Steve Sheppard und seine Frau nahmen ihren Neffen Sam Reese Sheppard – genannt „Chip“ – bei sich auf und zogen ihn groß, nachdem seine Mutter ermordet und sein Vater zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt worden waren. Er verbrachte eine normale Kindheit, wenn man von dem Stigma absieht, dass viele Leute mit dem Finger auf ihn zeigten und tuschelten: „Das ist der Sohn des Arztes, der seine Frau getötet hat.“
„Chip“ hielt den Kontakt zu seinem Vater als Jugendlicher aufrecht. Beide schrieben sich regelmäßig Briefe und er besuchte seinen Vater im Gefängnis, so oft er konnte. Das Umfeld empfahl ihm, seinen Geburtsnamen abzulegen und eine neue Identität anzunehmen. „Chip“ wollte davon nichts wissen.
Als Sam Sheppard 1964 auf freien Fuß kam, besuchte der Sohn gerade die Culver Militärakademie. Kurze Zeit lebten beide wieder vereint unter einem Dach. F. Lee Bailey unterbreitete den Vorschlag, dass sich „Chip“ an der Boston University einschreiben sollte. Von da an wohnte Sheppards Sohn bei der Familie des Anwalts.
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Sam Reese „Chip“ Sheppard
Schlüsselerlebnis
Nach dem Tod seines Vaters 1970 verdrängte Sam Sheppard Jr. lange Zeit die Geschehnisse aus seiner Kindheit. Er lebte in der Großstadt Boston in relativer Anonymität und war dort als Zahntechniker tätig. Erst Mitte der 1980er Jahre wurde er wieder mit seinem Kindheitstrauma konfrontiert. Auslöser war die Berichterstattung über eine bevorstehende Hinrichtung in Texas. Die Kinder des zum Tode verurteilten Mörders standen in stummem Protest vor den Mauern der Haftanstalt und warteten auf den Vollzug des Urteils.
Sheppard war hin und her gerissen. Einerseits hatte er seine Mutter durch ein Gewaltverbrechen verloren. Er hatte am eigenen Leib erlebt, welche traumatischen Folgen eine solche Tat für die Angehörigen hatte. Andererseits konnte er sich in die Kinder des texanischen Mörders hineinversetzen. Denn im ungünstigsten Fall hätte seinen Vater ein ähnliches Schicksal ereilen können.
Er begann, sich in einer Gruppe von Mordopferfamilien zu engagieren, die sich gegen die Todesstrafe aussprach. 1989 trat er erstmals öffentlich bei einer Kundgebung in Albany auf. Kurz darauf sprach er auf einer Veranstaltung in seiner Heimatstadt Cleveland. Er machte Andeutungen, dass es neue Hinweise gebe, wer seine Mutter ermordet habe. Er nannte keinen Namen. Doch wer die lokalen Medien verfolgt hatte, wusste, von wem die Rede war: Richard Eberling.
Gefälschtes Testament
Der einstige Fensterputzer und Gelegenheitsdieb hatte seit den 1950er Jahren eine bemerkenswerte Entwicklung genommen. Ende der 1980er Jahre lebte Eberling in einem Anwesen mit 27 Zimmern, das vollgestopft mit wertvollen Kunstwerken war, inmitten von Clevelands Villenvorort Lakewood. Eberlings Leben in Wohlstand bedeutete aber nicht, dass er mit seiner kriminellen Vergangenheit gebrochen hatte.
1987 meldete sich eine Frau namens Patricia Bogar bei der Polizei von Lakewood. Sie beschuldigte Richard Eberling und einen Mann namens O.B. Henderson der Testamentsfälschung. Eberling hatte als häuslicher Betreuer für Ethel Durkin gearbeitet, der eigentlichen Besitzerin der Villa in Lakewood. Nach ihrem Tod im Januar 1984 war er überraschend als Haupterbe eingesetzt worden. Durkin hinterließ ihrem „liebsten Richard, einem Gentleman, der für mich der Sohn war, den ich mir immer gewünscht habe“, immerhin 70 % ihres auf 1,5 Mio. US-Dollar geschätzten Vermögens.
Bogar gab zudem zu, Eberling bei einer Reihe von Hausbeinbrüchen unterstützt zu haben. Unter den Objekten sei auch ihr eigenes Haus gewesen. Das Ganze war für Täter und vermeintliche Opfer gleichermaßen vorteilhaft gewesen. Eberling konnte die gestohlenen Gegenstände verhökern, die Hausbesitzer kassierten die Versicherungssumme. Die Polizei wollte von Bogar wissen, warum sie Eberling nun ans Messer liefere. Er sei ihr bis heute den versprochenen Anteil aus dem Dunkin-Erbe schuldig geblieben, lautete die Antwort von Bogar.
Fingierter Unfall
Die Beamten gingen den Vorwürfen nach. Auf dem fraglichen Testament war das Ehepaar Beverly und Dale Scheidler als Zeugen angegeben. Als die Polizisten Beverly Scheidler am Lügendetektor anschlossen, brach die Frau zusammen. Sie gestand nicht nur ein, dass sie und ihr Mann Mitwisser des Testament-Schwindels waren. Eberling und sein Komplize Henderson seien obendrein verantwortlich für den Tod von Witwe Durkin gewesen.
Durkin kam durch einen Treppensturz zu Tode, den die Behörden ursprünglich als Unfall werteten. Auf eine Autopsie des Leichnams verzichtete man. Diese Obduktion holte man nun infolge der Aussagen des Ehepaars Scheidlers nach. Der Gerichtsmediziner entdeckte an der exhumierten Leiche tatsächlich mehrere Verletzungen und gelangte zu dem Schluss, dass die Witwe gewaltsam zu Tode gekommen war. Im Juli 1989 wurden Eberling und Henderson wegen des Mordes an Ethel Durkin zu lebenslanger Haft verurteilt.
Der Mann, der sich nach eigener Aussage zwei Tage vor dem Mord an Marilyn Sheppard in deren Haus aufhielt, war also jetzt ein verurteilter Mörder. Doch dies führte zunächst nicht dazu, dass die Behörden seine Rolle im 35 Jahre zurückliegenden Kriminalfall genauer unter die Lupe nahmen, wie Sam Sheppard Jr. verbittert feststellen musste. Einige Wochen nach seiner Rede in Cleveland erhielt der Sheppard-Sohn jedoch überraschend Post aus einem Gefängnis in Ohio. Absender war Richard Eberling. Der Brief begann mit den Worten : „Sam, ja, ich kenne die ganze Geschichte …“
Wie es wirklich war
Es folgte zunächst ein reger Briefwechsel, in dessen Verlauf Eberling Insiderwissen preisgab, wie zum Beispiel ein sehr genauer Grundriss des Sheppard-Hauses. Schließlich besuchte Sam Sheppard den Häftling im Gefängnis und sprach persönlich mit ihm. Im Laufe der nächsten fünf Jahre trafen sich die beiden rund ein dutzend Mal. Eberling erzählte, „wie es wirklich war“. Es war eine erstaunliche Geschichte.
Laut Eberling habe er sich am Morgen des 2. Juli im Haus der Sheppards aufgehalten, um die Fenster zu putzen. Marilyn Sheppard habe ihn eingeladen, mit der Familie in der Küche zu frühstücken. Fünf Minuten später sei Spencer Houk mit einem Paket Fleisch aus seiner Metzgerei hereingekommen, habe das Päckchen im Kühlschrank verstaut und das Haus nach einem kurzen Gespräch wieder verlassen. Auch Sam Sheppard sei unmittelbar danach aufgebrochen.
Während Eberling die Fenster putzte, habe er dann eine laute Frauenstimme aus dem Innern des Hauses vernommen. Esther Houk habe geschrien: „Wenn du ihn nicht in Ruhe lässt, bringe ich dich um!“ Marilyn Sheppard sei dann mit Esther Houk nach unten gekommen und habe ihr eine Tasse Tee zubereitet. Später habe ihm Marilyn Sheppard erzählt, dass Esther Houk Tabletten genommen und getrunken hatte. Ansonsten sei sie eine wirklich nette Person.
Später am Tag bereitete Marilyn Sheppard Eberling ein Mittagsmahl. Sie habe sich bei dieser Gelegenheit über ihren Mann beschwert, der viel zu viel arbeite. Esther Houk sei am Morgen so verärgert gewesen, weil sie Spencer am Morgen in das Haus von Sheppard verschwinden sah. Sie habe verlangt, dass die ständigen Fleischlieferungen endlich aufhören müssten. Am Nachmittag dieses Tages habe er sich in einen Finger geschnitten, so Eberling. Mit der tropfenden Wunde sei er in den Keller gegangen, um die Wunde auszuwaschen.
Beziehungswirrwarr
Dann äußerte sich Eberling zum Mord und dessen vermeintlichen Hintergründen. Spencer Houk sei eigentlich schwul gewesen und Sam Sheppard bisexuell. Esther habe gedacht, ihr Mann hätte eine Affäre mit Marilyn Sheppard. Doch in Wahrheit sei er der Liebhaber von Sam Sheppard gewesen.
Spencer Houk habe sich in der Tatnacht in das Haus der Sheppards geschlichen, nachdem die Aherns verschwunden waren. Er habe Sam Sheppard sehen wollen. Doch seine Frau habe sein Verschwinden bemerkt und sei ihm gefolgt. Als er das dunkle Sheppard-Haus betreten habe, fühlte sie sich in ihrem Verdacht bestätigt und vermutete ihren Mann im Bett mit Marilyn Sheppard. Sie sei ins Schlafzimmer gestürmt und habe auf die schlafende Marilyn Sheppard mit einem gusseisernen Waffel-Eisen aus ihrer Küche eingeschlagen.
Erst als Esther Houk die Treppe heruntergekommen sei, hätten Sam Sheppard und Spencer Houk ihre Anwesenheit bemerkt. Sie gestand den Männern, was sie getan hatte. Dann habe sich Sam Sheppard von den Houks überreden lassen, das Verbrechen zu vertuschen. Man habe die Tatwaffe verschwinden lassen und Esther Houks Kleidung im Kamin verbrannt. (Auf dieses Detail spielte offenbar auch Baileys Frage im zweiten Verfahren an). Anschließend habe man einen Einbruch vorgetäuscht, um den Mord zu erklären.
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Esther Houk 1954
Delikatessen
Sam Sheppard Jr. wollte von Eberling wissen, wie er an die Informationen über das Tatgeschehen gelangt sei. Zum einen habe er in den Tagen nach dem Mord die Fenster bei Richard Sheppard geputzt, so Eberling. Bei dieser Gelegenheit habe er auch dessen Bruder Sam Sheppard getroffen und ihm kondoliert. Zudem habe er ihm von Esther Houks Morddrohung zwei Tage vor der Tat erzählt. Sam habe ihm darauf erwidert, er soll die Geschichte auf sich beruhen lassen. Er habe diese Bemerkung so aufgefasst, dass er sein Wissen weder der Polizei noch anderen Personen preisgeben sollte. Daran habe er sich in all den Jahren auch gehalten.
Außerdem behauptete Eberling, dass er Sam Sheppard noch kurz vor seinem Tod – entweder 1969 oder 1970 – über den Weg gelaufen sei. Sheppard habe ihn in ein Feinkostgeschäft eingeladen, wo sich die beiden etwa 40 Minuten unterhalten hätten. Bei dieser Gelegenheit habe ihm Sheppard alle Details zur Tat verraten.
So weit Eberlings Version der Ereignisse. Aber war an dieser Geschichte überhaupt etwas dran? Sam Sheppard Jr. hatte zumindest Probleme, Eberlings Behauptung Glauben zu schenken, sein Vater sei homosexuell gewesen. Andererseits enthielt seine Darstellung Antworten auf offene Fragen, die nie ausreichend geklärt worden waren. Zum Beispiel, warum Houk so lange gezögert hatte, seinen Vater in Gewahrsam zu nehmen. Und in all den Jahren waren in Cleveland niemals die Gerüchte verstummt, die den Houks eine direkte Tatbeteiligung unterstellten.
Sam Sheppard Jr. zog für sich den Schluss, dass Eberling nicht in allen Details die Wahrheit gesagt hatte. Vielleicht waren ihm einzelne Punkte unbekannt, möglicherweise log er auch. Aber es ließ sich ebenso wenig pauschal ausschließen, dass zumindest Teile seines Geständnisses auf Fakten beruhen könnten. Sheppard überlegte sich zwei mögliche Szenarien, die auf Eberlings Einlassungen beruhten.
Szenario 1
Spencer Houk und seine Mutter unterhalten ein intimes Verhältnis. Sie haben ein Signal vereinbart – z.B. eine Leuchte im Fenster –, wenn die Luft im Hause Sheppard rein ist. In der Tatnacht denkt Houk fälschlicherweise, solch ein Signal erblickt zu haben, und schleicht sich hinüber ins Nachbarhaus. Er ahnt nicht, dass Sheppard auf dem Sofa schläft.
Als Houk die überraschte Marilyn Sheppard weckt, schreit diese erschrocken auf. Unten im Haus hört Houk plötzlich Sam Sheppard. Der Liebhaber gerät in Panik, schlägt zunächst Marilyn Sheppard mit einer Taschenlampe nieder und dann den heraufstürmenden Ehemann.
Houk flüchtet anschließend in Sichtung Strand, wo er von Sam Sheppard eingeholt wird. Houk kann seinen Verfolger erneut niederstrecken und lässt ihn am Ufer liegen. Als sein Nachbar ihn am Morgen anruft, ist Houk zwar erstaunt, dass Sheppard noch lebt. Er tut aber so, als habe er keine Ahnung, was passiert ist.
Szenario 2
Houk schleicht sich in der Tatnacht in Marilyn Sheppards Schlafzimmer. Seine Frau Esther folgt ihm. Sie ist bewaffnet. Esther Houk stürmt in den Raum. Sie schlägt in rasender Eifersucht auf Marilyn Sheppard ein, die um Hilfe schreit. Sam Sheppard eilt seiner Frau zu Hilfe. Houk schlägt ihn nieder.
Die Houks nehmen Sheppard die Uhr, den Ring und die Schlüssel ab, um einen Einbruch vorzutäuschen. Esther Houk, eine Raucherin, ist nervös, raucht und wirft ihre Zigarette in die Toilette, ohne nachzudenken. Als Sam Sheppard wieder zu sich kommt, sieht er Esther Houk nicht und jagt stattdessen Spencer nach.
Sam Sheppard wog beide Szenarien gegeneinander ab und überlegte, welche Ereignisfolge wahrscheinlicher war. Sein Fazit: weder noch. Es gab seiner Meinung nach in diesem Fall einen aussichtsreicheren Tatverdächtigen: Richard Eberling selbst.
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