(3) Fünf Leichen in einer Kiefernsenke

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Im August 1874 reiste der Zeichner und Illustrator John A. Randolph über den Slumgullion Gebirgspass. Er war im Auftrag des „Harper’s Weekly Magazine“ unterwegs nach Colorado. Oberhalb von Lake Fork, am Ufer des Gunnison River, entdeckte er am Fuß des Passweges fünf männliche Leichname.

Die Toten lagen in einer Senke, die mit Hemlocktannen umsäumt war. Die Fundstelle entsprach der Beschreibung aus Packers zweitem Geständnis und war nur gut drei Kilometer von der heutigen Gemeinde Lake City entfernt, in südöstlicher Richtung.

Was Randolph sofort ins Auge stach: Die Toten trugen keine Schuhe mehr und hatten sich stattdessen Stoffstücke um die Füße gebunden. Vermutlich stammten sie von zerrissenen Decken und Kleidungsstücken, die am Lagerplatz verstreut herumlagen.

Einer Leiche fehlte der Kopf. Bei zwei Leichnamen waren aus der Brust und den Oberschenkeln größere Stücke Fleisch herausgetrennt worden. Mehrere Fleischreste lagen noch auf dem Boden herum. Hatte jemand die Toten mit einem Messer zerlegt? Oder waren Wildtiere an die Kadaver gegangen?

Für Randolph war dies nicht klar ersichtlich. Der Zeichner fertigte eine detaillierte Skizze an, auf der er den Zustand jeder Leiche festhielt. Anschließend benachrichtigte er die Behörden in Lake City. Die Zeichnung und die Schilderungen Randolphs erschienen zwei Monate später, am 17. Oktober 1874, im „Harper’s Weekly Magazine“.

Harpers Illustration 1cropped.jpgRandolphs Zeichnung [By John A. Randolph – Lake City, Colorado National Historic District: http://www.lakecityhistoricdistrict.com/image/Harpers%20Illustration%201cropped.jpg, Public Domain, Link]

Amtliche Untersuchung

W.F. Ryan, der Gerichtsmediziner des zuständigen Hinsdale County, eilte mit zwanzig Freiwilligen zum Tatort. Preston Nutter, Mitglied der ursprünglichen Expedition in Utah, identifizierte die Toten als die vermissten fünf Goldschürfer. Bei der Leiche ohne Kopf handelte es sich aller Wahrscheinlichkeit nach um Frank Miller.

Bei den nun folgenden Beschreibungen des Tatorts ist zu beachten, dass der Bergungstrupp kein schriftliches Protokoll anfertigte, obwohl mit Ryan eine Amtsperson anwesend war. Daher sind die Beobachtungen der Beteiligten lediglich durch Zeugenaussagen in späteren Gerichtsverfahren dokumentiert.

Die Leichname wiesen Spuren „extremer Gewalteinwirkung“ auf. Die Leichen von Frank Miller und Israel Swan waren nahezu vollständig skelettiert, was auf das Werk von Aasfressern schließen ließ. Auch das Verschwinden von Millers Kopf führte man auf Tiere zurück, die den Schädel in ihr Versteck verschleppt hatten.

Unterschiedlicher Verwesungsgrad

James Humphrey und George Noon waren nur teilskelettiert. Die Beinknochen lagen frei, der Torso enthielt noch die verwesenden Eingeweide. Die Gesichter waren zwar ebenfalls in Verwesung begriffen, aber die Gesichtszüge noch klar erkennbar, die Behaarung an Schädel und Kinn vorhanden. Nach dem Augenschein war die Fäulnis bei Humphrey etwas weiter fortgeschritten.

An den Leichnamen waren deutliche Schädelverletzungen erkennbar, die von einem Schlag mit einem Beil herrühren konnten. Zudem waren an den Skeletten mehrere Knochenbrüche sichtbar.

Der Zustand von Shannon Bells Leiche sprach dafür, dass er als letzter aus der Gruppe ums Leben gekommen war. Der Körper lag mit weit gespreizten Beinen und ausgestreckten Armen auf dem Rücken. Beine und Arme waren zwar schon teilweise bis auf die Knochen verwest.

Doch die Hände waren zum Beispiel noch vollständig erhalten, die Haut dort noch nicht zerstört. Auch das Gesicht und die Haare waren nahezu intakt geblieben. Der übrige Körper war jedoch zu einer modrigen Masse verquollen. Das Schädeldach war offen. Gehirnsubstanz war ausgetreten und hatte sich auf dem Boden verteilt.

Widersprüche

Bei Noon, Humphrey und Bell waren Fleisch und Muskeln an einigen Stellen augenscheinlich mit einem Messer entfernt worden. Darauf deuteten entsprechende Kerben an den Knochen hin, die aller Wahrscheinlichkeit nicht auf Wildfraß zurückzuführen waren. Die inneren Organe und das Rückenmark der Toten waren davon nicht betroffen. Zumindest ließen sich dort keine vergleichbaren Spuren ausmachen.

Die Auffindesituation widersprach in mehreren Punkten den Geständnissen, die Alfred Packer bislang abgelegt hatte. Die Toten lagen alle einem Platz und waren nicht an unterschiedlichen Orten ums Leben gekommen, wie Packer behauptet hatte. Nur an drei Leichen fanden sich Hinweise, die auf Kannibalismus schließen ließen. Packers Geschichte über das gemeinschaftliche Verspeisen der Toten, die einer nach dem anderen am Hunger- oder Kältetod verstorben waren, war damit ebenfalls zweifelhaft.

Tatsächlich entdeckte der Gerichtsmediziner neben den Leichen auch ein Gewehr, das in mehrere Teile zerbrochen war. Doch die Spuren deuteten eher darauf hin, dass der Täter mit der Waffe eines der Opfer niedergeschlagen hatte und der Schaft dabei zu Bruch ging. Es war zumindest nicht zu erkennen, dass die Flinte an einem der umstehenden Bäume zerschellt war.

Theorie zum Tathergang

Die in Fetzen gewickelten Füße bestätigten zumindest, dass die Männer in ihrer Verzweiflung ihre Schuhe zu essen versucht hatten. In diesem Punkt hatte Packer also vermutlich die Wahrheit erzählt. Doch Ryan und der Suchtrupp waren der Ansicht, dass Packer seine Kameraden kaltblütig ermordet hatte. Diese Tat hatte sich außerdem wohl zu einem früheren Zeitpunkt zugetragen, als er ihnen in seinem Geständnis weismachen wollte.

Nach Meinung der am Tatort Anwesenden hatten sich die Morde bereits ereignet, als die Vorräte ursprünglich zur Neige gegangen waren oder unmittelbar davor. Denn es fanden sich laut den Zeugenaussagen Hinweise darauf, dass noch nicht alle Bestände restlos aufgebraucht waren. Möglicherweise hatte Packer darauf gehofft, an diese restlichen Lebensmittel zu gelangen, den Begleitern ihre Wertgegenstände zu entwenden und dann alleine aus der Wildnis zu entkommen.

Doch er sei von einem Schneesturm überrascht worden, so die weitere Mutmaßung, der ihn zum Bleiben zwang. Nur einige Schritte vom eigentlichen Tatort entfernt gab es nämlich einen notdürftig zusammengezimmerten Unterstand, in dem einige Dinge aus dem Besitz der Toten lagerten. Dort habe sich Packer zwei Monate aufgehalten. Und wenn ihn der Hunger drängte, habe er sich an den Leichnamen seiner Begleiter bedient. Angesichts der Minusgrade, die zwischen Februar und April 1874 herrschten, konnte man davon ausgehen, dass das Fleisch in dieser Phase nicht verwest war.


Dreiminütiges Video über Lake Fork am Gunnison River heute – natürlich im Sommer gedreht, aber man bekommt eine Vorstellung von der Landschaft, in der sich die Geschichte zugetragen hat

Nicht alles passt

Es gab allerdings ein Detail, das nicht ganz zu diesem Geschehensablauf passte. Die Toten waren in einem unterschiedlichen Verwesungszustand. Waren sie vielleicht doch nicht alle zur selben Stunde gestorben? Ryan und die Freiwilligen beschäftigten sich nicht weiter mit dieser Frage.

Nach der Begutachtung des Tatorts bestattete man die Leichen in unmittelbarer Nähe des Fundorts. Anschließend brach man nach Saguache auf. Der Gefangene würde ihnen nun einiges erklären müssen. Doch dazu sollte es erst gar nicht kommen.

Der Sheriff von Saguache hatte Packer in einer Holzhütte außerhalb der Stadt eingesperrt, weil er um seine Sicherheit fürchtete. Denn inzwischen machten längst Gerüchte die Runde, dass der Inhaftierte seine Kameraden umgebracht habe und ein Kannibale sei. Menschen wurden damals auch wegen weitaus geringfügiger Anschuldigungen gelyncht.

Offiziell hatten die Behörden Packer noch keines wirklich schwerwiegenden Vergehens angeklagt. Er saß in Haft, weil er Herman Lauter attackiert hatte. Aber da der Versuch fehlgeschlagen war, die Beweislage etwas dünn war, ob er Lauter tatsächlich etwas antun wollte, drohte ihm nach der gültigen Rechtssprechung deswegen keine ernsthafte Bestrafung.

Auf der Flucht

Angeblich waren die Behörden in Saguache daher nicht sonderlich erfreut darüber, diesen Gast auf Kosten des Steuerzahlers zu beherbergen und zu bewachen. Man steckte ihm dem Vernehmen nach einen Nachschlüssel zu seiner Zelle zu und versorgte ihn mit einigen Vorräten. Er konnte ohne Probleme aus seinem Gefängnis entkommen.

Packer verriet nie, wer ihn letztlich entkommen ließ. Das oben skizzierte Szenario ist also reine Spekulation hinsichtlich dessen, was sich tatsächlich zugetragen hat. Eines steht allerdings zweifelsfrei fest: Alfred Packer blieb für mehrere Jahre wie vom Erdboden verschluckt.

Der Fall geriet trotz der Flucht aber nie in Vergessenheit. Nicht nur die lokale Presse, sondern die Medien im gesamten Land griffen die Story auf und verbreiteten die Details. Gemeinsamer Konsens war alsbald: Packer hatte von vorneherein geplant, die Gruppe in eine Falle zu locken, um sie dann zu töten und auszurauben.

Kannibalismus kein Thema

Interessanterweise stand das Thema Kannibalismus in der zeitgenössischen Berichterstattung nie im Vordergrund. Viel entscheidender war für die Menschen damals, dass Packer seine Begleiter getäuscht hatte, indem er sich als erfahrener Führer ausgab. Insbesondere Nutter und Loutsenhizer hoben diesen Aspekt immer wieder in Interviews hervor, die sie der Presse gaben.

Für heutige Leser mag diese Bewertung seltsam klingen. War Kannibalismus kein Tabu im 19. Jahrhundert? Doch, das war es. Aber im „Wilden Westen“ galten sozusagen andere Gesetzmäßigkeiten. Praktisch jedem Amerikaner war damals das Schicksal der sogenannten „Donner Party“ ein Begriff.

1846 war ein Siedler-Treck, der 87 Personen umfasste, unter anderem die Familie Donner, in den Bergen der Sierra Nevada Opfer eines überraschenden Wintereinbruchs geworden. Viele Teilnehmer starben. Die Überlebenden hatten sich zum Teil von den Toten ernährt, um die Katastrophe in den Bergen zu überleben.

Im Bewusstsein der amerikanischen Bevölkerung hatte sich verankert: Du darfst dich in der Einöde, wo dir niemand zur Hilfe kommt, gegebenenfalls über Tabus hinwegsetzen, wenn dein Leben davon abhängt. Aber niemals darfst du andere Menschen in eine schier aussichtslose Situation locken, obwohl du es besser weißt. Genau das hatte Packer getan. Letzteres stellte Hochverrat dar, Ersteres hingegen eine lässliche Sünde.

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