Doch Alfred Packer legte Einspruch gegen das Urteil ein. Die Behörden mussten die Hinrichtung verschieben. Im Oktober 1885 gab der Oberste Gerichtshof von Colorado der Revision wegen eines Formfehlers im Verfahren statt.
Der Supreme Court argumentierte, dass Colorado im Jahre 1874, dem Tatzeitpunkt, noch kein US-Bundesstaat gewesen sei, sondern lediglich den Status eines Territoriums hatte. Das Strafgesetzbuch des Bundesstaates Colorado existierte noch nicht, entsprechend hatten die darin festgehaltenen Paragrafen noch keine rechtlich bindende Bedeutung. Daher konnte man Packer auf dieser Grundlage nicht aburteilen. Juristisch spricht man hier von einem sogenannten Rückwirkungsverbot.
Das Verbrechen hatte sich zudem nicht nur auf Bundesterritorium, sondern darüber hinaus innerhalb der Grenzen eines Indianerreservats ereignet. Infolgedessen musste hier Bundesrecht und nicht föderales Recht zur Anwendung kommen. Damit war die Vollstreckung des Urteils ausgesetzt. Ein anderes Gericht sollte sich erneut mit dem Fall befassen.
Der zweite Prozess
Der zweite Prozess fand 1886 in Gunnison statt. Dieses Mal traten mehrere örtliche Jäger als Zeugen auf. Sie bestätigten zwar, dass 1874 einer der härtesten Winter gewesen sei, an den sie sich erinnern konnten. Doch im San-Juan-Gebirge habe es auch in dieser Zeit ein reichliches Angebot an Hirschen, Gabelböcken und kleineren Wildtieren gegeben. Es gab sogar einen Bericht, dass man damals einen Hirschkadaver nahe dem Tatort gefunden habe.
Darüber hinaus hinterfragte der Prozess Packers Entscheidung, die Route über den Gebirgspass zu wählen. Wenn er sich tatsächlich in der Gegend ausgekannt hatte, wie er bis in die Gegenwart behauptete, dann war dieser Entschluss nicht nachzuvollziehen.
Es war bekannt, dass dort bei einem einzigen Schneesturm mehr als zwei Meter hoher Neuschnee fallen konnte. Diese Berge bei eisigen Temperaturen und Winden zu überqueren, kam einem Selbstmordkommando gleich. Jeder halbwegs erfahrene Führer hätte um diese Gefahr bewusst.
Vor allen Dingen hatte ihnen Häuptling Ouray einen vergleichsweise sicheren Weg entlang des Gunnison River beschrieben. Dort hätte man auch jederzeit in akuter Hungersnot Fische angeln können, wenn kein Wild in Sicht kam. Doch er wählte die gewissermaßen „todsichere“ Route über den zugeschneiten Pass. Warum?
Totschlag statt Mord
Packer blieb in diesem Verfahren bei seinem letzten Geständnis aus dem März 1883, als er in den Zeugenstand gerufen wurde. Der dem Wahnsinn anheimgefallene Bell habe alle getötet, er ihn in Notwehr erschossen.
Packer hatte sich von dem zweiten Prozesse bessere Chancen versprochen, vor allen Dingen weil der Gerichtsort auf Anweisung des Supreme Courts verlegt worden war. Doch er sah sich schwer getäuscht. Denn dieses Mal erklärte ihn das Gericht am 8. Juni 1886 gleich aller fünf Taten für schuldig.
Immerhin war das Strafmaß glimpflicher. Die Geschworenen werteten die Verbrechen nicht als heimtückischen Mord, sondern als vorsätzlichen Totschlag. Für jede Tat erhielt Packer acht Jahre Gefängnis aufgebrummt, was in Summe eine Haftstrafe von vierzig Jahren ergab. Gewiss kein Pappenstiel, auch nach US-Gepflogenheiten nicht. Denn zum damaligen Zeitpunkt stellte dies die längste Freiheitsstrafe dar, die in der Geschichte der Vereinigten Staaten jemals verhängt worden war.
Im Gefängnis
Alfred Packer saß seine Strafe im Gefängnis von Canon City ab. Er legte erneut Berufung gegen das Urteil ein, insgesamt fünf Mal, immer ohne Erfolg. Er schrieb an mehrere Zeitungen und beklagte sich über das Unrecht, das ihm widerfahren sei. So verfasste er unter anderem am 7. August 1897 einen Brief an einen Redakteur der „Denver Rocky Mountain News“.
Wieder bezog er ausführlich Stellung zu den Vorkommnissen im Winter 1874. Und erneut wich seine Darstellung von früheren Versionen ab. Die Zeitung druckte den Text, dramatisierte ihn aber an einigen Stellen. In dem Schreiben behauptete Packer zum Beispiel, dass man ihn nach seiner Rückkehr drei Wochen lang medizinisch versorgt habe, was laut der zeitgenössischen Berichte schlichtweg nicht stimmte.
Er hatte im Gegenteil bei seinem Eintreffen einen überraschend gesunden Eindruck hinterlassen, zumindest angesichts der Tatsache, dass er gerade dem Hungertod von der Schippe gesprungen sei. Er behauptete zudem, dass er sofort gestanden habe, Bell in Notwehr getötet zu haben, was ebenfalls nicht der Wahrheit entsprach. Der Zeitungsartikel sollte ihm dennoch nützen.
Polly Pry
Nach 16 Jahren in Haft beantragte Alfred Packer eine vorzeitige Entlassung auf Bewährung. Sein Antrag wurde zunächst abgelehnt. Doch Polly Pry, eine Reporterin der „Denver Post“, interessierte sich für seine Geschichte und glaubte ihm, dass er unschuldig war. Sie leitete eine Kampagne in die Wege, die sich für die Freilassung Packers einsetzte. Mit der Zeitung im Rücken konnte sie auch die Aufmerksamkeit des amtierenden Gouverneurs Charles Thomas auf sich lenken.
Sie porträtierte Packer als einfachen Mann aus dem Volk, der sich plötzlich in einer tragischen und aussichtslosen Lage wiederfand. Er war laut ihrer Darstellung lediglich ein Opfer der extremen Umstände und tat das, was man tun musste, um in solch einer Situation zu überleben.
Die Gesellschaft habe dann an ihm ein Exempel statuieren müssen, weil der Kannibalismus an einem Tabu rührte. Was nicht stimmte: Auf die Tatsache, dass Packer Menschen verspeist hatte, war in keinem der beiden Urteile näher eingegangen worden. Dieser Tatumstand führte definitiv nicht zu den Verurteilungen.
Vorzeitige Entlassung
Doch Prys Kampagne verfing bei vielen Lesern. Immerhin waren seit den Geschehnissen auch schon 25 Jahre vergangen. Packer reichte nochmals ein Bewährungsgesuch ein. Dieses Mal führte er seinen schlechten Gesundheitszustand als Begründung an. Am 8. Februar 1901 wurde dem Antrag schließlich stattgegeben. Der Gefängnisarzt hatte ihm eine Nierenerkrankung attestiert, für deren Verlauf ein weiterer Aufenthalt im Gefängnis lebensgefährlich sei.
Gleichzeitig hatten mehre bekannte Persönlichkeiten im Bundesstaat Colorado, darunter die Eigentümer der „Denver Post“, eine Petition zu seinen Gunsten unterschrieben. Das geschah nicht ohne Eigennutz. Den Zeitungseigentümern gehörte nämlich auch der damals sehr populäre „Sells-Floto Circus“. Man hatte schon Pläne geschmiedet, wie man mit Packer als neuem Zuschauermagneten viel Geld verdienen konnte.
Die Entscheidung bedeutete nicht, dass der Gouverneur seine grundsätzliche Haltung aufgegeben hatte. Er hielt Packer nach wie vor für schuldig. Mit anderen Worten: Der Gouverneur hatte den Häftling nicht begnadigt, weil er an einen Justizirrtum glaubte, sondern ihn lediglich aufgrund seiner gesundheitlichen Probleme auf Bewährung aus der Haft entlassen.
Die letzten Jahre
Nach seiner Freilassung stellte ihn die „Denver Post“ als Sicherheitskraft ein. Allerdings konnte er sich an das Stadtleben nicht gewöhnen. Er zog daher in den Deer Creek Canyon im Jefferson County. In seinen verbleibenden Lebensjahren arbeitete er als Geschäftsführer zweier Minen. Viele Leute bezeichneten ihn als netten, alten Mann.
Bis heute hält sich hartnäckig das Gerücht, dass Packer auf seine alten Tage zum Vegetarier bekehrt worden sei. Aber das ist vermutlich nur eine hübsch ausgedachte Anekdote. Zumindest konnte ich nirgends einen Beleg dafür finden, dass die Geschichte sich tatsächlich so zugetragen hat.
Ende 1906 fand ein Wildhüter Packer bewusstlos auf, etwa zwei Kilometer von seinem Haus entfernt. Zu diesem Zeitpunkt war er bereits an fortgeschrittener Demenz erkrankt. In den letzten Lebensmonaten pflegte ihn eine Mrs. Van Alstine. Am 24. April 1907 verstarb Alfred Packer an einem Schlaganfall.
Er wurde auf dem Prince Avenue Friedhof in Littleton (Colorado) auf Staatskosten bestattet. Wegen seiner Dienstzeit beim Militär galt er als Veteran. Das Militär bezahlte auch den Grabstein. Damit war die Packer-Saga aber noch nicht am Ende angelangt.
Neugier eines Juraprofessors
1989 besuchte der Juraprofessor James E. Starrs, der an der George Washington University in der Hauptstadt lehrte, die Kleinstadt Gunnison. Er hatte von der Packer-Story gehört und sich aus beruflichem Interesse mit beiden Prozessen beschäftigt. Nun wollte er sich den Ort, an dem sich die Geschichte vor mehr als hundert Jahren zugetragen hatte, mit eigenen Augen anschauen.
Doch die Suche gestaltete sich schwieriger, als er gedacht hatte. Es gab zwar eine Gedenkstätte für die Opfer. Doch die war viele Jahre nach dem Tod der fünf Männer entstanden. Niemand im Ort wusste, wo sich der exakte Fundort der Leichen befunden hatte.
Starrs befragte die Eigentümer des Grundstücks, auf dem das Denkmal für die Opfer errichtet war. Durfte er auf dem Grund graben, um nach den Überresten zu suchen? Es war zumindest eine plausible Arbeitshypothese, dass man die Gedenkstätte „ungefähr dort“ aufgestellt hatte, wo der tatsächliche Tatort lag. Die Besitzer gaben ihm die Erlaubnis. Er besorgte sich von den zuständigen Behörden eine Genehmigung für eine archäologische Grabung.
Ausgrabungen 1989
Die Arbeiten begannen am 17. Juli 1989. Starrs‘ Team bestand aus Anthropologen, Archäologen, Fotografen, studentischen Hilfskräften, einem Anwalt und anderem forensischen Personal. Die lokalen und regionalen Medien waren ebenfalls vor Ort.
Die Wissenschaftler untersuchten zunächst die Zusammensetzung des Bodens und entnahmen Proben, um den pH-Wert zu bestimmen. Mit einem speziellen Radargerät liefen sie das Terrain ab, das nach Auswertung der Daten am vielversprechendsten war. Sie wurden fündig.
Nur rund dreißig Zentimer unter der Oberfläche stießen sie auf Knochen. Das Grab lag am Ende eines Privatwegs, der zum Haus eines Chirurgen gehörte. Angesichts der geringen Grabungstiefe verzichtete das Team auf schweres technisches Gerät wie etwa einen Bagger. Der hätte am Ende mehr zerstört, als er genutzt hätte.
Stattdessen legten die Mitarbeiter die fünf Leichname im Laufe des Tages mithilfe von Kellen frei. Die Knochen der verschiedenen Leichen hatten sich nicht vermischt, was die Arbeit für die Anthropologen erleichterte. Man fotografierte alle Skelette, verpackte sie in Kisten, beschriftete diese und verfrachtete sie ins Labor der University of Arizona in Tucson.
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Ausgrabungen 1989
Analyse der Skelette
Dort untersuchte man die Knochen sorgfältig. Einige Skelettteile leitete man zwecks Datierung und Altersanalyse an den anthropologischen Kurator des Smithsonian Instituts, Douglas Ubelaker, weiter. Mithilfe bekannter Informationen konnten die Wissenschaftler so zunächst die Identität jedes Toten klären.
Anschließend begutachteten sie alle Knochenbeschädigungen, die möglicherweise auf eine Verletzung zurückzuführen waren. Will man die konkrete Todesursache bestimmen und hat nur ein Skelett zur Verfügung, kann dies mitunter schwierig sein. Falls der Tote durch eine Kugel, einen Messerstich oder stumpfe Gewalteinwirkung starb, vereinfacht dies die Analyse ungemein. Denn all dies hinterlässt häufig auch sichtbare Spuren am Knochenapparat.
Alle Leichen wiesen schwere Kopfverletzungen auf, die von Hieben mit einem Beil herrühren konnten. Zudem bemerkten die Wissenschaftler Schnittkerben an den Armen und Händen von drei Toten, die auf Abwehrverletzungen hindeuteten. Andere Vertiefungen im Knochengewebe sprachen eher dafür, dass jemand mit einem Messer Fleischstücke aus den Körpern entfernt hatte. Letztere Verwundungen fanden sich an allen fünf Leichen.
Fazit der Untersuchung
Starrs kam zu dem Schluss, dass Packer alle fünf Männer höchstwahrscheinlich ermordet und sich von ihren Leichen ernährt hatte – was er in seinen Geständnissen immer anders dargestellt hatte. Ob er dies allerdings von Anfang an geplant hatte oder die Tat eher eine Art Kurzschlussreaktion war, ließ sich anhand der Spuren nicht klären.
Es ließ sich nur folgern, dass Packer irgendwann den Entschluss fasste, seine Kameraden hinterrücks zu ermorden. Möglicherweise konnte er zwei von ihnen im Schlaf erschlagen. Mit den übrigen drei kam es dann zu einem Kampf, was die Abwehrverletzungen nahelegten.
1994 untersuchte David P. Bailey, Kurator des Museum of Western Colorado in Gunnison, erneut den Tatort und fand dort seinen Angaben zufolge Packers Pistole, einen Colt Baujahr 1862. Der Revolver war geladen, es befanden sich noch drei Kugeln in den Kammern. Es war allerdings lange Zeit unklar, ob sich die Herkunft der Waffe tatsächlich nachweisen ließ.
2001 führte Dr. Richard Dujay vom Mesa State College einen Vergleich der vermeintlichen Tatwaffe und der darin befindlichen Munition mit einigen Wunden am Leichnam von Shannon Bell durch.
Er kam zu dem Schluss, dass Bell wohl von einer Kugel aus Packers mutmaßlicher Waffe im Unterleib getroffen wurde. Dies beantwortete allerdings nicht die Frage, ob Packer aus Notwehr gehandelt hatte oder ob Bell schlichtweg das letzte überrumpelte Opfer war, das dieser tötete. Kurzum: Die Frage nach Packers Schuld oder Unschuld wird noch länger ein Geheimnis beziehungsweise eine Glaubensfrage bleiben.
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Hallo,
ich bin irgendwie auf die von Ihnen beschriebenen Fälle gestoßen.
Ihr Schreibstil gefällt mir sehr, in einem anderen Fall auch mit humorvollen, kleinen
Beschreibungen gespickt, ich mag das.
Bisher habe ich Videos zu solchen Fällen gesehen, aber wenn es so gut beschrieben wird ist es fast wie im Video und dazu noch viel konzentrierter.
Herzlichen Dank dafür, Ruth Kistner.
Vielen Dank!
Richard Deis