(16) Eine satanistische Verschwörung?

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Jahrelang hatte David Berkowitz nur rätselhafte Andeutungen gemacht, dass seine Mordserie möglicherweise im Zusammenhang mit einer okkulten Sekte stand. Zu dem Zeitpunkt, als er sich zur christlichen Erweckungsbewegung bekannte (1987), äußerte sich auch erstmals konkreter zu dem Thema Satanismus. Er behauptete, Mitte der 1970er Jahre an okkulten Riten teilgenommen zu haben. Die Beschäftigung mit satanistischen Praktiken wäre ein Auslöser für seine Morde gewesen. Dieses Bekenntnis gab Gerüchten neuen Auftrieb, die sich bereits seit 1977 hartnäckig hielten. Nämlich dass Berkowitz die Morde nicht alleine begangen habe.

Arlis Perry – Mord in Stanford

Schon im Februar 1979 hatte David Berkowitz bei dem teilweisen Widerruf seines ursprünglichen Geständnisses solch einen Zusammenhang angedeutet. Im selben Jahr versandte er ein Buch über Hexerei an die Polizei von North Dakota. Er hatte mehrere Passagen in dem Werk unterstrichen und einige Randnotizen angefügt. Unter den Notizen fanden sich folgende Anmerkungen: »Arlis Perry. Gejagt, verfolgt und erlegt. Nach Kalifornien gefolgt. Stanford University.«

Die Notiz bezog sich offensichtlich auf den damals noch ungeklärten Mordfall Arlis Perry. Die 19-jährige Perry stammte ursprünglich aus North Dakota und war am 12. Oktober 1974 in Stanford unter mysteriösen Umständen ermordet worden. Die Medien hatten über ihren Tod und vor allen Dingen über die Schändung ihrer Leiche inmitten einer Kirche auf dem Campusgelände ausführlich berichtet.

Arlis Perry - Portrait
Arlis Perry

Nur ein Wichtigtuer?

David Berkowitz erwähnte North Dakota und dieses Verbrechen auch in weiteren Briefen. Er deutete an, er verfüge über Informationen aus erster Hand. Täterwissen. Die Ermittler im Fall Perry verhörten daraufhin Berkowitz. Der Mann war schließlich ein verurteilter Serienmörder. Jemand, der nachweislich mehrere Menschen umgebracht hatte. Wenn der solche Andeutungen machte, nahm man ihn besser ernst.

Die Beamten hätten sich die Dienstreise sparen können. Die Vernehmung war ein Fiasko. David Berkowitz konnte oder wollte keinerlei relevante Angaben zur Tat machen. Die Ermittler hielten Berkowitz für einen Wichtigtuer – zurecht, wie die spätere Klärung des Verbrechens nahelegte (siehe Update zum Fall Arlis Perry). Die Jahre 1976 und 1977 hatten ihm Publicity im Überfluss verschafft. Nun war er wieder die kleine Wurst, die er zeit seines Lebens war, und fühlte sich wie ein Junkie auf Entzug. Er spielte die Trumpfkarte aus, die praktisch jeder Serienkiller irgendwann zückte: Bei mir gibt es noch mehr Leichen im Keller. Viel mehr Leichen. Ihr wollt Einzelheiten wissen? Dann schenkt mir Aufmerksamkeit.

Die 22 Schüler der Hölle

Damit war die Geschichte allerdings noch nicht beendet. 1990 verlegte man Berkowitz vom Hochsicherheitsgefängnis Attica in die Strafanstalt Sullivan nach Fallsburg, New York. In Attica saßen die wirklich schweren Jungs ein. Die Angst, dass ihm nochmals einer dieser Burschen ein Messer in den Leib rammte, war bei Berkowitz sehr ausgeprägt. In Sullivan normalisierte sich sein Leben zusehends.

Kurze Zeit nach seiner Verlegung behauptete er, 1975 Mitglied eines satanischen Kults gewesen zu sein. Jetzt sollten es nicht länger mehr nur irgendwelche obskuren Riten gewesen sein, an denen er angeblich teilgenommen hatte, nun war er schon Teil einer Art Sekte gewesen. Er habe einige Mitglieder des Kults auf einer Party kennengelernt. Als er mit ihnen ins Gespräch gekommen sei, habe er zunächst gedacht, dass es sich dabei nur um okkulte Spielereien wie Séancen oder Wahrsagerei handele. Aber nach und nach hätten die Personen ihn in eine Welt hineingeführt, in der man pausenlos Drogen konsumiert habe und Sadismus, Verbrechen und Mord an der Tagesordnung gewesen seien.

David Berkowitz äußerte, dass es allein in New York rund zwei Dutzend Mitglieder dieses Kults gäbe, die den inneren Kern ausmachten. Das seien jene »22 Schüler der Hölle«, die er in seinem Brief an Breslin erwähnt habe. Diese Gruppe besäße Verbindungen in den gesamten USA und sei in Drogengeschäfte und andere kriminelle Machenschaften verwickelt.

Die Mordserie in Wahrheit ein Mordkomplott?

1993 suchte Berkowitz den Kontakt zur Presse und machte die Sache publik. Fortan behauptete er, nur drei der Morde persönlich begangen zu haben, für die er verurteilt wurde: Donna Lauria, Valentina Suriani und Alexander Esau. Bei den anderen Morden sei er lediglich in die Planung und das Auskundschaften der Opfer involviert gewesen oder habe Schmiere gestanden und das Fluchtfahrzeug gefahren. Berkowitz weigerte sich in den Interviews, die Namen anderer Beteiligter zu nennen. Er fürchte, dass andernfalls seinen Verwandten Unheil drohen könne.

Unter den namenlosen Komplizen sei auch ein weibliches Mitglied der Satanistengruppe gewesen. Sie habe auf Carl Denaro und Rosemary Keenan gefeuert. Die Opfer hätten nur überlebt, weil die Täterin nicht mit dem mächtigen Rückstoß des Revolvers klargekommen sei. Berkowitz erklärte, dass mindestens fünf Mitglieder bei den Schüssen auf Christine Freund und John Diel vor Ort gewesen wären. Der Schütze sei ein prominenter Unterstützer des Kults gewesen, der nicht aus New York stamme und eigens angereist sei. Im Fall Stacy Moskowitz und Robert Violante sei der Schütze ebenfalls ein Auswärtiger gewesen.

David Berkowitz beschuldigt die Familie Carr

Zwei Mitglieder des Kults erwähnte Berkowitz dann doch namentlich: John und Michael Carr. Die zwei Söhne des Hundehalters Sam Carr, der bei Berkowitz um die Ecke in der Walburton Avenue wohnte und mit dem er zum Zeitpunkt der Morde über Kreuz lag. Beide Männer waren bereits lange tot, als Berkowitz seine Anschuldigungen vorbrachte. John Carr erlag in North Dakota einer Schussverletzung. Die Polizei ging von Selbstmord aus. Michael Carr starb 1979 bei einem schweren Verkehrsunfall.

Berkowitz behauptete, dass John Carr der Schütze bei dem Attentat auf Donna DeMasi und Joanne Lomino gewesen sei. Er fügte hinzu, dass ein Polizist aus Yonkers bei diesem Verbrechen geholfen habe. Michael Carr wiederum habe die Schüsse auf Sal Lupo und Judy Placido abgegeben. Die Mitglieder des Kults hätten lange auf die Gelegenheit gewartet, jemanden vor dem »eléphas« töten zu können, weil der Name der Diskothek für die Satanisten von besonderer Bedeutung sei. Er erinnere an den französischen Okkultisten Eliphas Levi aus dem 19. Jahrhundert [Link zu Wikipedia-Artikel].

Maury Terry

Berkowitz’ Geschichte über die satanistische Verschwörung fand auch außerhalb der Gefängnismauern Anklang. Einer der wichtigsten Befürworter dieses Szenarios ist der Journalist Maury Terry. Bereits 1979 veröffentlichte er mehrere Artikel, in denen er erhebliche Zweifel an der offiziellen Version der Behörden äußerte. Terry benannte etliche Ungereimtheiten und Widersprüche in den Ermittlungsakten. Die New Yorker Polizei wies die Vorwürfe zwar vehement zurück und tat sie als Sensationshascherei ab. Aber Terrys These, dass mehrere Täter die »Son of Sam«-Morde begangen hatten, fanden in der Öffentlichkeit Anklang.

1987 fasste Maury Terry seine Recherchen in dem Buch »The Ultimate Evil« [Link zu Amazon] zusammen. Der Autor beschrieb detailliert ein satanistisches Netzwerk, das sich über die USA ausgebreitet habe und außer für die »Son of Sam«-Mordserie auch für viele andere Verbrechen verantwortlich sei. Terry erntete für seine Thesen sogar von Leuten Zustimmung, welche die satanische Verschwörung als Blödsinn abtaten. Dazu zählte unter anderem der Polizeikommissar Michael Novotny aus Yonkers, der gegen David Berkowitz ermittelt hatte. Der entscheidende Punkt an Terrys Buch war für ihn, dass es in den Ermittlungsakten tatsächlich von Hinweisen wimmelte, die auf die Beteiligung mehrerer Täter hindeuteten.

Das Rätsel der Phantombilder

Das stärkste Argument für verschiedene Tatbeteiligte waren die voneinander abweichenden Zeugenaussagen. Eine Vielzahl der befragten Zeugen beschrieben Personen, die nicht die geringste Ähnlichkeit mit David Berkowitz hatten. Man muss sich bloß die angefertigten Phantombilder anschauen, schon fallen einem die krassen Unterschiede ins Auge.

David Berkowitz - Son of Sam - Phantombilder
Phantombilder des „Son of Sam“, die das NYPD nach Zeugenaussagen fertigte

Doch mit Zeugenaussagen ist das so eine Sache. Wenn es nach Zeugenaussagen ginge, die Polizisten so in ihrem Berufsleben aufnehmen, wäre jeder Banküberfall, Straßenraub oder Verkehrsunfall mit Fahrerflucht Teil einer gigantischen satanistischen Verschwörung, so sehr unterscheiden sich Schilderungen häufig. Das bedeutet im Umkehrschluss natürlich nicht, dass Aussagen von Augenzeugen generell nichts taugen. Aber Polizisten müssen sie zwangsläufig kritisch hinterfragen und überprüfen, ob sie mit der übrigen Spurenlage in Einklang zu bringen sind.

David Berkowitz kein Teamplayer

David Berkowitz hatte in seinem ursprünglichen Geständnis nicht einfach nur pauschal die Morde gestanden. Er hatte konkrete Angaben gemacht, wie er an den Tatort gelangt war, wie er seine Opfer ausgesucht hatte und wie seine Fluchtroute ausgesehen hatte. Er hatte darüber hinaus eindeutiges Täterwissen offenbart. Berkowitz behauptete nun, er habe dieses Wissen erlangt, weil er in alle Verbrechen involviert gewesen sei, auch wenn er nicht in jedem Fall geschossen habe.

Dem standen die Erkenntnisse von Psychologen und Ermittlern gegenüber, die sich sehr eingehend mit David Berkowitz beschäftigt hatten. Ihrem Urteil zufolge handelte es sich bei Berkowitz um einen äußerst introvertierten Einzelgänger, der gar nicht zur Teamarbeit fähig gewesen wäre, selbst wenn ihn jemand dazu aufgefordert hätte. Die Experten vermuteten eher, Berkowitz habe sich eine Fantasie zurechtgezimmert, die ihn von der erdrückenden Last der Schuld zumindest teilweise befreite. Früher war er das Werkzeug eines Dämonen. Dann schrieb jemand ein Buch über eine satanistische Verschwörung. Also war er nun das Werkzeug einer obskuren Sekte. Hauptsache, er trug nicht alleine die Verantwortung für seine Taten.

Neue Ermittlungen

Dennoch rollte 1996 die Polizei von Yonkers den Fall neu auf. Was immer bei diesen Ermittlungen herauskam – das Material reichte nicht für eine neuerliche Anklageerhebung aus. Die Akte David Berkowitz ist offiziell immer noch offen, doch mangels neuer Erkenntnisse wird die Untersuchung seitdem nicht fortgeführt. Das New York Police Department hat sich erst gar nicht an den Ermittlungen beteiligt. Die dortige Polizei ist nach wie vor felsenfest davon überzeugt, dass Berkowitz der alleinige Täter war.

David Berkowitz und der Zodiac Killer

Es gibt auffällige Parallelen zwischen dem Fall David Berkowitz und dem Zodiac Killer, der Ende der 1960er im Raum San Francisco fünf Menschen tötete und bis heute nicht gefasst werden konnte. Wie David Berkowitz überfiel der Zodiac Killer in erster Linie junge Pärchen und wählte sie offenbar willkürlich aus. Auch der Modus Operandi von David Berkowitz und dem Zodiac Killer ähnelte sich. Mehrfach griff der Zodiac Killer seine Opfer an Plätzen an, die man im amerikanischen Englisch „lovers‘ lane“ nennt. Orte, die dafür bekannt waren, dass sie junge Liebespaare anzogen. Der Zodiac Killer verübte vier Morde mit einer Schusswaffe, einmal benutzte er ein Messer. Und der Zodiac Killer schickte mehrfach rätselhafte Briefe an Polizei und Presse und löste damit einen riesigen Medienhype aus.

Laut den offiziellen Ermittlungsergebnissen geschah der erste Mord des Zodiac Killer im Dezember 1968. Zu dem Zeitpunkt war David Berkowitz gerade einmal 15 Jahre alt. Es ist also mehr als unwahrscheinlich, dass David Berkowitz der gesuchte Zodiac Killer war. Zudem gibt es keinen Hinweis darauf, dass Berkowitz jemals San Francisco besucht hat. Die einzige Verbindung, die er zu dieser Region der USA hatte, war eine Stiefschwester, die dorthin verzogen war – allerdings nach 1971. Wahrscheinlicher ist, dass Berkowitz die intensive Berichterstattung über diesen spektakulären Fall verfolgt hatte und die Mordserie gewissermaßen als Blaupause für seine eigenen Verbrechen benutzte.

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