Dorothy Arnold – die verschwundene Millionenerbin

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An einem eiskalten Dezembertag verschwindet die 24-jährige Millionenerbin Dorothy Arnold mitten in New York an einer der belebtesten Straßenecken der Welt. Was steckt dahinter? Eine Entführung? Selbstmord? Eine heimliche und fehlgeschlagene Abtreibung? Oder Flucht mit dem Liebhaber? Gerüchte gibt es viele, konkrete Spuren bis heute keine.

Dorothy Arnold
Dorothy Arnold

Eine Lady verschwindet

Gegen elf Uhr am Morgen des 12. Dezember 1910 verabschiedete sich Dorothy Arnold von ihrer Mutter. Sie sagte ihr, dass sie sich ein Kleid für den anstehenden Debütantinnenball ihrer jüngeren Schwester Marjorie kaufen wolle. Ihre Mutter bot ihr an, sie zu begleiten. Doch Dorothy lehnte das Angebot ab. Stattdessen versprach sie, anzurufen, falls sie ein passendes Kleid gefunden habe.

An dem Verhalten war nichts Ungewöhnliches, denn Mary Arnold, die Mutter, war bei schlechter Gesundheit. Als Dorothy Arnold das Haus verließ, hatte sie vermutlich nicht mehr als 25 Dollar eingesteckt. Sie trug zwar wegen der Minusgrade an diesem Tag einen großen Muff, doch darin hätte sie kaum die notwendigen Utensilien für eine etwaig geplante Flucht verstauen können.


Wo das Eckgebäude links steht, dürfte sich das Elternhaus von Dorothy Arnold befunden haben. Es hat heute allerdings die Adresse 895 Park Avenue. Dorothy ist an diesem Morgen vermutlich geradeaus die Park Avenue in südliche Richtung gelaufen. Rechts geht es zum Central Park.

 

Dorothy Arnold lebte noch im Haus ihrer Eltern 108 East 79th Street. Wo sie sich in den nächsten knapp drei Stunden aufhielt, konnte nie geklärt werden. Das nächste Mal sahen sie Zeugen um 13.45 Uhr in einem Geschäft namens »Park & Tilford« an der Ecke Fifth Avenue und 27th Street, das sich knapp fünf Kilometer entfernt von ihrem Elternhaus befand. Sie kaufte dort eine 250-Gramm-Packung Schokolade. Den Kaufbetrag ließ sie auf das Familienkonto anschreiben. Die Schachtel steckte sie in ihren Muff.

Danach kehrte sie in einem nahe gelegenen Buchladen der Kette »Brentano‘s« ein. Hier kaufte sie den Essayband »Engaged Girl Sketches« von Emily Calvin Blake. Beide Verkäufer, die Dorothy Arnold an diesem Mittag bedient hatten, sagten später aus, dass die junge Frau höflich gewesen sei und kein ungewöhnliches Verhalten gezeigt habe.

Vor dem Buchladen traf Dorothy Arnold zufällig auf ihre Freundin Gladys King. Die beiden unterhielten sich kurz über den bevorstehenden Debütantinnenball. Gladys King gewann den Eindruck, dass Dorothy Arnold guter Stimmung sei.

Nach ein paar Minuten Small Talk entschuldigte sich Gladys King. Inzwischen war es kurz vor zwei. Sie war mit ihrer Mutter um 14.00 Uhr im »Waldorf-Astoria« verabredet. Dorothy äußerte bei der Verabschiedung noch, dass sie durch den Central Park nach Hause zurückkehren wolle. Gladys King drehte sich nochmals um und winkte ihrer Freundin zum Abschied nach. Sie war die letzte Person, die Dorothy Arnold an diesem Nachmittag sah, als sie die 27th Street hinunterspazierte.


Die Kreuzung Fifth Avenue und 27th Street. Gladys Knight hat ihre Freundin zuletzt die 27th Street hinunterspazieren sehen, also ist Dorothy Arnold vermutlich nach rechts Richtung Madison Avenue gelaufen.

 

Keine weiteren Zeugen

Es ist nichts darüber bekannt, ob sich Dorothy Arnold zuvor nach einem Kleid umgeschaut hatte. Hatte sie ihre Mutter angelogen? War sie in den drei Stunden vor ihrem Erscheinen bei »Park & Tilford« anderweitig aufgehalten worden? Denn es war eher unwahrscheinlich, dass sich mögliche weitere Zeugen nicht bei der Polizei gemeldet hatten.

Zum einen dominierte der Vermisstenfall über Wochen hinweg die Schlagzeilen in New York. Zum anderen gehörten die Arnolds zur Oberschicht der Stadt. Dorothy Arnold war ein bekanntes Gesicht in Manhattan. Hätte sie sich in der Zeit zwischen 11.00 Uhr und 13.45 Uhr oder nach 14.00 Uhr in der Öffentlichkeit bewegt, wäre sie fast zwangsläufig Bekannten über den Weg gelaufen.

Außerdem war kaum anzunehmen, dass sie gleich nach der Verabschiedung von ihrer Freundin verschwunden war. Die Kreuzung Ecke Fifth Avenue und 27th Street gehörte auch an einem kalten Wintertag zu den belebtesten Straßenkreuzungen in New York. Jemand hätte etwas bemerken müssen.

Denkbar ist natürlich, dass ihr ein Täter im Central Park auflauerte, sofern sie diesen Weg tatsächlich eingeschlagen hatte. Doch der Central Park war 1910 noch weit davon entfernt, ein gefährlicher Ort zu sein, wie dies in späteren Jahrzehnten der Fall war. Außerdem war es um 14.00 Uhr noch taghell.

Möglicher Heimweg von Dorothy Arnold
Möglicher Heimweg von Dorothy Arnold. Sie kann für das letzte Stück Heimweg natürlich auch einen Schlenker durch den Central Park gemacht haben. (Zum Vergrößern auf Bild klicken)

Seltsames Verhalten der Eltern

Der Umstand, dass ihre Tochter nicht vom Einkaufsbummel zurückkehrte, bereitete ihren Eltern zunächst noch kein Kopfzerbrechen. Sie gingen davon aus, dass sie eine Freundin getroffen hatte und mit ihr den Nachmittag verbrachte. Erst als Dorothy Arnold das gemeinsame Abendessen mit der Familie verpasste, sorgten sich die Eltern. Diesen Termin versäumte ihre Tochter sonst nie.

Sie riefen zunächst Freunde von ihr an. Aber abgesehen von Gladys King hatte niemand sie an diesem Tag gesehen. Kurz nach Mitternacht meldete sich Elsie Henry, eine weitere Freundin von Dorothy, ihrerseits bei den Arnolds. Sie fragte nach, ob die Tochter inzwischen wohlbehalten zurückgekehrt sei. Dorothys Mutter bejahte die Frage. Als Elsie Henry bat, mit Dorothy sprechen zu dürfen, zögerte Mary Arnold. Sie erzählte der Freundin, dass Dorothy bereits zu Bett gegangen sei und über Kopfschmerzen geklagt habe.

Im Nachhinein wirkte das Verhalten der Mutter mindestens seltsam, wenn nicht gar verdächtig. Fast schon unglaublich mutet es an, dass die Familie Arnold sechs Wochen zögerte, bis sie die Polizei einschaltete. Es gab dafür vermutlich einen schwer nachvollziehbaren, aber nichtsdestotrotz plausiblen Grund.

Die oberen Zehntausend

Die Arnolds gehörten zu den oberen Zehntausend von New York. Solchen Familien ging ihr Leumund und soziales Prestige über alles. Die Arnolds sorgten sich also zunächst mehr um ihren Ruf als um das Leben ihrer verschwundenen Tochter.

Dorothys Vater Francis Rose Arnold war Absolvent der Universität von Harvard und Mitinhaber des Unternehmens F.R. Arnold & Co., das Geschenk- und Modeartikel wie etwa teure europäische Parfüms importierte. Arnolds Vorfahren ließen sich bis zu den Siedlern von der »Mayflower« zurückverfolgen. Seine Frau Mary Samuels stammte aus einer einflussreichen Familie im kanadischen Montreal. Dorothys Onkel Rufus Peckham, der Mann von Francis Arnolds Schwester, war Richter am Obersten Gerichtshof der USA.

Die Tochter Dorothy Harriet Camille Arnold wurde am 1. Juli 1886 in New York City als zweites von insgesamt vier Kindern des Paares geboren. Neben ihrer jüngeren Schwester Marjorie hatte sie noch zwei Brüder – John und Dan Hinckley.

Dorothy Arnold
Dorothy Arnold

Das Verhalten der Arnolds am 12. Dezember 1910 gab indirekt Aufschluss darüber, wie die engsten Angehörigen über das Verschwinden von Dorothy ursprünglich dachten. Der Gedanke, dass ihre Tochter einem Verbrechen zum Opfer gefallen war, kam ihnen wohl erst gar nicht. Man darf wohl annehmen, dass selbst die High Society von New York sich in diesem Fall sofort an die Polizei wenden würde.

Die Eltern hielten offensichtlich andere Gründe für ihr Verschwinden für wahrscheinlicher. Gründe, die einen Skandal provozieren konnten.

 

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