(4) Die einzige Gewissheit

0

Die Theorien und Spekulationen über das Verschwinden von Dorothy Arnold waren mannigfaltig. Manch einer spekulierte, dass die junge Frau auf einem vereisten Gehweg ausgerutscht sei. Sie sei dabei auf den Kopf gestürzt, was einen Gedächtnisverlust ausgelöst habe. Im Krankenhaus sei sie dann ohne Erinnerung an ihren Namen aufgewacht.

Für diese Theorie existierte jedoch kein stichhaltiger Anhaltspunkt. Denn John S. Keith und die Pinkerton-Detektive hatten jede Klinik in New York und Umgebung überprüft. Keine der zum fraglichen Zeitpunkt eingelieferten Frauen litt unter einer solchen Amnesie.

Andere Beobachter mutmaßen, Dorothy Arnold sei betäubt und entführt worden. Auch dieser Tathergang war eher unwahrscheinlich. Sie wurde letztmals auf einer sehr belebten Straße im hellen Tageslicht gesehen. Eine Entführung wäre Zeugen mit ziemlicher Sicherheit aufgefallen. Außerdem hatte es keinerlei Lösegeldforderungen gegeben, abgesehen von den beiden gefälschten Schreiben, die erst nach der Pressekonferenz auftauchten, also mehr als sechs Wochen nach dem Verschwinden.

Selbstmord?

Der ehemalige Geliebte George Griscom äußerte hingegen den Verdacht, dass Dorothy Arnold möglicherweise Selbstmord begangen habe. Sie sei wegen ihres Scheiterns als Schriftstellerin sehr deprimiert gewesen. Nach der zweiten Absage vom McClure‘s Magazine habe sie ihm einen Brief geschrieben, indem sie ihre Enttäuschung zum Ausdruck gebracht und einen Selbstmord angedeutet habe.

Griscom zitierte das Schreiben wie folgt: »Also, sie haben es mir zurückgeschickt. McClure‘s hat mich abgelehnt. Ein weiteres Mal. Wenn ich in den Spiegel schaue, starrt mir die Erfolglosigkeit ins Gesicht. Ich sehe eine lange Straße vor mir. Eine Straße ohne jeden Abzweig. Mutter wird denken, es sei ein Unfall geschehen.«

Dorothy Arnold
Dorothy Arnold

Auch einige von Arnolds Familienangehörigen glaubten an einen Freitod. Doch sie hatten dafür einen anderen Grund im Verdacht. Nicht ihr mangelnder Erfolg als Autorin sei die Ursache gewesen, sondern die gescheiterte Beziehung zu »Junior« Griscom.

Fahndung eingestellt

Im Februar 1911 erhielt Francis Arnold eine Postkarte, die in New York City abgestempelt war. Sie enthielt die knappe Botschaft: »Mir geht es gut.« Die Karte war mit »Dorothy« unterschrieben. Die Handschrift entsprach der von Dorothy Arnold. Doch ihr Vater war überzeugt, dass sich jemand nur einen bösen Scherz erlaubt und das Schriftbild gefälscht hatte. Die Zeitungen hatten Proben ihrer Handschrift veröffentlicht.

Kurz darauf verkündete die New Yorker Polizei, dass sie die Fahndungsmaßnahmen nach der verschwundenen Millionenerbin abbrechen würden. In 75 Tagen war kein einziger konkreter Hinweis auf den Verbleib des Mädchens aufgetaucht. Aus Polizeisicht war noch entscheidender, dass bisher keinerlei Indiz für ein Verbrechen vorlag. Die Behörden behandelten die Angelegenheit Dorothy Arnold von nun an wie jeden anderen Vermisstenfall.

Die Spur zur illegalen Abtreibungsklinik

Erst 1916 kam nochmals Bewegung in den Fall. Es hatte bereits zuvor Gerüchte gegeben, dass Dorothy Arnold möglicherweise schwanger gewesen sei und deshalb eine Abtreibungsklinik aufgesucht habe, um ihrer Familie die Schande eines unehelichen Kindes zu ersparen. Bei diesem damals noch gefährlichen und illegalen Eingriff sei sie dann verstorben. Anfang April 1916 erhielten diese Gerüchte neue Nahrung.

In Bellevue (Pennsylvania) war eine illegale Abtreibungsklinik aufgeflogen, die von einem Dr. C.C. Meredith betrieben wurde. Dr. H.E. Lutz, einer der Ärzte, die in der Klinik gearbeitet hatten, erhob schwere Anschuldigungen gegenüber dem Betreiber. Lutz sagte vor dem Staatsanwalt aus, dass Dr. Meredith ihm gegenüber zugegeben habe, mehrere junge Frauen seien infolge von Komplikationen nach dem Eingriff verstorben – darunter auch Dorothy Arnold.

Dr. Lutz behauptete, dass die Leiche von Dorothy wie die der anderen Frauen im Heizungskessel der Klinik verbrannt worden sei. Der zuständige Bezirksstaatsanwalt hielt die Aussage für plausibel. Francis Arnold war anderer Ansicht. Er wertete die Geschichte als »lächerlich und absolut unwahr«.

Es stellte sich bei dieser Gelegenheit heraus, dass in der Vergangenheit bereits eine andere Spur nach Pittsburgh geführt hatte. Der Anwalt der Familie John S. Keith hatte zwei Monate nach dem Verschwinden von Dorothy Arnold einen Tipp von einem befreundeten Anwalt in Pittsburgh erhalten, dass sich die Gesuchte dort in einem Sanatorium aufhalte. Keith hatte die Klinik daraufhin aufgesucht, aber bei der fraglichen Frau handelte es sich nicht um Dorothy Arnold.

Die Geschichte von Edward Glennoris

Im April 1916 meldete sich zudem ein gewisser Edward Glennoris bei den Behörden. Glennoris war zu einer mehrjährigen Haftstrafe wegen versuchter Erpressung verurteilt worden, die er in Rhode Island absaß.

Glennoris behauptete nun, 250 Dollar erhalten zu haben, um den Leichnam von Dorothy Arnold im Dezember 1910 verschwinden zu lassen. Ein Bekannter, den er nur unter dem Namen »Little Louie« kenne, habe ihn ursprünglich für einen Fahrerjob angeheuert. Er habe eine Frau von New Rochelle nach West Point bringen sollen.

Als er am Treffpunkt in New Rochelle eingetroffen sei, hätten dort neben »Little Louis« ein gut gekleideter Herr und ein Typ, den die anderen nur den »Doc« nannten, auf ihn gewartet. Die Beschreibung, die Glennoris von dem wohlhabenden Mann in feinem Anzug abgab, ähnelte George Griscom.

Die Männer hätten eine bewusstlose Frau zu seinem Wagen geschafft. Sie hätten ihn dann angewiesen, zu einem Haus nach Weehawken in New Jersey zu fahren. Während der Fahrt habe ihm »Little Louie« erzählt, dass die junge Frau Dorothy Arnold heiße.

Glennoris wollte Dorothy auch anhand der Fotos, die die Zeitungen abdruckten, wiedererkannt haben. Außerdem beschrieb er detailliert einen Siegelring, den die junge Frau am linken Zeigefinger getragen habe. Die Beschreibung traf exakt auf ein Schmuckstück zu, das Dorothy Arnold tatsächlich besessen hatte.

Am nächsten Tag habe »Little Louie« ihn erneut kontaktiert, so Glennoris, um »den Job zu Ende zu bringen«. In Weehawken habe der »Doc« die Männer unterrichtet, dass die Frau während einer Operation verstorben sei. Glennoris und Little Louie hätten den Leichnam dann zurück zu dem Haus nach New Rochelle geschafft. Die Leiche hätten sie in ein Laken eingewickelt und im Keller vergraben.

Die Polizei ging der Geschichte zwar nach und durchsuchte mehrere Kellerräume in der Gegend, die Glennoris beschrieben hatte. Doch es fanden sich keine menschlichen Überreste.

Ein ungelöstes Rätsel

Die angeblichen Sichtungen von Dorothy Arnold rissen auch in den folgenden Jahren nicht ab. Das rätselhafte Verschwinden der Frau ließ die Leute nicht los. Die Arnolds erhielten zahlreiche Briefe von Frauen, die behaupteten, die gesuchte Tochter zu sein. Alle Spuren entpuppten sich jedoch als Sackgasse.

Captain John H. Ayers von der Vermisstenabteilung der New Yorker Polizei heizte 1921 nochmals kurzfristig das öffentliche Interesse an dem Fall an. Im Rahmen einer Lesung behauptete er, dass die Behörden seit geraumer Zeit über das Schicksal von Dorothy Arnold Aufschluss hätten.

Ayers weigerte sich jedoch, diese Bemerkung auf Nachfrage genauer auszuführen. Er verriet auch nicht, ob die Behörden annahmen, dass Arnold noch lebte oder tot war. Am nächsten Tag behauptete Ayers, er sei falsch zitiert worden. Er leugnete nun, dass der Polizei konkrete Erkenntnisse über das Schicksal der Vermissten bekannt seien.

Die einzige Gewissheit

Francis Arnold hatte im Laufe der Jahre etwa 250.000 Dollar für die Suche nach seiner verschwundenen Tochter ausgegeben. Bis zu seinem Tod am 6. April 1922 beharrte er auf seinem Standpunkt, dass Dorothy Arnold gekidnappt und ermordet worden sei. Er war davon so sehr überzeugt, dass er sie nicht einmal mehr in seinem Testament berücksichtigt hatte. Seine Frau Mary, die sechs Jahre später verstarb, war anderer Meinung. Sie äußerte bis zuletzt die Hoffnung, dass ihre Tochter noch lebe.

Es gab in diesem Fall nur eine Gewissheit. Dorothy Arnold hatte am Vormittag des 12. Dezember 1910 gut gelaunt ihr Elternhaus verlassen und sich auf einen Einkaufsbummel begeben. Und dann hatte sie sich in einer der belebtesten Straßen der Welt von einer Minute auf die andere in Luft aufgelöst.

Dorothy Arnold
Dorothy Arnold

Die Akten zu dem Vermisstenfall Dorothy Arnold sind schon lange geschlossen. Mit einer Klärung ihres Verschwindens rechnet nach über hundert Jahren inzwischen niemand mehr.

* * * * *

 

 

Weitere Kapitel zum Fall Dorothy Arnold 

Kommentieren Sie den Artikel

Bitte geben Sie Ihren Kommentar ein!
Bitte geben Sie hier Ihren Namen ein