Der seltsame Fall des Dr. Sam Sheppard

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An diesem Fall scheint alles glasklar zu sein. Eine schwangere Ehefrau brutal erschlagen in ihrem Bett. Am Tatort findet die Polizei den Ehemann vor, der seine Frau jahrelang betrogen hat. Doch an diesem Fall ist gar nichts glasklar – auch wenn einem Fensterputzer eine entscheidende Rolle beikommt.

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Doppelhochzeit 1945: Marilyn und Sam Sheppard (Bildmitte), rechts Bruder Stephen Sheppard und linksaußen dessen Frau

Der Anruf

Am 4. Juli 1954 riss das Schrillen des Telefons Spencer Houk um 5:40 Uhr unsanft aus dem Schlaf. Am anderen Ende der Leitung meldete sich sein Nachbar Sam Sheppard: „Um Himmels willen, Spence! Komm sofort rüber! Ich glaube, sie haben Marilyn umgebracht.“

Houk war Bürgermeister der Gemeinde Bay Village, einer Vorstadt der Metropole Cleveland in Ohio. Gemeinsam mit seiner Frau Esther fuhr er sofort das kurze Stück zum Haus der Sheppards hinüber. Sie fanden Sam Sheppard in seinem Arbeitszimmer vor. Er saß in einem Drehstuhl und hielt sich den Nacken. Er wirkte orientierungslos und schien unter Schock zu stehen. Sein Oberkörper war blank, die Hose nass. Am Knie war ein Blutfleck zu erkennen.

Esther Houks eilte die Treppe zum Schlafzimmer der Sheppards hinauf. Dort lag Marilyn Sheppard tot in ihrem Bett. Esther Houks machte auf dem Absatz kehrt und rannte zurück zu ihrem Mann. Der Bürgermeister rief die Polizei des Bay Village an. Die Uhr zeigte 5:57 Uhr an. Der Morgen des amerikanischen Unabhängigkeitstages brach gerade an.

Überall Blut

Der Streifenbeamte Fred Drenkhan traf um 6:02 Uhr als erster Polizist am Tatort ein. Wie die anderen vier Polizeibeamten in Bay Village kannte er Dr. Sam Sheppard persönlich. Sheppard arbeitete nebenher als Polizeiarzt und begleitete Drenkhan und seine Kollegen häufiger zu Einsätzen.

Der Polizist rannte nach oben ins Schlafzimmer. Die Tote lag mit dem Rücken auf dem Bett. Der Kopf war in Richtung der Schlafzimmertür gedreht. Das Pyjamahemd war hochgeschoben und entblößte ihre Brüste. Die heruntergezogene Hose schlackerte nur noch um einen Fußknöchel. Die Unterschenkel waren zwischen Matratze und einer gedrechselten Holzstange am Fußende des Bettes eingeklemmt. Die Füße des Opfers baumelten wenige Zentimer über dem Boden.

Das Gesicht der Frau war durch Schläge bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Die Matratze war in eine Blutlache getränkt. An den Wänden und Schranktüren waren Dutzende von Blutflecken. Auch die Fußböden in anderen Räumen des Hauses waren mit Blutspritzern übersät. Als mutmaßlichen Todeszeitpunkt würde der Pathologe später 4:30 Uhr festhalten. Bei der Autopsie stellte sich zudem heraus, dass Marilyn Sheppard im vierten Monat schwanger war.

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Grafische Darstellung der Verletzungen (Beweismittel im Gerichtsverfahren)

Als Drenkhan die übrigen Zimmer durchsuchte, entdeckte der Polizist Hinweise auf einen Raubüberfall. Am Ende des Flurs lag der umgekippte Arztkoffer von Sam Sheppard. Der Inhalt war über die Holzdielen verteilt. Im Arbeitszimmer lagen zwei Pokale zerkratzt und zerbrochen auf dem Boden. Jemand hatte die Schubladen von Sheppards Sekretär herausgezogen. Drenkhan wunderte sich allerdings, dass alle Laden etwa gleich weit herausstanden. Es sah auf den ersten Blick zu ordentlich aus.

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Fred Drenkhan während des späteren Gerichtsverfahrens 1954

Abend mit Freunden

Da Sam Sheppard augenscheinlich schwerer verletzt war, war eine eingehende Befragung des Tatzeugens zu diesem Zeitpunkt nicht möglich. Was er dennoch sagte, wurde nicht protokolliert. Er dürfte aber – zumindest in Grundzügen – die gleiche Geschichte erzählt haben, die er in den kommenden Tagen den Ermittlern präsentierte.

Demzufolge hatten die Sheppards am Abend des 3. Juli, einem Samstag, Besuch von einem befreundeten Ehepaar aus der Nachbarschaft. Don und Nancy Ahern sowie ihre beiden Kinder trafen die Sheppards in ihrem Haus in 28944 Lake Road zum Abendessen. Gemeinsam bewunderte man den Sonnenuntergang am Lake Erie, an den das Grundstück direkt angrenzte.

Anschließend fuhr Don Anhern seine Kinder nach Hause und kehrte wieder zu den Sheppards zurück. Marilyn Sheppard brachte derweil den siebenjährigen Sohn Sam junior – oder kurz „Chip“ genannt – ins Bett. Danach schauten sich die beiden Ehepaare den Film „Strange Holiday“ im Fernsehen an. Sam Sheppard entschuldigte sich vorzeitig. Er hatte einen langen Arbeitstag in der Notaufnahme des Krankenhauses hinter sich. Er zog sich jedoch nicht ins Schlafzimmer zurück, sondern legte sich auf eine Liege im Wohnzimmer. Etwa gegen Mitternacht verabschiedete Marilyn Sheppard die Gäste und legte sich ihrerseits schlafen.

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Die Liege, auf der Sam Sheppard laut eigenen Angaben geschlafen hat

Der Einbrecher mit dem Bürstenhaarschnitt

Irgendwann in dieser Nacht – einen genauen Zeitpunkt konnte Sam Sheppard nicht benennen – schreckte der Familienvater aus dem Schlaf hoch. Er glaubte, gehört zu haben, dass seine Frau nach ihm gerufen hatte. Einmal, vielleicht auch zweimal. Er rannte nach oben und erblickte „die Schemen einer Gestalt in dünner Bekleidung, die mit jemanden oder irgendetwas zu ringen schien“. Er hörte ein Stöhnen oder Wimmern. Er stürzte sich auf die Gestalt, bekam sie zu fassen, spürte aber plötzlich einen Schlag von hinten.

Als er wieder zu sich kam, lag er auf dem Boden, seine Frau blutüberströmt im Bett. Er taste nach ihrem Puls und spürte keinen. Er rannte zum Nachbarraum und sah, dass Sohn Chip fest schlief. Er hörte ein Geräusch aus dem Untergeschoss und rannte die Treppe hinunter.

Die Hintertür war offen. Er sah „eine Gestalt, die sich in schnellem Tempo zum See bewegte.“ Sheppard schätzte, dass die Person etwa 1,80 Meter groß und mittleren Alters war, ein weißes Hemd oder T-Shirt trug und dunkle, „buschige“ Haare hatte. Gemäß den Phantomzeichnungen, welche die Polizei später nach seiner Täterbeschreibung fertigte, handelte es sich bei dem „buschigen“ Haar um eine sogenannte Mecki-Frisur oder einen Bürstenhaarschnitt.

Sheppard jagte die Gestalt über den Rasen und die Holzstufen hinunter zum 50 Meter tiefer gelegenen Strand am Lake Erie. Dort holte er die Person ein und bekam sie irgendwie zu packen. Doch in dem anschließenden Ringkampf behielt Sheppards Gegner die Oberhand. Sheppard verlor erneut das Bewusstsein, nachdem ihm der Fremde würgte.

Er konnte nicht sagen, wie lange er ohnmächtig geblieben war. Als er wieder zu sich kam, halb im Wasser des Sees liegend, stolperte er die Treppe hinauf zum Haus und begab sich ins Schlafzimmer, in dem er seine tote Frau entdeckte. Er fühlte sich desorientiert. Er konnte nicht sagen, ob das Geschehen Teil eines bizarren Traums oder Realität war. Erst nach geraumer Zeit dämmerte ihm, dass er nicht geträumt hatte. Da verständigte er seine Nachbarn.

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Zeichnung des Sheppard-Hauses

Bei vielen Details seiner Aussage blieb Sheppard auch während späterer Befragung vage. So konnte er nie präzisieren, ob sich ein oder mehrere Eindringlinge im Schlafzimmer befanden, als er zum ersten Mal niedergeschlagen wurde. Außerdem sprach er hartnäckig von einer „Gestalt“, die er gesehen habe. Er sah sich nicht einmal imstande, das Geschlecht der Person zu benennen.

Eine Nummer zu groß

Die Polizei benachrichtigte die beiden Brüder von Sheppard. Richard Sheppard nahm seinen Neffen Sam junior zu sich nach Hause, der nach wie vor nichts von dem Geschehen im Haus mitbekommen hatte und fest schlief. Steve Sheppard wiederum fuhr seinen Bruder ins drei Meilen entfernte Bay View Hospital, damit er dort ärztlich versorgt wurde.

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Sam „Chip“ Sheppard im Alter von 8 Jahren

Fred Drenkhan äußerte gegenüber Bürgermeister Houk, dass der Fall wohl die Kapazitäten des Bay Village Police Department übersteige. Die Behörde verfügte nicht über eine Kriminalabteilung. Houk teilte die Bedenken und verständigte zusätzlich die Polizei von Cleveland.

Die Stadtpolizei entsandte zwei Beamte der Mordkommission – Robert Schottke und Patrick Gareau – sowie einen Beamten der Spurensicherung. Am Tatort erschien darüber hinaus ein Kripobeamter des Sheriffs von Cuyahoga County, obwohl das Sheriff-Büro in der Regel nur Verbrechen in den Gemeinden des Verwaltungsbezirks bearbeitete, die keine eigene Polizeitruppe unterhielten.

Chaos am Tatort

Es schien von Anfang nicht klar zu sein, wer die Ermittlung leitete. Nach außen hin, gegenüber Öffentlichkeit und Medien, füllte der Gerichtsmediziner Samuel R. Gerber diese Rolle aus, der sich um 8 Uhr am Tatort einfand. Dr. Gerber war 1936 zum County Coroner gewählt worden und sollte dieses Amt behalten, bis er sich 1986 im Alter von 87 Jahren in den Ruhestand verabschiedete.

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Dr. Samuel Gerber 1954

Der Gerichtsmediziner hatte neben seinem Doktortitel einen Juraabschluss und galt auch auf nationaler Ebene als anerkannter forensischer Experte. Er war Mitautor des Standardwerkes „The Physician in Court“ und hielt Vorlesungen an der Case Western Reserve University sowie in anderen Städten des Landes. Doch für die Führungsrolle in dieser Ermittlung qualifizierte er sich insbesondere wegen seines Umgangs mit den Medien. Er lieferte den Reportern permanent druckreife Zitate, weshalb sie sich immer zuerst an ihn wandten.

Im Mordfall Sheppard war diese Fähigkeit dringend vonnöten. Denn das große Polizeiaufgebot hatte zunächst die Nachbarn und im Anschluss zahlreiche Pressevertreter an den Schauplatz des Verbrechens gelockt. Damals war es noch nicht üblich, einen Tatort rigoros abzusperren, um die Spuren vor Kontaminierung zu schützen. Deshalb tummelte sich die Menschenschar ungehindert auf dem Grundstück der Sheppards herum. Einige betraten sogar das Mordhaus.

Fundstücke

Die Beamten machten aus der Not eine Tugend. Sie rekrutierten mehrere Jugendliche aus der Nachbarschaft als Hilfskräfte, die das weitläufige Gelände nach verdächtigen Gegenständen absuchen sollten. So kam es, dass Larry Houk, der 16-jährige Sohn des Bürgermeisters, im Gestrüpp der Strandböschung eine Aktentasche von Dr. Sam Sheppard fand.

Die Tasche enthielt Sheppards Armbanduhr, den Ring seiner Studentenverbindung vom Hannover College und seine Schlüssel. Der Tascheninhalt wanderte durch mehrere Hände, bevor der Mann von der Spurensicherung die Gegenstände nach Fingerabdrücken untersuchen konnte. So erging es einer Reihe weiterer Beweisstück im Haus. Die Beweissicherung funktionierte also längst nicht auf dem Niveau, wie man sie von heutiger Polizeiarbeit gewohnt ist.

Früher Verdacht

Coroner Gerber bat Fred Drenkhan um eine Zusammenfassung der bisherigen Erkenntnisse. Sheppards Angaben zum Tatablauf waren in seinen Augen wenig plausibel. Die sorgfältig herausgezogenen Schubladen am Sekretär entsprachen nicht dem Bild, das er vom Tatort eines Raubüberfalls erwartete. Es gab bisher keine Hinweise auf eine aufgebrochene Tür oder ein eingeschlagenes Fenster. Für Gerber roch der Fall nach häuslicher Gewalt. Auf dieser Annahme baute er seine Ermittlung auf. Deshalb verwendete er von Beginn weit weniger Ressourcen auf die Sicherung von Fingerabdrücken und Blutspuren, als man bei einer Morduntersuchung normalerweise erwarten dürfte.

Noch am gleichen Morgen gab Gerber ein erstes Statement vor der Presse ab, um die bisher bekannten Fakten zu präsentieren. Er schätzte, dass der Mord zwischen 3 und 4 Uhr morgens stattgefunden hatte. Die Uhr des Opfers Marilyn Sheppard war um 3:15 Uhr stehengeblieben, vermutlich infolge von Gewalteinwirkung. Der Täter hatte der Frau mindestens 35 Hiebe mit einem stumpfen Gegenstand verpasst, vorwiegend im Kopfbereich. Laut Gerber handelte der Mörder angesichts der Vielzahl der Schläge offenbar in großer Wut. Der Gerichtsmediziner fügte hinzu, dass die Ermittler bisher noch keine Spuren finden konnten, die auf ein gewaltsames Eindringen ins Haus hinwiesen.

Familienidyll

Vor Ort gab es drei Tageszeitungen: den „Plain Dealer“, die „Cleveland Press“ und die „Cleveland News“. Ihnen sollte aufgrund der tendenziösen Berichterstattung noch eine besondere Rolle in dem Mordfall Sheppard zukommen. Doch die Geschichte um die ermordete Arztgattin erregte alsbald auch das Interesse der nationalen und sogar internationalen Presse. Speziell in Deutschland traf der Fall auf ein großes Medienecho. Dieser Umstand sollte in späteren Jahren noch von Bedeutung sein.

Die Schlagzeilen und Artikel zu Beginn der Ermittlung fielen jedoch weitestgehend neutral aus. Die Zeitungen zeichneten das Bild eines heilen Familienidylls, das durch einen Schicksalsschlag zerstört wurde. Die Reporter beschrieben Marilyn Sheppard (31) als hingebungsvolle Ehefrau und Mutter, die an der Sonntagsschule der Bay Methodist Church unterrichtete und darüber hinaus aktiv am Gemeindeleben teilnahm. Im Sprachjargon jener Tage bezeichneten die Tageszeitungen die 1,70 m große und 57 kg schwere Frau mit brünettem Haaren und haselnussbraunen Augen als „attraktive Vorstadt-Hausfrau“.

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Mordopfer Marilyn Sheppard, ca. 1950

Ihr Mann Samuel H. Sheppard (30) war in Bay Village gemeinhin als „Dr. Sam“ bekannt, denn seine beiden Brüder Richard und Steve sowie sein Vater Richard praktizierten dort ebenfalls als Ärzte. Ein einfaches „Dr. Sheppard“ hätte also nicht ausgereicht, um die Sheppard-Männer auseinanderzuhalten. Alle vier Ärzte arbeiteten im Bay View Hospital, einer Klinik mit 110 Betten, die Sam Sheppards Vater gehörte. Die Sheppards zählten damit zu den wohlhabenden Familien der Umgebung. Obwohl erst 30 Jahre jung, besaß Sam Sheppard bereits ein Haus am See. In der dazugehörigen Garage parkten ein Lincoln Continental und ein Jaguar.

In der deutschsprachigen Literatur ist häufig die Rede davon, dass Sam Sheppard als Osteopath gewirkt habe. Dies ist jedoch etwas irreführend. Hierzulande ist mit dem Begriff Osteopath meist ein Alternativmediziner, Heil- oder Chiropraktiker gemeint. In den USA ist der Doktortitel D.O. (Doctor of Osteopathic Medicine), wie ihn Sheppard führte, aber nahezu gleichrangig zum M.D. (Medicinae Doctor), der weitestgehend dem deutschen Dr. med. entspricht. Sowohl für den D.O. als auch den M.D. ist eine sehr ähnliche, schulmedizinische Ausbildung vonnöten. Sam Sheppard arbeitete in der Klinik seines Vaters als Facharzt für Neurochirurgie sowie in der Notfallversorgung.

Sam und Marilyn Sheppard hatten sich bereits zu Highschool-Zeiten ineinander verliebt und galten seither als unzertrennliches Vorzeigepaar. Zum Zeitpunkt des Mordes war Marilyn Sheppard mit einem zweiten Kind im 4. Monat schwanger. Von der Schwangerschaft wussten bisher nur die Familie und der engste Freundeskreis.

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Schnappschuss aus glücklichen Tagen: Sam und Marilyn Sheppard beim Wasserski

Ein Schürzenjäger?

In der Klinik hatte die Untersuchung von Sam Sheppard ergeben, dass er mehrere Prellungen und ausgeschlagene Zähne sowie einen angebrochenen Halswirbel davongetragen hatte. Steve Sheppard hatte seinem Bruder ein starkes Beruhigungsmittel verabreicht, sodass er nicht vernehmungsfähig war, als Coroner Gerber und Bay Village-Polizeichef John Eaton erstmals das Krankenhaus aufsuchten.

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Sam Sheppard im Krankenhaus

Gerber bat bei dieser Gelegenheit nur darum, die Kleidung von Sam Sheppard zu Untersuchungszwecken mitnehmen zu dürfen: wasserdurchtränkte Schuhe, Gürtel, Boxershorts und Hose. Auf der Hose bemerkte er am linken Knie einen großen Blutfleck. Gerber schloss daraus, dass Sheppard in einer Blutlache gekniet hatte.

Beim zweiten Besuch von Gerber und Eaton kam es dann zu einer ersten ausführlicheren Befragung von Sheppard. Unter anderem wollten die Beamten wissen, wie das Verhältnis zu seiner Frau war. Zudem fragten sie ihn, welche Art von Beziehung er zu einer gewissen Susan Hayes unterhalten habe, die einst als Krankenschwester am Bay View Hospital gearbeitet hatte.

Zu diesem Zeitpunkt hatten die Ermittler von einer Nachbarin zunächst erfahren, dass Marilyn Sheppard ihr erzählt habe, ihr Mann sei unfruchtbar, weil er zu häufig Röntgenstrahlen ausgesetzt gewesen sei. Die Polizei spekulierte umgehend, Marilyn Sheppards ungeborenes Kind könnte von einem anderen Mann stammen – ein mögliches Mordmotiv. Dann erfuhren sie von Nancy Ahern, Sam Sheppard habe seine Frau über längere Zeit mit einer Krankenschwester betrogen und diese mit Geschenken überschüttet. Dies klang in den Ohren der Polizisten nach einem noch klassischeren Motiv für einen Mord.

Dass die Polizei den Ehemann vorläufig als potenziellen Verdächtigen behandelten, war wenig überraschend. Morde sind zu einem großen Teil Beziehungstaten, bei denen sich Täter und Opfer zuvor kannten. Und bei 30 % der weiblichen Mordopfer ist der Ehemann oder Freund der Schuldige. Es ist also durchaus nachvollziehbar, warum Sam Sheppards Geschichte über den mysteriösen Fremden von Beginn an das Misstrauen der Ermittler erregte.

Viele unbeantwortete Fragen

Warum gab es keine Hinweise auf einen Einbruch? Warum gab es keine Kampfspuren im Schlafzimmer der Sheppards? Wieso war Sohn Chip nicht wachgeworden, wenn die Eltern mit einem Einbrecher um ihr Leben rangen? Warum hatte niemanden den Hund der Sheppards bellen hören, obwohl dieser ansonsten beim Besuch von Fremden stets anschlug? Was war mit dem T-Shirt passiert, das Sam Sheppard laut Aussagen des Ehepaars Ahern noch gegen Mitternacht trug? Warum fand sich kein Sand in Sheppards Haar, obwohl er doch angeblich am Seeufer gelegen hatte?

Was war zwischen 3.15 Uhr (Marilyns Tod) und 5.40 Uhr (Sheppards Anruf bei Bürgermeister Houk) geschehen? Wie gelang es dem Täter, Marilyn Sheppard 35 Schläge zu verpassen, während ihr Mann die Treppe hinauf stürmte? Und warum hatte der vermeintliche Einbrecher Marilyn Sheppard brutal ermordet, während er gleichzeitig den Augenzeugen Sam Sheppard am Leben ließ und das gleich zweimal? Wäre ein Einbrecher, der die Entdeckung so sehr fürchtete, auf diese Art vorgegangen? Sam Sheppard hatte auf all diese Fragen nur eine Antwort: „Ich weiß es nicht.“

Stimmungsumschwung

Auf Geheiß der Polizei untersuchte ein Neurologe Sheppard im Krankenhaus. Der Arzt stellte fest, dass Sheppard „ernsthafte Schäden am Rückenmark in der Halsregion“ sowie Prellungen an der rechten Gesichtshälfte und Risswunden erlitten hatte. Das Ausmaß der Verletzungen sollte fünf Monate später ein wichtiger Punkt in der Gerichtsverhandlung darstellen.

An diesem Abend empfing Sheppard noch einen weiteren Besucher, den er allerdings selber zu sich gerufen hatte. Er bat William Corrigan, einen bekannten Anwalt aus Cleveland, seine Rechtsvertretung zu übernehmen. Als die Presse von der Sache Wind bekam, kippte die Stimmung in der Berichterstattung. Welcher Unschuldige benötigt schon einen Rechtsbeistand? War dies nicht ein deutliches Zeichen dafür, dass Sheppard in irgendeiner Form für den Tod seiner Frau verantwortlich war? War er womöglich selbst der Mörder?

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Anwalt William Corrigan (Bildmitte, auf Aktentasche lehnend) 1954

Ob schuldig oder nicht – nach den Vernehmungen durch die Polizisten musste Sheppard klar geworden sein, dass er bei den Behörden inzwischen als Hauptverdächtiger in der Untersuchung galt. Es wäre naiv gewesen, sich dieser Situation ohne Anwalt zu stellen.

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