Albert DeSalvo

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Am 27. Oktober 1964 klopfte es an der Wohnungstür einer jungen Frau in East Cambridge. Der Mann behauptete, Kriminalbeamter zu sein. Die Frau ließ ihn ihre Wohnung. Im nächsten Moment stürzte sich der Fremde auf die Bewohnerin, hielt ihr ein Messer an den Hals und schleppte sie ins Schlafzimmer. Dort fesselte er die verängstigte Frau ans Bett und riss ihr die Kleider vom Leib. Doch bevor es zur Vergewaltigung kam, ließ er von der Frau ab und stammelte nur: »Es tut mir leid.« Dann flüchtete der Mann aus der Wohnung.

»Der Mann mit dem Maßband«

Das Opfer lieferte der Polizei eine erstklassige Täterbeschreibung. Einen der Beamten erinnerten die Schilderungen der Frau an einen Sexualstraftäter, gegen den er bereits früher ermittelt hatte. Der Mann hieß Albert DeSalvo. Seine kriminelle Laufbahn hatte er mit Einbruchsdiebstählen begonnen. Deswegen hatte er mehrfach im Gefängnis gesessen. Die Einbrüche in fremde Wohnungen hatten DeSalvo aber scheinbar erst auf den Geschmack gebracht, noch üblere Dinge auszuprobieren.

Denn wenig später fiel er der Polizei mit einer neuen Masche auf. Er klopfte bei alleinstehenden Frauen an die Tür und gab sich als Talentscout für Models aus. Ein paar der Frauen waren so naiv, den Fremden hereinzulassen. DeSalvo zückte ein Maßband und befummelte die Frauen ausgiebig. Er hatte seine Opfer jedoch nie vergewaltigt oder sexuell genötigt. Dennoch brachte ihm diese Nummer am Ende 18 Monate Knast ein.

Der Beamte kramte DeSalvos Foto aus der Akte hervor und zeigte es der Zeugin aus East Cambridge. Sie erkannte DeSalvo sofort wieder. Das war der Mann, der sie mit einem Messer bedroht hatte. Ganz sicher.

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Albert DeSalvo

Der Beamte informierte daraufhin die Kollegen in Boston. Dort hatte die Polizei im Herbst 1964 mit einer ungeklärten Vergewaltigungsserie zu tun. Die Vorgehensweise des bislang unbekannten Täters ähnelte DeSalvos Methode so sehr, dass man dem Gesuchten den Spitznamen »Der Mann mit dem Metermaß« verpasst hatte. Ein anderer lautete der »Grüne Mann«, weil die Opfer übereinstimmend berichtet hatten, dass der Vergewaltiger grüne Hosen getragen hatte.

Es kam zu einer Gegenüberstellung. Die Opfer identifizierten Albert DeSalvo als ihren Peiniger. Im darauffolgenden Verhör brach DeSalvo zusammen und gestand mehrere Vergewaltigungen sowie Hunderte von Wohnungseinbrüchen.

Aber obwohl die Ermittler überzeugt waren, dass Albert DeSalvo der »Mann mit dem Maßband« war, hatte ihn niemand als »Boston Strangler« in Verdacht. Seine Vorgehensweise wich aus Sicht der Ermittler in zu vielen Details von der des berüchtigten Serienmörders ab. Man schickte ihn vorerst ins Bridgewater State Hospital. Dort sollten ihn Psychiater näher untersuchen, bevor man ihm wegen der Vergewaltigungen den Prozess machen würde.

Bridgewater Hospital - Albert DeSalvo - Boston Strangler
Bridgewater Hospital

George Nassar

Während seiner Zeit in Brigdewater freundete sich DeSalvo mit einem anderen Insassen namens George Nassar an. Nassar war ein verschlagener und äußerst gefährlicher Mörder. Er unterbreitete DeSalvo einen Plan, wie sie beide viel Geld für sich herausschlagen könnten. Nassar machte Albert DeSalvo klar, dass er wegen der Vergewaltigungen lange, lange Zeit im Gefängnis verschwinden müsse. Seine Familie – eine Frau und zwei Kinder, von den eines behindert war – würden dann vollkommen mittellos dastehen.

Doch Nassar skizzierte einen Ausweg. Wenn DeSalvo gestehen würde, der »Boston Strangler« zu sein, könnten sie beide die hohe Belohnung einstreichen. Sie müssten es nur richtig anfangen. Das Geld würden sie untereinander aufteilen. Nassar würde DeSalvos Anteil an seine Familie weitergeben.

F. Lee Bailey

Albert DeSalvo hatte inzwischen einen jungen Pflichtverteidiger namens F. Lee Bailey zugeteilt bekommen, der als Verteidiger von Sam Sheppard („Dr. Kimble auf der Flucht“) und O. J. Simpson noch eine Berühmtheit werden sollte. Bei ihrem ersten Treffen tischte er der späteren Anwaltlegende seine »Boston Strangler«-Geschichte auf. Bailey traute seine Ohren nicht. Er sprach mit DeSalvos Frau, der deutschstämmigen Irmgard Beck. Sie glaubte ihrem Mann nicht. Sie vermutete, dass er sich für diese Story Geld von den Zeitungen erwarten würde.

Bailey unterhielt sich erneut mit seinem Klienten. Er bohrte nach. Er verlangte, dass DeSalvo ihm Details erzählte, die nur der Mörder wissen konnte, um seine Aussagen zu verifizieren. Der schockierte Anwalt musste anhören, wie Albert DeSalvo die einzelnen Morde unglaublich detailliert beschrieb. Sogar an die Einrichtung der Opfer vermochte er sich haarklein zu erinnern.

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F. Lee Bailey

Damit nicht genug. DeSalvo gestand zwei Morde, die die Polizei nie mit der Mordserie in Verbindung gebracht hatte. DeSalvo behauptete, für den Tod der 85-jährigen Mary Mullen verantwortlich zu sein. Die Polizei hatte die Leiche der Frau am 28. Juni 1962 auf dem Sofa gefunden. Nichts hatte auf ein Gewaltverbrechen hingedeutet. DeSalvo schilderte Bailey, wie er in die Wohnung eingedrungen sei. Die alte Frau habe sich so sehr erschrocken, dass sie auf der Stelle tot zusammengebrochen sei.

Im März 1963 habe er dann in Lawrence, einer Vorstadt 40 Kilometer nördlich von Boston, einen weiteren ungeklärten Mord begangen. Das Opfer sei die 69-jährige Mary Brown gewesen. Er habe die Frau zunächst vergewaltigt und anschließend erwürgt. Die Polizei hatte die tote Frau auf dem Boden ihrer Wohnung aufgefunden. Der Leichnam war mit einem Laken bedeckt gewesen.

Der Täter hatte sie tatsächlich vergewaltigt und erwürgt, wie Baileys Recherchen ergaben. Aber er hatte Mary Brown zusätzlich mehrfach auf den Kopf geschlagen und mit einer Gabel auf sie eingestochen. Die Gabel hatte noch in ihrer linken Brust gestochen, als man ihre Leiche fand.

Um den skeptischen Anwalt zu überzeugen, beschrieb DeSalvo die Wasserarmaturen in der Küche, die aus Messing gewesen seien, und das gelbe Küchenradio. Beide Beschreibungen trafen zu, wie Bailey später feststellte.

Albert DeSalvo hatte sich alles genau überlegt. Er glaubte, er könne die Psychiater überzeugen, dass er verrückt sei. Dann würde er zwar für den Rest seines Lebens eingesperrt bleiben, aber er würde der Todesstrafe entgehen. Bailey könnte seine Geschichte niederschreiben. Die Einnahmen des Buchs sollten dann der finanziellen Absicherung seiner Familie dienen.

F. Lee Bailey war inzwischen klar, dass sich DeSalvo niemals von seinem Vorhaben abbringen lassen würde. Es blieb nur der Gang zur Polizei. Sollte DeSalvo den Ermittlern sein Geständnis vortragen. Dann würde man sehen, was sich letztlich davon beweisen ließ.

Der Prozess

Für die Sonderkommission, die zu diesem Zeitpunkt immer noch bestand, schien DeSalvos Geständnis der lange erhoffte Durchbruch zu sein, nachdem man über ein Jahr auf der Stelle getreten war. Stattdessen endeten die Ermittlungen in einem Debakel.

Es fing damit an, dass John Bottomly darauf bestand, Albert DeSalvo zunächst alleine zu verhören, bevor James Mellon oder einer der anderen Mordermittler dazu Gelegenheit bekamen. Bottomly ließ zwar ein Tonband mitlaufen. Doch niemand, auch nicht die mit dem Fall betrauten Polizisten, bekamen diese Aufnahme jemals zu hören. Bottomly behauptete nach dem ersten Gespräch mit dem Verdächtigen, dass er von DeSalvos Schuld überzeugt sei. Danach kannten alle polizeilichen Untersuchungen nur noch eine Richtung: Albert DeSalvo die Taten des »Boston Strangler« nachzuweisen.

Ein fast unlösbares Unterfangen, wie sich alsbald herausstellen sollte. Denn je mehr Menschen die Polizei befragte, umso mehr Leute fanden sich, die DeSalvo im Hinblick auf die Mordserie für unschuldig hielten. Trotz seines Geständnisses tauchten keine konkreten Beweismittel auf, die ihn mit den Taten in Verbindung brachten. DeSalvo besaß zudem eine auffällig große Nase. Man hätte erwarten sollen, dass dieses Detail in einer der früheren Zeugenaussagen erwähnt worden war. Keiner der befragten Zeugen hatte etwas Ähnliches beschrieben.

Am 10. Januar 1967 begann der Prozess. F. Lee Bailey hatte sich inzwischen eine Strategie zurechtgelegt. Er würde nicht abstreiten, dass Albert DeSalvo die Vergewaltigungen begangen hatte, die die Behörden dem »Mann mit dem Maßband« zurechneten. Bailey sah aber gute Chancen, DeSalvo vom Vorwurf freizusprechen, der berüchtigte »Boston Strangler« zu sein – trotz seines Geständnisses. Die Tatsache, dass DeSalvo freimütig 13 Morde eingeräumt hatte, machte sich sein Anwalt stattdessen zunutze, um die Geschworenen von der Unzurechnungsfähigkeit des Angeklagten zu überzeugen.

Baileys Kalkül ging auf. DeSalvo wurde vor Gericht insbesondere durch die Aussagen zweier wichtiger Zeuginnen entlastet. Marcella Lulka hatte im selben Block wie das Mordopfer Sophie Clark gewohnt. Am Tag des Verbrechens war vor ihrer Tür ein Mann aufgetaucht, der sich als »Mr. Thompson« vorgestellt hatte. Er hatte behauptet, der Vermieter habe ihm den Auftrag erteilt, ihre Wohnung zu streichen. Gertrude Guer, die zweite Zeugin, war mutmaßlich vom »Boston Strangler« attackiert worden und hatte als einziges Opfer überlebt.

Beide Frauen sahen sich außerstande, Albert DeSalvo als den Täter zu identifizieren. Doch die gleichen Zeuginnen reagierten verstört, als sie George Nassar auf dem Flur vor dem Gerichtssaal erblickten. Seine Gestalt, seine Bewegungen und sein äußeres Erscheinungsbild kamen ihnen bekannt vor. Doch niemand ging diesem Hinweis nach.

Konnte es sein, dass George Nassar mit den Morden des »Boston Strangler« etwas zu tun hatte? Dass er Mitwisser oder möglicherweise selbst der Serienmörder war? Vielleicht hatte er DeSalvo die entscheidenden Details der Verbrechen anvertraut, die sein Geständnis auf den ersten Blick so überzeugend klingen ließen.

Die psychiatrischen Untersuchungen in Bridgewater hatten nämlich unter anderem ergeben, dass Albert DeSalvo über ein fotografisches Gedächtnis verfügte. Es war denkbar, dass er sich jedes Detail, das ihm Nassar erzählt hatte, haargenau eingeprägt hatte. Oder war DeSalvo, der ein langes Vorstrafenregister wegen Einbruchdiebstählen hatte, bei den Opfern eingebrochen, nachdem sie bereits getötet worden waren, und war so an sein Insiderwissen gelangt?

Was zudem klar gegen DeSalvos Schuld sprach, waren die gravierenden Abweichungen in der Tatausführung der »Boston Strangler«-Morde. Der Ermittler James Mellon hatte schon immer die Theorie vertreten, dass die Morde nicht das Werk eines einzelnen Täters sein konnten. Diese Fakten kamen nun im Prozess zur Sprache. Einige der Opfer waren alt, andere jung. Manche wurden vergewaltigt, andere lediglich erdrosselt und in entwürdigenden Positionen zurückgelassen.

Schließlich wurden die Fälle vorgetragen, die man dem »Mann mit dem Maßband« zurechnete. Die Geschworenen hörten, dass Albert DeSalvo in Hunderte Wohnungen eingedrungen war. Bei mehreren Gelegenheiten hatte er Frauen gefesselt und missbraucht. Aber in keinem dieser Fälle war es zu einer Vergewaltigung gekommen. Er hatte alle seine Opfer am Leben gelassen und war geflohen.

Für die Jury war nicht nachvollziehbar, warum DeSalvo 1962 und 1963 13 Frauen brutal misshandelt und getötet haben sollte, aber sich 1964 dann vergleichsweise zaghaft und unentschlossen angestellt haben sollte. Die Geschworenen verurteilten Albert DeSalvo schließlich ausschließlich wegen der Vergewaltigungen im Herbst 1964. Allerdings hielten sie ihn nicht für unzurechnungsfähig und verhängten als Strafmaß eine lebenslange Gefängnisstrafe.

Albert DeSalvos Tod

Albert DeSalvo saß seine Strafe im MCI-Cedar Junction in Massachusetts ab. Im November 1973 verlangte er nach einem Arzt. Er habe eine wichtige Aussage bezüglich der Morde des »Boston Strangler« zu machen, ließ er mitteilen. In der Nacht vor dem anberaumten Gesprächstermin wurde Albert DeSalvo in seiner Zelle erstochen.

Bei dem MCI-Cedar Junction handelte es sich um ein Hochsicherheitsgefängnis. DeSalvo saß in einer Einzelzelle, die nachts verschlossen war. Wie hatte sich der Mörder Zutritt verschaffen können? Gerüchte machten die Runde. DeSalvo war einem Komplott zum Opfer gefallen, weil er über die mysteriöse Mordserie habe auspacken wollen. In die Verschwörung seien mehrere Gefangene und Strafvollzugbeamte involviert gewesen. Es gab keine Beweise dafür. Es wurde aber auch niemand des Mordes an Albert DeSalvo angeklagt.

DNA-Tests

In den Jahrzehnten nach DeSalvos Tod formte sich eine seltsame Allianz, die aus mehreren Angehörigen des letzten Mordopfers Mary Sullivan und einem Bruder DeSalvos bestand. Sie zweifelten Albert DeSalvos Schuld an und wollten ihn vom Mordvorwurf freisprechen. Sie stellten auf eigene Kosten Ermittlungen an und ließen 2001 den Leichnam von Albert DeSalvo exhumieren, um ihm DNA-Proben zu entnehmen.

Man verglich DeSalvos DNA mit Spurenmaterial, das die Polizei an Mary Sullivans Leichnam sichergestellt hatte. Es gab keine Übereinstimmung. Der Abgleich bewies letztendlich, dass Albert DeSalvo Mary Sullivan nicht vergewaltigt hatte. Gleichzeitig konnte man nicht ausschließen, dass er in anderer Weise in den Mord verwickelt war.

Boston Strangler - Mary Sullivan
Mary Sullivan

Doch dann kam im Oktober 2013 erneut Bewegung in den Fall. Bezirksstaatsanwalt Daniel F. Conley vom Suffolk County äußerte auf einer Pressekonferenz, dass die Cold Case-Ermittler erneut Samenflüssigkeit getestet hätten, die von Mary Sullivans Körper und einem Laken stammten. Dieses Mal habe das Testergebnis eine hundertprozentige Übereinstimmung mit DeSalvos DNA ergeben. Wie war dieser Widerspruch zu erklären?

Don Hayes, ein Mitarbeiter des kriminaltechnischen Labors von Boston, lieferte eine einfache Erklärung. Die DNA-Methoden seien Anfang der 2000er Jahre technisch noch nicht so ausgereift gewesen, um auf die vorhandenen DNA-Proben anzusprechen. Im Kriminallabor habe man einfach darauf gehofft, dass die Forschung Fortschritte mache und das Beweismaterial weiterhin aufbewahrt.

Nun habe man die Proben an zwei hoch spezialisierte private Genlabors verschickt. Eines der beiden war tatsächlich in der Lage, die DNA einer männlichen Person zu isolieren. Sie stimmte mit Albert DeSalvos DNA überein. Trotz dieses Erfolges bleibt natürlich immer noch die Frage offen, ob DeSalvo auch für die übrigen Morde des »Boston Strangler« verantwortlich war.

Mögliche Opfer des »Boston Strangler«

14.6.1962: Anna E. Sleser (55), 77 Gainsborough St., Boston
28.6.1962: Mary Mullen (85), 1435 Commonwealth Ave., Boston
30.6.1962: Nina Nichols (68), 1940 Commonwealth Ave., Boston
30.6.1962: Helen Blake (65), 73 Newhall St., Lynn
21.8.1962: Ida Irga (75), 7 Grove St., Boston
30.8.1962: Jane Sullivan (67), 435 Columbia Road, Boston
5.12.1962: Sophie Clark (20), 315 Huntington Ave., Boston
31.12.1962: Patricia Bissette (23), 515 Park Drive, Boston
9.3.1963: Mary Brown (69), 319 Park Ave., Lawrence
8.5.1963: Beverly Samans (23), 4 University Road, Cambridge
6.9.1963: Evelyn Corbin (58), 224 Lafayette St., Salem
23.11.1963: Joann Graff (23), 54 Essex St., Lawrence
4.1.1964: Mary Sullivan (19), 44-A Charles St., Boston

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