(2) Was ist mit ihnen geschehen?

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Die Gabarre war ohne sichtbare Schäden geblieben und nicht gekentert (Foto). Die Vorräte waren noch nahezu vollständig und unversehrt. Auch die Mäntel und Wanderstiefel des Paares befanden sich noch an Bord, dazu das Tagebuch von Bessie Hyde, die Fotokamera von Glen Hyde sowie eine Schusswaffe.

Der Boden stand ungefähr knöcheltief unter Wasser. Die Schleppleine des Boots lag im Fluss und hatte sich irgendwo verheddert. Die Männer schnitten das Seil durch. Am Bootsrand waren 42 Kerben eingeritzt – eine Kerbe für jeden Reisetag.

Das bedeutete, dass die Hydes vermutlich bis zum 30. November (= 42. Reisetag) oder 1. Dezember 1928 auf dem Boot verblieben waren. Doch in der unmittelbaren Umgebung fanden sich keine Fußspuren, die vom Ufer wegführten.

Letzter Tagebucheintrag

Bessie Hydes Tagebuch war zu entnehmen, dass die Hydes letztmals am Diamond Creek kampiert hatten. Der Schlusseintrag stammte vom 30. November. Zu diesem Zeitpunkt hatte das Paar gerade eine Stromschnelle bei Flussmeile 231 passiert.

Das Tagebuch bestand nicht aus ausführlichen Reisebeschreibungen, sondern aus knappen Notizen, wie aus dem unten gezeigten Beispiel ersichtlich ist. Typisch waren zum Beispiel auch die verwendeten Symbole (I/O). Die Zeichen beschrieben schwierige Passagen, Hindernisse und geeignete Fahrtrouten.

In den folgenden Tagen dehnte man die Suche auf die Uferbereiche stromaufwärts aus, die im Tagebuch als letzte Stationen der Reise vermerkt waren. Doch es fanden sich keinerlei Hinweise auf den Verbleib des Paares. Rollin Hyde kehrte zwar nochmals im darauffolgenden Winter in den Grand Canyon zurück, um nach seinem Sohn und seiner Schwiegertochter zu suchen – aber erneut vergeblich.

Es meldete sich lediglich ein Zeuge, der beobachtet hatte, wie eine braune Lederjacke im Colorado River trieb. Wie die Fotos bewiesen, hatte Bessie Hyde während des Trips häufig eine Pilotenjacke aus Leder getragen. Doch das Kleidungsstück konnte nie geborgen werden. Es blieb also unklar, ob es eine Verbindung zu den Vermissten gab.

Keine Leichen

Viele Historiker, Rafting-Guides und auch die Polizei nahmen an, dass Glen und Bessie Hyde einem Bootsunglück zum Opfer gefallen waren. Das Boot war zwar weder gekentert noch zerstört. Dennoch war nicht auszuschließen, dass die Hydes mit einem Felsen kollidiert und ins Wasser gefallen waren.

Der Colorado River war breit, verfügte an einigen Stellen über eine reißende Strömung und dürfte im November schon sehr kalt gewesen sein. In der Regel sinkt die Temperatur im Grand Canyon in dieser Jahreszeit bereits unter null Grad. Allerdings waren nie Leichen an Land gespült worden. Doch zu den Unfallrekonstruktionen später noch mehr.

Ein tödlicher Streit?

Denn es gab auch noch andere Mutmaßungen, die nach dem spurlosen Verschwinden der Hydes kursierten. Eine Theorie besagt, das Paar habe sich auf der anstrengenden Fahrt über den Colorado River zunehmend zerstritten. Bessie Hyde habe es mit der Angst zu tun bekommen, während Glen Hyde auf eine Fortsetzung der Tour pochte.

Er habe sie bedroht, vielleicht auch geschlagen, als sie aussteigen wollte. Irgendwann habe sich Bessie Hyde die Waffe geschnappt und ihren Mann erschossen. Dann sei sie zu Fuß aus dem Grand Canyon verschwunden, um unter anderer Identität ein neues Leben zu beginnen.

Ja, es gab die Zeugenaussage des Fotografen Emery Kolb, der das Gefühl hatte, dass Bessie Hyde nicht gerade glücklich wirkte. Und es ist vorstellbar, dass die extremen Bedingungen, mit denen das Paar zu kämpfen hatte, eine ganz eigene Dynamik entwickeln können.

Doch Emery Kolb war den Hydes nur kurz begegnet. Alle Leute, die Glen Hyde und seine Frau näher kannten, zeichneten ein völlig anderes Bild von dem Mann und der Beziehung. Glen Hyde neigte nicht zu Wutausbrüchen. Die beiden harmonierten ausgesprochen gut miteinander. Letztlich fehlte auch jedes Indiz, das ein solches Szenario glaubhafter gemacht hätte.

Ein rachsüchtiger Ex-Mann?

Eine andere Theorie lautete: Es gab ein Problem mit dem Boot. Die beiden beschlossen, die Tour abzubrechen und zu Fuß aus dem Grand Canyon zu entkommen. Dabei verirrten sie sich und verstarben irgendwo in den Wäldern. Aber auch in diesem Fall fanden sich nie Spuren, die diese Theorie untermauern konnten.

Bessie Hydes Bruder behauptete, ihr Ex-Mann Earl Helmick sei gewalttätig gewesen und habe sich an seiner Schwester rächen wollen. Deshalb mutmaßte er, Helmick habe etwas mit dem Verschwinden des Paares zu tun. Helmick heiratete 1930 erneut und weigerte sich bis zu seinem Lebensende, über seine Ex-Frau zu sprechen.

Die offensichtliche Frage lautete natürlich: Warum sollte er sich für seine Rache ausgerechnet den kaum zugänglichen Grand Canyon ausgesucht haben? Und wie sollte er gewusst haben, wann genau die Hydes an seinem Hinterhalt vorbeikamen? Spuren eines größeren Lagers waren schließlich nicht gefunden worden. Und ohne dieses Lager hätte er kaum mehrere Tage in dieser Wildnis überlebt.

Die Frau am Lagerfeuer

Im Laufe der folgenden Jahrzehnte erzählte man sich die Geschichte über das rätselhafte Verschwinden des Ehepaares Hyde an vielen Lagerfeuern im Grand Canyon. So auch im Jahre 1971. Eine Touristen-Gruppe hatte tagsüber eine Frau namens Elizabeth Arnold Cutler getroffen, die alleine auf dem Fluss unterwegs war. Sie luden sie am Abend in ihr Camp ein.

Als der Tour-Guide die Story von Bessie und Glen Hyde zum Besten gab, meldete sich plötzlich Elizabeth Cutler zu Wort. Sie sei in Wahrheit die verschollene Ehefrau. Sie habe Glen Hyde 1928 im Streit niedergestochen. Dann sei sie geflohen und habe ein neues Leben begonnen. Bedrücktes Schweigen im Wald. Meinte die Frau das ernst?

Scheinbar nicht. Denn sobald die Geschichte erst einmal die Runde machte, stritt Elizabeth Cutler ab, dass an ihrer Erzählung etwas dran sei. Cutler war Psychologin und stand in dem Ruf, ihre Mitmenschen ab und an schon mal aufs Glatteis zu führen.

Zudem war sie laut Geburtsschein am 2. Dezember 1908 in Pomeroy (Ohio) geboren worden. Sie hätte also nicht nur ihren vermeintlichen Mann, sondern auch die echte Elizabeth Cutler töten und deren Angehörigen über ihre wahre Identität täuschen müssen. Das klang doch alles eher unwahrscheinlich. Cutler lebte noch bis 1998.

Ein Skelett im Bootshaus

1976 verstarb der Fotograf Emery Kolb. Als die Erben sein Foto-Atelier am Grand Canyon räumten, machten sie eine gruselige Entdeckung im Bootshaus. Dort fanden sie in einem Kanu das vollständige Skelett einer männlichen Leiche. Der Schädel wies eine Schusswunde auf.

Emery Kolb war eine der letzten Personen, die Glen und Bessie Hyde lebend gesehen hatten. Alsbald schossen die Vermutungen ins Kraut. Hatte sich der Fotograf in die attraktive Bessie Hyde verguckt? Hatte er deshalb ihren Mann getötet? Hatte er sich dem Suchtrupp nur angeschlossen, um Spuren zu verwischen?

Aber warum hatte er 12 Tage mit dem Mord gewartet, wenn ihn die Begierde angeblich derart übermannt hatte? Weshalb schleppte er die Leiche von Glen Hyde 150 Meilen durch unwegsames Gelände den Colorado hinauf? Wieso lagerte er sie obendrein auch noch in seinem Bootshaus, wo sie jederzeit hätte entdeckt werden können? Und was war überhaupt mit Bessie Hyde geschehen?

Alle diese Fragen waren spätestens 1985 obsolet. Da untersuchte die University of Arizona nämlich die Knochen im Labor. Die Wissenschaftler kamen zu dem Schluss, dass Glen Hyde nicht der Tote im Kanu gewesen sein konnte. Zum einen war das Opfer nicht älter als 22 Jahre, als es starb. Hyde war bei seinem Verschwinden 30. Zum anderen war der Mann im Bootshaus frühestens seit 1972 tot.

Das beantwortet natürlich noch nicht die Frage, warum Emery Kolb die sterblichen Überreste eines Mordopfers auf seinem Grundstück aufbewahrte. Aber ich weiß leider nicht, ob man jemals klären konnte, um wen es sich bei dem Toten handelte und was geschehen war.

Georgie White

1992 flammten erneut Gerüchte auf, Bessie Hyde könne den Grand Canyon-Trip überlebt haben. Damals starb die bekannte Bootsführerin Georgie White Clark, die als erste Frau touristische Rafting-Touren im Grand Canyon angeboten hatte. In ihrem Nachlass fanden sich mehrere interessante Dinge.

Ihrer Geburtsurkunde war zum Beispiel zu entnehmen, dass ihr Taufname Bessie DeRoss gelautet hatte. Ausgerechnet Bessie. Ihre Freunde hatten nie gehört, dass sie jemand bei diesem Namen gerufen hatte. Hatte Georgie White ein Vorleben, von dem niemand etwas ahnte?

Dann fischten die Freunde auch noch den Hochzeitsschein von Bessie und Glen Hyde aus Georgie Whites Unterlagen. Wie sollte sie an dieses Schriftstück gekommen sein, wenn sie nicht selber die Braut gewesen war? Und zwischen ihrer Unterwäsche versteckte die jüngst Verstorbene eine Pistole. Hatte sie ihren Mann also doch getötet, wie es die alte Legende besagte, und ein neues Leben im Grand Canyon begonnen?

Die Lebensgeschichte von Georgie White – einschließlich ihrer Kindheit – war jedoch bestens dokumentiert. Sie war 1911 in Oklahoma zur Welt gekommen, hatte bereits mit 17 Jahren geheiratet und ein Kind bekommen. Mit anderen Worten: An den Spekulationen, dass sie die verschollene Bessie Hyde gewesen sei, war nichts dran.

Die Probe aufs Exempel

Damit blieb die wahrscheinlichste Lösung für das Rätsel um das verschwundene Ehepaar Hyde: Sie waren mit ihrem Boot verunglückt. Die vermutlich überzeugendste Rekonstruktion des möglichen Unfallgeschehens lieferte der Buchautor Brad Dimock.

Er stellte nicht nur umfassende Recherchen für sein Buch an. Er war selber mehrere Jahrzehnte als Bootsführer über den Colorado River geschippert und kannte jede Stromschnelle höchstpersönlich. Dann wagte er das ultimative Experiment.

Er baute die Gabarre, welche die Hydes benutzt hatten, nochmals nach. Gemeinsam mit seiner Frau wiederholte er die Reise des verschollenen Ehepaars und richtete sich dabei nach den Beschreibungen in Bessie Hydes Tagebuch.

Blaue Flecken und Abschürfungen

Er bekam eine Vorstellung davon, welcher Herausforderung sich die beiden Abenteurer damals gestellt hatten. Jedes Mal, wenn das Boot in eine mächtige Welle geriet, riss es ihm das Steuerruder aus der Hand. Das Ruder schlug dabei wild herum „wie die Rotorblätter eines Hubschraubers“.

Seine Frau und er kauerten sich im Verlauf des Trips immer häufiger auf den Boden der Gabarre, um die Ruder mit ihrem gesamten Körpergewicht festzuhalten und so unter Kontrolle zu bekommen. Am Ende der Reise waren ihre Körper mit blauen Flecken und Hautabschürfungen übersät.

Zudem trugen die Dimocks Schutzhelme und Rettungswesten, worauf die Hydes bekanntlich verzichteten. Sie verfügten noch nicht mal über die heute übliche Funktionskleidung, die vor Wasser, Kälte und Wind schützt. Den Hydes standen nur Textilien aus Wolle und Leder zur Verfügung.

Killer Fang Falls

Brad Dimock – und auch andere Historiker wie Otis Marston – kamen zu der Überzeugung, dass sich der tragische Unfall wahrscheinlich auf Höhe von Strommeile 232 zugetragen hatte. Heute nennt man diese Stromschnelle Killer Fang Falls. 1928 war die Stelle aber noch nicht in den Flusskarten dokumentiert und als besonderer Gefahrenpunkt gekennzeichnet.

In dem verlinkten Video bekommen Sie einen Eindruck, wie die Gegebenheiten vor Ort sind. Sie finden bei YouTube etc. auch noch andere Filme, welche die Befahrung dieser Stelle zeigen. Das Video habe ich ausgewählt, weil es zeigt, was im schlimmsten Fall passieren kann. Das blaue Boot wird durch die Strömung auf die rechte Flussseite gedrückt, wo zahlreiche Felsen aus dem Wasser heraus- oder in das Wasser hineinkragen, kommt in Schieflage und kentert fast.

Dimock vermutet, dass genau dies den Hydes passiert ist. Die schwer steuerbare Gabarre rammte einen der Felsen und das Ehepaar fiel aus dem Boot. Vielleicht ging auch nur einer der beiden über Bord und der andere Partner sprang hinterher, um ihn zu retten. Oder das Boot fuhr sich in den Felsen fest, die Hydes hopsten ins Wasser, um es zu befreien, verloren aber in der starken Strömung den Halt.

Bessie und Glen Hydes Verschwinden ist inzwischen nicht mehr Teil einer offiziellen Ermittlung. Rafting-Touren über den Colorado River gibt es nach wie vor. Und wer schneller vorankommen will, bucht eine Tour auf einem motorisierten Boot. Der Colorado ist aufgrund einiger zivilisatorischer Eingriffe (Bau des Hoover Dam und Glen Canyon Dam) nicht mehr in Gänze der wilde Fluss, der er noch zu Lebzeiten von Glen und Bessie Hyde war (auf Teilstücken aber nach wie vor). Doch die beeindruckende Landschaft des Grand Canyon hat sich ihren unvergleichlichen Charakter auch heute noch erhalten.

*****

Bücher

 

Brad Dimock: „Sunk Without a Sound: The Tragic Colorado River Honeymoon of Glen and Bessie Hyde“.

Lisa Michaels: “Grand Ambition”

Auch die Autorin Lisa Michaels hat die Geschichte von Bessie und Glen Hyde recherchiert. Doch im Gegensatz zu Dimock hat sie den Stoff nicht als Sachbuch niedergeschrieben, sondern als fiktionalen Roman.

 

Weitere Kapitel zum Fall Bessie & Glen Hyde 

3 Kommentare

  1. Danke für diesen Artikel! Bin mittlerweile schon ein richtiger Fan von True-Crime-Story!

    Haben Sie eine Erklärung gefunden, warum Georgie White die Hochzeitsurkunde der Hydes hatte? Denn das ist doch tatsächlich merkwürdig. Die einzige Erklärung die mir einfiele wäre, dass die Hydes die Urkunde mithatten und Georgie White sie irgendwo fand.
    Allerdings glaube ich nicht, dass man seine Heiratsurkunde mitnimmt. Und wenn sie die Urkunde gefunden hätte, dann wäre diese doch sicher in keinem guten Zustand mehr gewesen, oder?

    Ansonsten frage ich mich, wie man an die Heiratsurkunde von wildfremden Menschen kommt.

    • Hallo Kathrin,

      dieses Detail war in mehreren Quellen erwähnt, aber jeweils ohne Erklärung. Ich kann da also nur spekulieren:

      a) Die Freunde, die Georgie Whites Nachlass durchsucht haben, haben sich einen „Scherz“ erlaubt. Und die Medien sind darauf reingefallen. Die Story über Glen & Bessie Hyde ist in den USA ziemlich bekannt. Da kribbelt es vielleicht dem einen oder anderen in den Fingern, so etwas in die Welt zu setzen.

      b) Gerade unter den Leuten, die am und im Grand Canyon arbeiten, war die Geschichte eine Art Mythos. Georgie White wird vermutlich noch etliche Zeitzeugen, die dem Ehepaar 1928 begegnet sind, persönlich gekannt haben. Es ist denkbar, dass sie nach einer Art „Souvenir“ Ausschau gehalten hat. Vielleicht hat sie jemanden getroffen, der sich beim Standesamt in Idaho eine Kopie der Hochzeitsurkunde besorgt hat. Oder sie hat das selber organisiert.

      Prinzipiell ist es ja möglich, sich von jeder toten Person solche Dokumente zu besorgen. In Deutschland beträgt die Schutzfrist für Eheregister allerdings 70 Jahre (nach Hochzeit). Keine Ahnung, wie das in den USA aussieht. Kommt noch hinzu, dass ich mir als direkter Verwandter jederzeit, ohne jegliche Schutzfrist, die Hochzeitsurkunde meiner Eltern, Großeltern, Urgroßeltern etc. beim zuständigen Standesamt besorgen kann. Heutzutage sogar schon online. Und bisher hat mich noch keine Behörde nach irgendeiner Art von „Abstammungsnachweis“ gefragt. Will meinen: Wenn Georgie White (oder wer auch immer) dem Standesbeamten eine plausible Geschichte aufgetischt hat, wird sie auch an die Urkunde rangekommen sein 😉

      Herzliche Grüße
      Richard Deis

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