(2) Gefährliche Liebschaft

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Trotz der offensichtlichen Verdachtsmomente, die insbesondere Samuel Gerber und die Mordermittler der Polizei von Cleveland gegen Sam Sheppard hegten, kam es vorläufig zu keiner Verhaftung. Offensichtlich sträubten sich Bürgermeister Houk und Polizeichef Eaton hartnäckig gegen die Festnahme ihres Freundes. Ob sie bloß aus reiner Kumpanei handelten, lässt sich rückblickend nicht mehr klären.

Hinhaltetaktik

Am Dienstag nach dem Tatwochenende trug man Marilyn Sheppard zu Grabe. Ihr Mann wurde in einem Rollstuhl mit einer orthopädischen Halskrause zur Beerdigung gefahren. Während der Grabrede weinte er. Weiteren Vernehmungen hatte Sheppards behandelnder Arzt – sein Bruder Steve – vorläufig einen Riegel vorgeschoben. Er verwies auf den Gesundheitszustand seines Bruders. Er sei derzeit nicht in der Lage, Fragen zu beantworten.

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Sam Sheppard mit Halskrause

Coroner Gerber beschwerte sich bei der Presse über das Verhalten: „Wir haben volle Kooperation von der Familie erwartet. Aber die scheinen wir nicht zu bekommen. Stattdessen haben wir einen wichtigen Zeugen, der von einer Familie abgeschirmt wird, die aus lauter Ärzten besteht.“ Der stellvertretende Bezirksstaatsanwalt John Mahon erklärte: „In meiner 23-jährigen Berufspraxis habe ich noch nie so eine eklatante Hinhaltetaktik bei Angehörigen eines Mordopfers beobachtet.“

Sheppard wollte der negativen Presse etwas entgegensetzen. Zunächst gab er einer Nachrichtensendung ein exklusives Interview. Dann lobte er eine Belohnung in Höhe von 10.000 $ für Informationen aus der Bevölkerung aus, die zur Ergreifung des Täters führten. Dies setzte die Behörden insofern unter Druck, als dass sie jetzt auch anderen Spuren nachgehen mussten, die sich aus den Hunderten von Hinweisen ergaben, die nun eingingen. Aber alle Personen, die man infolgedessen festnahm, ließ die Polizei kurz darauf wieder laufen.

Der Druck steigt

Schließlich erlaubte Rechtsanwalt Corrigan den Ermittlern, seinen Klienten im Krankenhaus und ohne die Anwesenheit seines Rechtsbeistands zu befragen. Die Sitzung dauerte neun Stunden. Dass Corrigan dieser Vernehmung fernblieb, ist zumindest sehr ungewöhnlich, wenn nicht sogar fahrlässig gegenüber seinem Mandanten gewesen. Erst jetzt, rund eine Woche nach der Tat, versiegelte die Polizei im Übrigen das Sheppard-Heim, sodass niemand mehr in das Haus gelangen konnte, außer den befugten Personen.

Die Beamten aus Cleveland drängten ihre Kollegen aus Bay Village weiterhin, Sheppard „zwecks eingehender Vernehmung“ zu verhaften. Es ging ihnen dabei weniger darum, dass endlich die Handschellen klickten. Noch lagen ihnen offenbar nicht genügend Beweise vor, die einen Haftbefehl hätten rechtfertigen können. Doch die Ermittler spekulierten auf einen schnellen Erfolg durch ein Geständnis. Die Polizei hätte Sheppard nach der damaligen Gesetzeslage 72 Stunden ohne Haftbefehl festsetzen können. Es waren schon ganz andere Typen zusammengebrochen, wenn sie solch einem Dauerverhör ausgesetzt waren.

Auch die Medien erhöhten den Druck auf die handelnden Personen. Ein Leitartikel in der „Cleveland Press“ vom 16. Juli kritisierte die Sturheit der Behörden von Bay Village. Man ließe dem Ehemann des Mordopfers einen höchst ungewöhnlichen Schutz angedeihen: „Jeder weitere Moment des Zauderns hilft einem Mörder, zu entkommen.“

Am 21. Juli legte die „Cleveland Press“ mit einem weiteren Leitartikel auf Seite eins nach: „Warum wird keine amtliche Untersuchung des Todesfalls eröffnet? Weshalb zögern Sie, Dr. Gerber?“ Der Angesprochene meldete sich noch am selben Nachmittag zu Wort und kündigte an, die amtliche Untersuchung (im Englischen: Inquest) umgehend durchzuführen.

Inquest

Solch ein Inquest ist kein wirkliches Gerichtsverfahren. Der Staatsanwalt (oder im Fall des Inquest der Coroner) präsentieren einem Auditorium, das in der Regel aus Schöffen besteht, die bisherigen Indizien. Dabei beschränken sie sich vornehmlich auf Befragungen von Rechtsmedizinern, Ermittlungsbeamten und sonstigen Zeugen. Das Auditorium entscheidet dann darüber, ob genügend Verdachtsmomente vorliegen, die eine weitere Ermittlung rechtfertigen. Die Verteidigung darf sich in diesem Verfahren nicht äußern.

Gerber richtete die Veranstaltung im Gebäude einer Grundschule in Bay Village aus. Eine weitere Besonderheit des Inquest ist, dass die Untersuchung öffentlich ist. Jeder interessierte Bürger hatte also Zutritt, alle Aussagen wurden protokolliert und in der Presse publiziert. Umso erstaunlicher mutet der Umstand an, dass Sheppard bereit war, eine Aussage zu machen.

Es war zu diesem Zeitpunkt für jeden offensichtlich, dass er als Hauptverdächtiger in dem Mordfall galt. Er hätte vor diesem Hintergrund die Aussage mit einem Verweis auf den fünften Zusatzartikel der Verfassung verweigern können. Er tat es nicht. Warum Corrigan seinen Mandanten erneut solch einem Risiko aussetzte, blieb sein Geheimnis.

Coroner Gerber rief zunächst die Ehepaare Ahern und Houk in den Zeugenstand. Dann folgten mehrere ermittelnde Polizeibeamte und schließlich Sam Sheppard. Er erzählte nochmals seine Version der Ereignisse und wurde anschließend eingehend von Gerber befragt. Zwei seiner Antworten sollten ihn noch bis in die Hauptverhandlung verfolgen – und weit darüber hinaus.

In die Falle getappt

Sheppard äußerte unter anderem, dass er und Marilyn niemals über Scheidung gesprochen hätten – zumindest „nicht ernsthaft“. Außerdem leugnete er, jemals eine sexuelle Beziehung mit Susan Hayes unterhalten zu haben. Gleichzeitig gab er zu, dass er Hayes kürzlich auf einer Reise nach Los Angeles getroffen habe.

Diese Aussagen waren verheerend. Denn noch am selben Nachmittag verkündeten die Zeitungen in großen Schlagzeilen: „Susan Hayes gibt Affäre zu!“ Ein großes Bild zeigte die Zeugin neben dem Mordermittler Schottke, wie sie am Flughafen Los Angeles gerade einen Flieger betrat, der sie nach Cleveland bringen sollte. Gerber wusste zum Zeitpunkt der Befragung natürlich über diesen Coup bereits Bescheid. Er hatte Sheppard eine Falle gestellt, und dieser war bereitwillig hineingetappt.

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Susan Hayes

Vom heilen Familienidyll war nun in den Medien nicht mehr die Rede. Denn Susan Hayes gab den Reportern bereitwillig Auskunft. Sie erzählte, dass die Liebesaffäre drei Jahre zuvor begonnen hatte. Sie berichtete von Verabredungen in seinem Auto, in Räumlichkeiten nahe der Sheppard-Klinik und einem letzten tête-à-tête in Los Angeles.

Damit war Sheppard praktisch erledigt. Er war beim Lügen ertappt worden. Er hatte seine Frau betrogen. Und er hatte möglicherweise ein konkretes Motiv für den Mord. Wollte er seine schwangere Frau verlassen? Oder wusste Marilyn von dem Betrug und verlangte ihrerseits die Trennung? „Warum verhört ihr nicht endlich den Hauptverdächtigen?“, fragte die „Cleveland Press“ in großen Lettern auf ihrer Titelseite und schob nach: „Holt ihn endlich ab!“

Verhaftung

Am. 29. Juli stellte die Staatsanwaltschaft den Behörden von Bay Village ein Ultimatum. Wenn sie Sheppard nicht sofort verhaften sollten, würde sich die Polizei von Cleveland von dem Fall zurückziehen. Houk konnte keinen Widerstand mehr leisten. Er lag krank im Bett danieder. Der Druck war zu groß geworden für den ehrenamtlichen Bürgermeister, der im Hauptberuf eine Metzgerei betrieb. Zudem war er inzwischen Zeuge in dem Ermittlungsverfahren und musste sich aus der Entscheidung heraushalten.

Am selben Abend verhaftete die Polizei Sam Sheppard im Haus seines Vaters. Der Garten war hell erleuchtet. Presse und Fernsehen hatten ihre Scheinwerfer ausgerichtet. Jede Menge Kameras, die Vater Sheppard vergeblich aus seinem Garten vertreiben wollte, dokumentierten die Verhaftung. Das Geschehen lockte viele Schaulustige aus der Nachbarschaft an.

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Sam Sheppard verhaftet

Während sie zusahen, führten mehrere Beamte Sam Sheppard in Handschellen an ihnen vorbei. Er trug immer noch seine Halskrause. Die Polizisten schoben ihn auf die Rückbank eines Streifenwagens und fuhren mit ihm zum Rathaus von Bay Village. Dort wurde er offiziell des Mordes an seiner Ehefrau beschuldigt. „Die Presse hat anscheinend ihren Willen bekommen“, sagte er, als man ihn wieder in ein Polizeiauto steckte. Anschließend brachte man Sheppard ins Bezirksgefängnis.

Rechtsanwalt Corrigan tauchte um 0:45 Uhr vor dem Gefängnis auf, wurde aber nicht eingelassen. „Nach 19:00 Uhr dürfen sich hier keine Anwälte mehr aufhalten“, erklärte ihm ein Hilfssheriff. Corrigan gab verbittert zu Protokoll: „Ich musste feststellen, dass jeder bis auf mich von den Behörden benachrichtigt worden ist: Zeitungen, Radio, Fernsehen und die Öffentlichkeit. Sie waren dabei, als die Festnahme erfolgte – nur sein Anwalt sollte die Veranstaltung wohl nicht stören.“

Nun konnte die Polizei den Verdächtigen endlich einer „intensiven Befragung“ unterziehen, die sie schon seit längerem im Sinn hatte. Vier Teams von Beamten wechselten sich in 12-Stunden-Schichten ab und verhörten Sheppard nonstop: „Stunde um Stunde schrieen sie mich an, beschuldigten mich, beschimpften mich und Mitglieder meiner Familie. Sie versuchten mich auszutricksen, indem sie mich mit angeblichen Fakten konfrontierten, von denen sie wussten, dass sie nicht stimmten. Ich sagte immer und immer wieder: Ich habe meine Frau nicht getötet. Nach drei Tagen gaben sie auf.“

Anklageerhebung

Am 16. August kam Sam Sheppard gegen eine Kaution von 50.000 $ vorläufig auf freien Fuß. Am selben Tag trat die Grand Jury zusammen. Das Schöffengericht musste entscheiden, ob die Ermittlungsergebnisse ausreichten, um Anklage gegen Sam Sheppard zu erheben. Bürgermeister Houk berichete von einer Unterhaltung, in der Marilyn Sheppard ihren Mann als „Jekyll und Hyde“ bezeichnete. Susan Hayes beschrieb den Geschworenen ihre Affäre mit dem Verdächtigen. Einer der ermittelnden Polizeibeamten führte aus, es gebe Beweise, dass Sam Sheppard die Scheidung verlangt und seine Frau ihm diese verweigert habe.

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Sam Sheppard (zweiter von links) wird nach Kautionsstellung von seinem Bruder Richard (Mitte) abgeholt

Am 17. August entschied die Grand Jury, dass Sam Sheppard wegen vorsätzlichen Mordes angeklagt werden sollte. Die Polizei verhaftete Sheppard erneut. Angesichts der Anklage und der drohenden Strafe war eine Entlassung auf Kaution unmöglich.

Der Staat Ohio erhob umgehend Mordanklage gegen Dr. Sam Sheppard. Den Vorsitz über den Prozess hatte der 70-jährige Edward J. Blythin. Seine erste Amtshandlung: Er musste sich überlegen, wie er mit dem riesigen Medienandrang umgehen sollte, der sich im Vorfeld des Verfahrens abzeichnete.

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Richter Edward Blythin

Er entschied sich dazu, einen Tisch für die Lokalpresse hinter der Schranke aufstellen zu lassen, welche traditionell die Richterbank von Staatsanwaltschaft, Verteidigung und Zuschauern trennte. Viele der Besucherplätze in dem kleinen Gerichtssaal ließ er für die Vertreter der auswärtigen Medien reservieren. Ein angrenzender Raum sollte den Radioreportern dienen.

Vertreter der Anklage war Bezirksstaatsanwalt John Mahon, der von seinen Assistenten Saul Danaceau und Thomas Parrino unterstützt wurde. Verteidiger Corrigan wurde von Fred Garmone assistiert. Zudem entsandte die Familie Sheppard ihren Rechtsbeistand Arthur Petersilge.

Überraschung

Noch vor Prozessbeginn ereignete sich eine überraschende Wendung in dem Fall. Die Polizei verhaftete Bürgermeister Spencer Houk und brachte ihn ins Polizeipräsidium nach Cleveland. Laut der Behörden wollte man ihn „als Verdächtigen im Mordfall Marilyn Sheppard vernehmen“.

Es stellte sich heraus, dass Steve Sheppard der Polizei neue Hinweise gegeben und Houk dabei offensichtlich angeschwärzt hatte. Nach vier Stunden Befragung ließ die Polizei Houk aber wieder gehen. Der Prozess gegen Dr. Sheppard würde also stattfinden. Doch damit war Fleischer Houk noch lange nicht vom Haken, wie die kommenden Jahre zeigen sollten.

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