(4) Schlecht verteidigt

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Der „New York Daily Mirror“ bot Hauptmann an, ihm einen erfahrenen Prozessanwalt zu stellen und dessen Honorar zu übernehmen. Natürlich geschah dies aus Eigennutz. Für 25.000 US-Dollar – so viel verlangte der Anwalt – hatte sich das „New York Journal“ exklusiven Zugang zur Verteidigung erkauft. Das wird sich gerechnet haben, denn schließlich sprechen wir vom „Verbrechen des Jahrhunderts“, das nach wie vor gewaltiges öffentliches Interesse nach sich zog.

Ob Hauptmann mit dieser Abmachung gut beraten war, steht auf einem anderen Blatt. Nahezu alle Prozessbeobachter stimmten darin überein, dass der Angeklagte schlecht verteidigt wurde. Der Rechtsanwalt Edward J. Reilly mag in New York zwar damals eine bekannte Größe gewesen sein. Mit zunehmender Prozessdauer stellte sich aber die Frage, ob dieser Ruf auf seinen Fähigkeiten als Rechtsverteidiger gründete.

Edward J. Reilly

Reilly präsentierte sich den Geschworenen bei seinen Auftritten vor Gericht als eitler Gockel, der in gestreiften Hosen und Schwalbenschwanz-Frack vor ihnen auf und ab stolzierte. Zudem hatte der Anwalt wohl ein ernsthaftes Alkoholproblem. Die Mittagspause der Verhandlung nutzte er regelmäßig, um sich reichlich „Erfrischungen“ zuzuführen. Was dazu führte, dass er am Nachmittag dösend und lustlos dem Geschehen vor Gericht folgte. Abends gaben sich dann in seinem Hotelzimmer zahllose „Stenografinnen“ die Klinke in die Hand. Kurzum: Der Mann schien nicht im Geringsten auf seinen Job fokussiert zu sein.

Bei seiner Verteidigungsführung versuchte er mehrfach, die Geschworenen in die Irre zu führen. Er erfand vermeintliche Entlastungszeugen, die gar nicht existierten. Er nahm Zeugen der Anklage ins Kreuzverhör, bei denen dieses Vorgehen völlig sinnlos erschien. Und ließ im Gegenzug Beweise und Aussagen zu, bei denen kritische Nachfragen dringend angebracht gewesen wären.

Beispiel Fontanelle: Es war aus Sicht des Angeklagten völlig legitim, die Identität des aufgefundenen Babyleichnams aufgrund des widersprüchlichen pathologischen Befunds infrage zu stellen. Damit hätte zumindest der Anklagepunkt Mord erschüttert werden können. Doch Reilly akzeptierte unwidersprochen die Identität des Babys und ließ diese Chance verstreichen. Gleiches galt für die fragwürdige Durchführung der Autopsie.

Mit seinem Mandanten Richard Hauptmann konferierte Edward Reilly gerade einmal 15 Minuten während des Verfahrens. Und obwohl er bereits 25.000 Dollar Honorar von der Zeitung erhalten hatte, forderte er nach Prozessende weitere 25.000 von Hauptmanns Frau ein. Er entblödete sich sogar nicht, die Frau auf diesen Betrag später noch zu verklagen. Seine Begründung: Sie habe Spenden für die Gerichtskosten erhalten, auf die er ein Anrecht habe. Da stellt sich die Frage: Aufgrund welcher Leistung?

Hauptmann im Kreuzverhör

Denn das Team um den 38-jährigen Generalstaatsanwalt David Wilentz spielte vor Gericht schlichtweg die besseren Karten aus. Da waren zum einen die 14.600 Dollar in Goldzertifikaten aus dem Lösegeld, die Hauptmann in seiner Garage versteckt hatte. Reilly beging den Fehler, seinen Mandanten als Zeugen auftreten zu lassen. Wilentz ließ sich die Gelegenheit nicht entgehen und nahm den Angeklagten in einem 11-stündigen Kreuzverhör auseinander.

Hauptmanns Erklärung für das gefundene Geld: Er habe es in einem Schuhkarton gefunden, den sein Geschäftspartner Isidor Fisch zurückgelassen habe. Da Fisch ihm Geld schuldete, habe er sich berechtigt gefühlt, von diesem Betrag auch Rechnungen zu bezahlen. Dummerweise war Fisch bereits im März 1934 in Leipzig verstorben und konnte diese Geschichte nicht bestätigen. Außerdem konnte Hauptmann im Kreuzverhör nicht plausibel darlegen, wo er sich in der Nacht vom 1. auf den 2. März 1932 aufgehalten hatte.

Den zweiten Hauptvorwurf – der zur Leiter passende Holzsparren, den man auf Hauptmanns Dachboden gefunden hatte – wollte Anwalt Reilly damit entkräften, dass er der Polizei Verschwörung zu Lasten seines Klienten vorwarf. Die Ermittler hätten derart unter Druck gestanden, dass sie dieses Beweisstück im Haus seines Mandanten platziert hätten. Zugegeben: Im Fall O.J. Simpson hat eine ähnliche Argumentation 60 Jahre später verfangen. Aber Edward Reilly war nun mal nicht Eddie Cochran.

Indizienkette schließt sich

Drittens konnte die Staatsanwaltschaft eine Reihe von Graphologen präsentieren, die aussagten, dass die Handschriftenproben von Richard Hauptmann mit den Entführungsschreiben übereinstimmten. Darüber hinaus hatte der Verfasser der Schreiben einige Fehler begangen, wie sie für deutsche Muttersprachler typisch waren. Beispiel: Im ersten Erpresserbrief hieß es wörtlich „The child is in gut care“ = deutsch „gut“ statt englisch „good“. Reilly prahlte zwar, dass er zahlreiche Gutachter benennen könnte, welche die Analyse widerlegen würden. Am Ende erklärten sich aber nur zwei Experten zur Aussage bereit, die wiederum vor Gericht eine schwache Vorstellung boten.

Darüber hinaus traten mehrere Zeugen der Anklage auf, die Hauptmann im Vorfeld der Entführung in der Nähe des Lindbergh-Anwesens gesehen haben wollten, teilweise sogar in der Tatnacht samt mitgeführter Leiter, die er mit einem Wagen transportiert habe. Zudem bezeugte John Condon vor Gericht, dass es sich bei Hauptmann um den ominösen „Friedhofs-John“ handele. Und Lindbergh erkannte den Beschuldigten an seiner Stimme wieder.

Das Urteil

Nach 381 Beweisstücken, 162 Zeugen und 29 Verhandlungstagen oblag das Urteil den zwölf Geschworenen. Im ersten Anlauf entschieden sich nur sieben Mitglieder der Jury für einen Schuldspruch. Elfeinhalb Stunden später fiel die Entscheidung einstimmig aus. Richard Hauptmann wurde der Entführung und Ermordung von Charles Lindbergh Jr. schuldig gesprochen.

Richter Trenchard verhängte die Todesstrafe und beraumte als Vollstreckungstermin zunächst den 18. März 1935 an. Hauptmann legte jedoch Berufung ein. Das zuständige Gericht entschied schließlich, dass das Urteil rechtsgültig war. Die Hinrichtung wurde für den 3. April 1936 festgesetzt. Richard Hauptmann starb auf dem elektrischen Stuhl durch die Hände von Robert G. Elliott, der bereits Sacco und Vanzetti neun Jahre zuvor hingerichtet hatte.

Stimmungswechsel

Doch nach der Hinrichtung kamen immer mehr Fragen auf, ob Bruno Richard Hauptmann einen fairen Prozess erhalten hatte und ob es nicht weitere Mittäter gab. Hauptmann stritt bis zu seinem Ende ab, dass er an der Entführung beteiligt war. Dabei bot eine Zeitung ihm bzw. seiner Familie viel Geld für ein Geständnis.

Seine Witwe Anna Hauptmann beharrte in zahlreichen Interviews darauf, dass ihr Mann nicht in das Verbrechen verwickelt war. Sie strengte sogar mehrere Prozesse gegen den Staat New Jersey an, wegen ungerechtfertigter Tötung ihres Mannes. Sie blieb ihrer Meinung bis zu ihrem Tod 1994 treu – sie wurde stolze 95 Jahre alt. Je mehr Zeit verging, umso mehr wurde aber auch in der öffentlichen Wahrnehmung aus Hauptmann der Sündenbock in einem abgekarteten Spiel. Wie konnte es zu diesem Stimmungswechsel kommen?

Im Exil

Am 22. Dezember 1935, noch vor der Hinrichtung, verließ Charles Lindbergh mit seiner Familie die Vereinigten Staaten. Zunächst hatte es den Anschein, als flüchteten die Lindberghs nur vor dem nach wie vor anhaltenden Medienrummel. Charles Lindbergh galt bereits in seinen ruhmreichen Fliegerjahren als medienscheuer Mensch, der sich durch das plötzliche Medieninteresse völlig überfordert fühlte. Man kann sich ausmalen, wie der jahrelange Zirkus nach der Entführung und Ermordung seines Kindes auf ihn gewirkt haben mochte. Wahrscheinlich wie ein nicht enden wollender Albtraum.

Aber die Lindberghs kehrten zunächst nicht in die USA zurück, sondern verblieben längere Zeit im europäischen „Exil“. Sie waren für die Presse nicht mehr greifbar. Das ließ das Verhältnis der Amerikaner zu ihrem Nationalhelden abkühlen. Dann bandelte Lindbergh auch noch mit Hitler-Deutschland an. Er ließ sich von Hermann Göring eine Auszeichnung überreichen und lobte die deutsche Luftwaffe über den grünen Klee.

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Das Ehepaar Lindbergh auf Deutschland-Besuch, rechts Hermann Göring

America First

Nach Kriegsbeginn war Lindbergh einer der prominentesten Vertreter der sogenannten Isolationsbewegung. „America First“ hieß es auch schon damals. Ziel der Isolationisten war es, dass sich die USA aus dem Krieg zwischen Achsenmächten und Alliierten heraushielt. Mit dem japanischen Luftangriff auf den US-Stützpunkt in Pearl Harbor war die „Amerika zuerst“-Politik Geschichte.

Doch Lindberghs jahrelanges Trommeln für die Nazis hatte seinem Ruf enorm geschadet. Gerade für die jüngere Generation, die im Zweiten Weltkrieg an der Front gekämpft hatte, war er nicht länger der Nationalheld früherer Tage, sondern ein Verräter, der mit dem Feind sympathisierte. Es dauerte seine Zeit, bis Lindbergh wieder Fuß in den USA fassen und sich eine neue berufliche Existenz aufbauen konnte.

Er unterhielt im Übrigen auch nach dem Krieg noch enge Beziehungen nach Deutschland. Lindbergh führte u.a. mit zwei Schwestern, die in München lebten, ein außereheliches Verhältnis, aus dem insgesamt fünf Kinder hervorgingen, wie eine DNA-Analyse im Jahre 2003 bewies.

Diese Umstände wirkten sich auch auf die Wahrnehmung der Lindbergh-Entführung aus. Plötzlich erschienen Bücher, die nachzuweisen versuchten, dass in Wahrheit der kalte, unpatriotische „Herrenmensch“ Lindbergh sein Kind ermordet habe. Und Hauptmann sei nur das unschuldige Opfer einer Vertuschung geworden.

Ungeklärte Fragen

Aber nicht jede Neudeutung des Falls ging so extrem vor. Die Polizei hatte Richard Hauptmann schließlich mit der Hand im Honigtopf erwischt, wie es im Englischen so treffend heißt. Die 14.600 Dollar aus dem Lösegeld, die er in seiner Garage versteckt hatte, ließen sich nicht wegdiskutieren. Aber es blieben auch wichtige Fragen im Prozess unbeantwortet.

Woher wusste Hauptmann, wo sich das Kinderzimmer befand? Wie hatte er von den geänderten Plänen der Familie Lindbergh am Montag, dem 1. März 1932, erfahren? Wer war der mysteriöse „J.J. Faulkner“, der eine Adresse hinterließ, unter der zwanzig Jahre zuvor eine Frau namens Jane Faulkner lebte? Reiner Zufall? Oder hatte der Einzahler zur gleichen Zeit in der Nachbarschaft der Frau gewohnt? Dann konnte es nicht Hauptmann gewesen sein. Denn der hielt sich 1913 nachweislich noch nicht in den USA auf.

Mit anderen Worten: Es ist kaum vorstellbar, dass Bruno Richard Hauptmann nicht in die Lindbergh-Entführung verstrickt war. Aber gleichzeitig fällt es schwer, zu glauben, dass er dieses Verbrechen ganz ohne Hilfe durchgeführt haben soll. Und vor diesem Hintergrund ist es verständlich, dass bis heute Menschen nach Antworten suchen.

*****

Die British Pathé hat rund 15 Minuten Original-Filmmaterial aus den 1930-er Jahren über den Lindbergh-Fall veröffentlicht. Das Newsmaterial zeigt die entscheidenden Personen, wichtige Schauplätze des Entführungsfalls und Eindrücke aus dem Prozessgeschehen. Der Kommentar ist zwar in Englisch. Aber mit dem Vorwissen aus dem Artikel lässt sich leicht nachvollziehen, welche Person, welcher Schauplatz etc. gerade gezeigt wird. Die beiden Filme können Sie sich auf dem offiziellen Account der British Pathé bei YouTube anschauen. Hier die Links:

Film 1

Film 2

5 Kommentare

  1. Wieder einmal ein klasse Artikel! Habe mich sehr gefreut als ich gesehen habe, dass Sie zwei neue Geschichten veröffentlicht haben. Weiter so!

  2. Guter Artikel und schöne zusammenhänge Darstellung!
    2 Anmerkungen: Lindbergh hat nicht für die Nazis getrommelt, er hat die Stärke der Deutschen erkannt, insbesondere der Luftwaffe, als der ganze Westen noch im appeasement befangen war. Und er wusste, das, wenn die USA in den Krieg eintreten, es ein Weltkrieg mit ungewissen, in jedem Fall aber unvorstellbarem leid werden würde, und dieser Krieg dann wahrscheinlich den Russen die Vorhand in Europa geben würde.
    Und zweitens. Nachdem der Eintritt der USA nicht zu verhindern war, hat er sehr wohl mitgekämpft und ist Kampfeinsätze im Pazifik geflogen.

  3. In der ganzen Geschichte hab es genau 5 fatale Fehler. 1: Hätte Lindbergh selbst nicht das Kommando übernommen, sondern die Polizei, wäre einiges wahrscheinlich anders gelaufen. 2. Die Männer, die den Leichnam untersuchten, waren in keiner Weise für diesen Job geeignet. 3. Hätte ein professioneller Anwalt den Job der Verteidigung übernommen und nicht ein Mann, dem das ganze eigentlich völlig egal und der nur auf das Geld aus war, wäre Bruno Hauptmann wesentlich besser verteidigt worden und hätte wahrscheinlich auch ein faires Urteil bekommen. 4. Wäre das ganze nicht als „Verbrechen des Jahrhunderts“ deklariert worden, hätte es wahrscheinlich wesentlich weniger Sind um die Sache gegeben. Aber da sieht man mal wieder, was man mit zu großem Einfluss erreichen kann. 5. Wäre um die Sache nicht so ein Riesenwirbel gemacht worden, dann wär die Polizei wahrscheinlich auch nicht unter so enormen Druck gestanden und hätte auch besser ermitteln können. Nur da sie unter so großem Druck standen, musste unbedingt ein Verdächtiger her. Und Hauptmann kam ihnen da gerade Recht.
    Wären es normale Menschen gewesen, hätte sich wahrscheinlich kein Mensch großartig dafür interessiert und es wär alles richtig abgelaufen. Zuviel Einfluss hat halt nicht immer Vorteile

  4. Ist schon eine reichlich dubiose und verworrene Geschichte, bei der viele Fragen aufgeworfen werden und die bezweifeln lässt, dass Hauptmann der Entführer und Mörder war. Auch die Bemerkung der Ermittler, die Leiter sei in den Verbindungsstücken „professionell“ angefertigt worden ist hanebüchen, da man bereits auf dem Foto, wo die Leiter an der Wand lehnt, sieht, wie wenig sie zum Betreten geeignet war, viel zu weit auseinanderklaffende Sprossen und schon beim Hinsehen stümperhaft in der Stabilität. Ein Tischler würde nie so eine amateuhafte Leiter anfertigen.
    Die zweite Komponente in diesem Drama wird hier nicht erwähnt, was ich keinesfalls zum Vorwurf machen will, aber Herr Lindbergh war nicht nur sehr despotisch veranlagt, sondern darüber hinaus extrem stolz auf seine nordische Abstammung und empfand es als unverzeihlichen Makel, dass sein Erstgeborener eine Gehbehinderung hatte, was mit der Zeit des Laufenlernens natürlich unübersehbar geworden wäre. Dafür hat er sich geschämt.
    Auch die Mutter war höchst elitär angehaucht und verhielt sich sehr gefasst angesichts des Todes ihres Sohnes. Es wäre nicht verwunderlich, dass beide Eltern aus niederen Beweggründen, z.B. überzogenes Heldentum, den Tod ihres Kindes planten. Die Ehe der beiden war alles andere als glücklich und lief dann auch bald ins Leere. Und dass Herr Lindbergh schließlich noch eine Familie in München gegründet hatte kam ja, wie im Artikel erwähnt, irgendwann ans Licht.

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