, dass die Ermittler von einem „Insider-Job“ ausgingen. Mit anderen Worten: Der Mörder gehörte entweder zum engsten Kreis der Familie oder ging in dem Haushalt ein und aus. Ein zufällig vorbeigekommener Fremder schied nach der Spurenlage und dem Dafürhalten der Polizei als Täter aus. Für diese Denkweise gab es mehrere plausible Argumente:

  • Es gab keine Spuren, die auf ein gewaltsames Eindringen ins Haus hindeuteten.
  • Es wurden keine gestohlenen Gegenstände bemerkt.
  • Es gab keine Kampfspuren. Der Täter konnte sich zum Beispiel Abby Borden nähern, ohne dass sie misstrauisch wurde, die Flucht ergriff, die Hände zur Verteidigung hochriss etc. Der Mörder war der Frau also vermutlich bestens bekannt. Außerdem bewegte sich der Täter sehr zielstrebig in die Räume seiner Opfer, ohne vorher Lärm zu machen oder sonst wie Aufsehen zu erregen. Er schien sich in dem Haus folglich bestens auszukennen.
  • Die Tatabfolge: Der Täter ermordete zunächst die Mutter, verschonte die Tochter und das Dienstmädchen, wartete stattdessen in aller Seelenruhe im Haus, bis er anderthalb Stunden später auch den Vater ermordete. Es ist äußerst unwahrscheinlich, dass sich ein zufälliger Einbrecher so verhalten würde.
  • Tatdurchführung und Opfer: Die heutige Forensik würde bei beiden Opfern vermutlich von einem „Overkill“ sprechen. Der Mörder hat weitaus öfters zugeschlagen, als notwendig war, um die beiden Opfer zu töten. Daraus schlussfolgern Ermittler normalerweise ein großes Maß an Wut aufseiten des Täters, was häufig für eine Beziehungstat spricht. Nun wurden aber beide Personen im Abstand von 90 Minuten auf diese Weise malträtiert. Dass jemand in Fall River eine enorme Wut auf Andrew Borden verspürte, das ließe sich angesichts seines Status und seines Auftretens gegenüber Mitmenschen noch begreifen. Aber warum sollte er dann die gleiche oder sogar noch mehr Wut gegenüber der Frau verspüren? Genau deshalb kam nach Ansicht der Polizei nur irgendjemand aus dem engsten Familienkreis als Täter infrage. Denn in diesem Umfeld konnten beide Opfer den Zorn einer dritten Person auf sich gezogen haben.

Dann brauchten die Ermittler nur noch das Ausschlussverfahren zu bemühen. Emma Borden und John Morse hatten beide ein Alibi für die Tatzeit. Blieben nur noch Lizzie Borden und Bridget Sullivan übrig, die beide ausreichend Gelegenheit gehabt hätten, die Tat durchzuführen.

Bridget Sullivans Erzählung stringent

Normalerweise wäre das Hausmädchen als Erste in Verdacht geraten. Sie gehörte einem unteren sozialen Stand an. Zudem war Bridget Sullivan, die seit 1889 für die Bordens arbeitete, 1886 aus Irland eingewandert. Irische Immigranten galten in jener Zeit als sozial diskriminierte Minderheit in den Vereinigten Staaten, denen die Behörden mit allen möglichen Vorurteilen begegneten. Doch während sich Lizzie Borden bei ihren Aussagen permanent in Widersprüche verstrickte, war Bridgets Erzählung einfach gehalten und in sich schlüssig. Auch auf Nachfragen wiederholte sie die immer gleiche Version.

Lizzie Borden - Bridget Sullivan
Bridget „Maggie“ Sullivan

Ein reiner Indizienprozess

Dies hatte zur Folge, dass sich zwangsläufig ein komplizierter und unwägbarer Indizienprozess gegen Lizzie Borden entwickeln musste, sobald die Polizei den Fall an die Staatsanwaltschaft übergab. Denn weitere Beweismittel tauchten im Zuge der Ermittlungen nicht auf. Die Ankläger gingen also vor Gericht, obwohl ihnen wichtige Aspekte für die Beweisführung fehlten:

  • eine zweifelsfrei identifizierte Mordwaffe
  • die Bekleidung des Täters (angesichts der Tatdurchführung musste die Kleidung massiv mit Blut verschmutzt sein)
  • ein überzeugendes Tatmotiv

 

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