(2) Eine mörderische Kindheit

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Carroll Edward Cole wurde am 9. Mai 1938 in Sioux City (Iowa) geboren. Er war der zweite Sohn von LaVerne und Vesta Cole. Eine Schwester, die ein Jahr nach Carroll zur Welt kam, komplettierte die Familie Cole. Anfang der 1940er zogen die Coles nach Richmond in Kalifornien. Der Vater hoffte, einen Job auf einer der dortigen Werften zu ergattern. Der Zweite Weltkrieg warf seine Pläne über den Haufen. In den nächsten drei Jahren musste die Familie ohne LaVerne Cole auskommen. Carroll Cole sollte am meisten unter der Abwesenheit des Vaters zu leiden haben.

Eines Tages begleitete er seine Mutter in eine ihm völlig unbekannte Wohnung. Nach und nach trudelten dort mehrere Soldaten auf Heimaturlaub ein. Die Erwachsenen betranken sich. Dann zog sich Vesta Cole aus und schleppte die Männer ins Schlafzimmer, während Carroll draußen vor der Tür warten musste. Als sie nach Hause zurückgekehrt waren, verdrosch Vesta Cole ihren Sohn und drehte ihm den Arm auf den Rücken. Sie drohte ihm noch schlimmere Bestrafungen an, wenn er jemals ausplaudern würde, was er an diesem Nachmittag beobachtet hatte.

Vesta Coles Eskapaden dauerten während der Kriegsjahre an. Nach jedem Ausflug fielen die Bestrafungen von Carroll härter aus. Sobald der Vater aus dem Krieg heimkehrte, bedeutete dies zwar das Ende für Vesta Coles außereheliche Affären. Es hielt sie aber nicht davon ab, ihren Sohn Carroll wieder und wieder zu misshandeln.

Der Junge mit dem Mädchennamen

Wenn Carroll Cole gehofft hatte, in der Schule der Hölle seines Zuhauses zu entkommen, sah er sich schnell getäuscht. Die Mitschüler hänselten ihn wegen seines Mädchenvornamens. Als sie merkten, dass sie ihn damit treffen konnten, ritten sie immer weiter darauf herum. Die Folge war, dass Cole den Kontakt zu Gleichaltrigen scheute und sich mehr und mehr in seine eigene Welt zurückzog. Eine gefährliche und gewalttätige Welt.

Eines Tages hatte er sich zu Hause unter der Veranda versteckt. Er lockte den Welpen zu sich, den die Coles kürzlich angeschafft hatten, und spielte mit ihm herum. Dann verlor er vorübergehend das Bewusstsein. Als er aufwachte, lag der Hund tot neben ihm. Carroll Cole durchströmte ein Gefühl der Erleichterung. Er hatte ein Leben ausgelöscht. Er begann sich auszumalen, wie es wäre, wenn er seine Mutter tötete – so wie es ihm mit diesem Welpen gelungen war. Alle seine Probleme nähmen ein Ende. Bald gesellten sich in seiner Fantasiewelt andere Frauen zu seiner Mutter. Er könnte jede Frau töten, wenn er nur wollte.

Der erste Mord mit acht

Trotz seines ausgeprägten Frauenhasses war Coles erstes Mordopfer männlich. Der Junge – »ein Arschloch namens Duane«, wie Cole später äußerte – gehörte zu der Gruppe von Schülern, die Carroll permanent piesackten. Im Sommer 1946 begleiteten Carroll und Duane eine Gruppe älterer Jungs zu einem Badesee. Auf dem Weg dorthin triezte Duane erneut Cole: »Eh, Carroll, hast du auch deinen Bikini eingepackt?«

Am Badesee hielten sich Cole und Duane etwas abseits der übrigen Gruppe auf. Niemand konnte sie sehen. Als Duane ins Wasser sprang, witterte Cole seine Chance. Bevor Duane auftauchte, schlang Cole seine Beine um den Hals des Jungen. Er stützte sich mit den Händen am Ufersteg ab. Duane wehrte sich verzweifelt, hatte jedoch keine Chance. »Ich hielt ihn so lange unter Wasser, bis ich wusste, dass er tot war. Erst da ließ ich los. Das dämliche Arschloch sank sofort auf den Grund.« Duanes eiskalter Mörder war gerade einmal acht Jahre alt.

Keine Reue

Die Freunde, Duanes Familie und die Polizei, die den Fall untersuchte, gingen von einem tragischen Unfall aus. Niemand hatte Carroll Cole in Verdacht. Cole hingegen verbrachte die folgenden Monaten in ständiger Angst, doch noch aufzufliegen. »Ich fürchtete mich vor der Polizei, aber ich empfand nicht die geringste Reue wegen dem, was ich Duane angetan hatte. Ich hatte den Jungen gehasst. Und ich war stolz auf mich, dass ich ihm alle Schweinereien heimgezahlt hatte.«

»Ich hatte geglaubt, mein Leben würde sich dramatisch verbessern, weil ich meinen Peiniger beseitigt hatte. Nichts davon geschah. Ja, ich fühlte mich kurzfristig stark. Aber weder zu Hause noch in der Schule liefen die Dinge deswegen besser für mich. Überall, wo ich hinkam, kassierte ich weiterhin Schläge. Jeder hackte auf mir herum. In der Zeit war ich regelrecht besessen von dem Gedanken, mich für jede erlittene Demütigung zu rächen. Aber dann hatte ich Schiss, dass sie mich beim nächsten Mal erwischen könnten. Also blieb es bei der Fantasie. Ich hatte so eine Stinkwut und sie konnte nicht raus. Dafür wurde ich mit der Zeit hinterhältiger, verschlagener. Ich sann nach Möglichkeiten, wie ich mich an den anderen rächen konnte, ohne dass sie es mir anhängen konnten.«

Ein hochbegabter Säufer

Im Februar 1953 nahm Carroll Cole an einem Intelligenztest teil. Es stellte sich heraus, dass er einen IQ von 152 hatte. Der Junge war hochbegabt. In der Schule merkte man nichts davon. In den meisten Fächern stand er auf der Kippe. In seinem Kopf war kein Platz für Schulstoff. Sein ganzes Denken kreiste nur noch um Gewaltfantasien. Als er in die High School kam, entdeckte er den Alkohol für sich. Weil ihm das Geld für den Schnaps fehlte, überfiel er Schnapsläden. Das Saufen und die Überfälle verschafften ihm kurzzeitig ein Hochgefühl, das alle düsteren Gedanken vorübergehend betäubte. Bald brauchte er den Kick jeden Tag. Nachdem er mehrfach volltrunken im Unterricht erschienen war, flog Cole von der Schule.

Im Februar 1957 verpflichtete er sich als Zeitsoldat bei der Marine. Seine Gewohnheiten blieben dieselben. Er stahl und soff mehr denn je. Nach anderthalb Jahren war für ihn das Ende der Fahnenstange erreicht. Auch das Militär schmiss ihn raus. Dem Typen war nicht zu helfen. Er wusste nicht wohin und kehrte ausgerechnet zu seinen Eltern zurück. Sein Versagen bot der Mutter nur neue Angriffsflächen, ihn bei jeder Gelegenheit herunterzuputzen.

Sein Leben in den folgenden Jahren war geprägt von täglichen Saufexzessen, schlecht bezahlten Gelegenheitsjobs und wiederholten Festnahmen wegen geringfügiger Vergehen. Am 1. Juni 1960 schlich er sich an zwei Liebespaare heran, die sich an einem abgeschiedenen Plätzchen miteinander vergnügten. Cole drosch mit einem Hammer auf die jungen Leute ein, ohne dabei jemanden ernsthaft zu verletzen. Der Richter war dennoch der Meinung, dass es mit einer Nacht in der Arrestzelle nicht getan war. Wenn Cole unbedingt den Hammer schwingen wollte, konnte er das auch sinnvollerweise tun. In einem Steinbruch zum Beispiel. Cole bekam 30 Tage in einem Arbeitslager aufgebrummt.

Verzweifelter Hilferuf

Im Januar 1961 hielt Carroll Cole einen Streifenwagen auf offener Straße an. Er äußerte gegenüber den Beamten, dass er ein starkes Verlangen verspüre, eine Frau zu vergewaltigen und zu erdrosseln. Er wisse nicht, wie lange er diesen Drang noch unterdrücken könne, sofern ihm niemand helfe. Die Polizisten wussten nicht, wie sie mit dem geständigen Mörder in spe umgehen sollten. Der Mann war offensichtlich angetrunken. Meinte er das wirklich ernst? Wollte er sie auf den Arm nehmen? Und wenn er nun tatsächlich jemanden töten würde und sie hätten das nicht verhindert, obwohl die Möglichkeit bestand? Die Beamten telefonierten herum. Am Ende landete Cole in einer psychiatrischen Klinik, in der er 90 Tage zur Beobachtung bleiben sollte.

Die Psychiater waren unschlüssig, was sie von dem Patienten halten sollten. Der Mann war augenscheinlich ein sexuell gestörter Psychopath. Jemand, der potenziell gefährlich für andere war. Aber nach Meinung der Ärzte waren die Symptome nicht deutlich genug ausgeprägt, um Cole dauerhaft aus dem Verkehr zu ziehen. Der Typ knackte Autos und raubte Schnapsläden aus. So etwas machte ihn noch nicht zu einer ernsthaften Bedrohung für die Gesellschaft.

Fehlinformationen

Carroll Cole wollte Hilfe. Hätte er sie zu diesem Zeitpunkt bekommen, hätte eine Mordserie verhindert werden können. Doch Cole verschwieg den Psychiatern wichtige Details seiner Biografie. Zum Beispiel den Mord an Duane oder die permanenten Misshandlungen durch seine sadistische Mutter. Stattdessen behauptete er gegenüber den Ärzten, eine »glückliche Kindheit« verbracht zu haben, und lobte seine Eltern über den grünen Klee.

Mit den richtigen Informationen hätten die Psychiater den Fall möglicherweise anders eingeschätzt und gehandelt. So kamen sie zu dem Schluss, dass Cole geistig gesund sei und dementsprechend wieder in Freiheit gehöre. Sie empfahlen ihm, sich in Therapie zu begeben, was sich der Tagelöhner Cole finanziell natürlich nicht leisten konnte. Ein halbes Jahr später eröffnete sich jedoch eine andere Möglichkeit. Cole stand wegen Autodiebstahls vor Gericht und konnte den Richter überzeugen, eine Einweisung in das Atascadero State Hospital anzuordnen. In der forensischen Klinik, so hoffte Cole, würde man ihn quasi auf Staatskosten therapieren.

Atascadero State Hospital

Das Atascadero State Hospital war vorübergehende Heimstatt zahlreicher bekannter Krimineller. Wenige Jahre nach Carroll Cole saß hier beispielsweise der Serienmörder Edmund Kemper ein, nachdem er als 15-Jähriger seine Großeltern getötet hatte. Die Untersuchungen ergaben, dass Coles Sexualität tatsächlich schwerwiegend gestört war. Die bloße Anwesenheit von Frauen jagte dem Patienten bereits Angst ein. Cole begehrte sie zwar in sexuellem Sinne, aber ihm war es praktisch nicht möglich, mit ihnen in intimen Kontakt zu treten. Um dieses Problem zu lösen, malte er sich in seinen Fantasien aus, sie erst zu töten, bevor er mit ihnen schlief.

Trotz der beunruhigenden Analyse fühlte man sich im Atascadero State Hospital nicht zuständig. Solange Cole niemanden getötet hatte, war der Mann ein Problem, mit dem sich die Gesellschaft herumschlagen musste, nicht die staatlichen Behörden. Cole landete wieder bei seinen Eltern, die inzwischen auch nach einer Möglichkeit sannen, ihren missratenen Sprössling ein für alle Mal loszuwerden. Sein Vater kaufte ihm im Mai 1963 ein Busticket nach Dallas und schickte ihn auf Nimmerwiedersehen zu seinem älteren Bruder Richard. Vielleicht sorgte die Luftveränderung dafür, dass der Junge sein Leben auf die Reihe bekam. Wenn nicht, war er nicht länger das Problem der Coles.

Der Bruder gab Carroll Cole auf seine Weise Starthilfe in der fremden Stadt. Er zeigte ihm alle Schnapsspelunken von Dallas. Cole fand sich bald alleine zurecht. Am 5. Juli 1963 versuchte er erstmals, seine Fantasien in die Tat umzusetzen. In einem der Lokale hatte er im Suff eine Frau kennengelernt. Er scheiterte allerdings mit dem Versuch, sie anschließend auf dem Heimweg zu erwürgen. Cole schluckte daraufhin eine Monatsration Schlaftabletten. Man fand ihn rechtzeitig, um ihm den Magen auszupumpen.

Die erste Beziehung

Kurz nach seiner Entlassung aus der Klinik ging der sexuell gestörte Frauenhasser Carroll Cole seine erste richtige Beziehung mit einer Frau ein. Es war von Anfang an Anfang ein Bilderbuchbeziehung – wenn man das Lehrbuch für co-abhängige Suchtbeziehungen illustrieren wollte. Cole lernte Neville »Billy« Whitworth in einem Striplokal kennen, in dem sie als Tänzerin arbeitete. Billy war genauso durchgeknallt, labil und alkoholkrank wie Cole selbst.

Carroll Cole heiratete Billy im November 1963, kurz nachdem Präsident John F. Kennedy in Dallas einem Attentat zum Opfer fiel. Wie es der Zufall wollte, hieß Billys Arbeitgeber Jack Ruby. Der Barbesitzer mit Mafiaverbindungen, der den mutmaßlichen Kennedy-Attentäter Lee Harvey Oswald zwei Tage nach dessen Festnahme vor laufenden Fernsehkameras erschoss. Die Ehe war ähnlich chaotisch und gewalttätig wie Dallas im November 1963. Friede herrschte nur, wenn einer der beiden wegen Trunkenheit oder häuslicher Gewalt in einer Arrestzelle landete.

Im August 1965 hatte Cole Billy im Verdacht, dass sie ihn mit einem Soldaten in einem Motel betrog. Coles Kindheitstrauma meldete sich wieder. Er zog los und steckte den vermeintlichen Sündenpfuhl in Brand. Man ertappte ihn auf frischer Tat. Cole wanderte in den Bau, befand sich im Frühjahr 1967 aber bereits wieder auf freiem Fuß. Er verließ Billy und streunte ziellos in der Gegend herum. Im Mai 1967 beging er in Lake Ozark (Missouri) ein Verbrechen, das die Aufmerksamkeit von Detective Robinson erregt hatte: Carroll Cole überfiel ein 11-jähriges Mädchen im Schlaf.

Nächtlicher Überfall auf ein Kinderzimmer

Die Beziehung zu Billy hatte seinen Drang, eine Frau töten zu wollen, vorübergehend zurücktreten lassen. Die Ehe mit Billy bot genug Action und Gewalt. 1967 war Coles Dasein ein einziges Trümmerfeld. Die alten Gewaltfantasien flammten wieder auf. Cole hielt nach einem geeigneten Opfer Ausschau. Er rechnete bei dem 11-jährigen Mädchen mit wenig Widerstand, weshalb seine Wahl auf sie fiel. Er hatte vorgehabt, das Kind zu erwürgen, doch die Eltern schritten rechtzeitig ein. Cole bekannte sich vor Gericht schuldig und bewirkte dadurch ein milderes Strafmaß. Drei Jahre nach der Tat war er bereits wieder auf Bewährung draußen und zog zunächst nach Reno (Nevada) weiter.

In Nevada landete er nochmals in einer psychiatrischen Klinik. Der zuständige Arzt kam in seiner Diagnose zu einem ähnlichen Schluss wie seine Kollegen zuvor. Konkrete Folgen für Cole hatte das keine. Der Psychiater drückte Carroll Cole ein Busticket nach San Diego in die Hand. Sollte die tickende Zeitbombe doch in Coles Heimatstaat Kalifornien in die Luft gehen. Solange die Menschen in Nevada nicht betroffen waren, war es den dortigen Behörden egal, was Cole anrichtete.

Die Dämme brechen

Mittlerweile hatte Carroll Cole eingesehen, dass ihm niemand mit seinen Problemen helfen würde. Ab diesem Zeitpunkt gab er seine Versuche auf, um professionelle Hilfe zu bitten. Als er dem Arzt San Diego als Reiseziel vorgeschlagen hatte, war dies bereits Teil eines berechnenden Plans. »San Diego ist eine Grenzstadt«, äußerte Cole später dazu. »Da geht es wild zu und praktisch alles ist möglich. Außerdem war es in Kalifornien einfacher, an Sozialhilfe heranzukommen. Ich hatte dort eine Vergangenheit als Patient von psychiatrischen Anstalten. Solche Argumente benutzte ich immer, um die Sachbearbeiter einzuwickeln und die Stütze zu kassieren.«

Bisher hatte Carroll Cole mehrere Versuche unternommen, einen Menschen zu töten. Seit dem Sommer 1946 hatte er jedoch keinen weiteren Mord begangen. 25 Jahre später war es damit vorbei und Carroll Cole entwickelte sich zum Serienmörder. »Mein Drang zu töten, war ausgeprägter denn je. Der Unterschied zu früher war, dass mir meine Fantasien inzwischen kein Kopfzerbrechen mehr bereiteten. Ich sagte mir: Was soll‘s? Dein Leben ist eh schon im Arsch. Was willst du dir noch großartig versauen? Den anderen bist du sowieso scheißegal. Also, probier‘s einfach aus und schau mal, was dabei rumkommt.«

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