Die Frage, ob Gary Heidnik zurechnungsfähig war, sollte auch den Strafprozess gegen ihn prägen, der am 20. Juni 1988 begann. Heidnik konnte sich einen eigenen Rechtsbeistand leisten und engagierte den bekannten Prozessanwalt Charles Peruto. Dem Verteidiger war angesichts der Beweislage schnell klar, dass es nur eine Erfolg versprechende Strategie gab, um seinem Mandanten zumindest die Todesstrafe zu ersparen. Peruto musste dem Gericht überzeugend darlegen, dass Gary Heidnik zum Zeitpunkt seiner Verbrechen nicht zurechnungsfähig war. Denn bereits die ersten beiden Prozesstage würden den Geschworenen unmissverständlich klarmachen, was sein Klient den Opfern angetan hatte.
Verheerende Zeugenaussagen
Die Anklage rief zu Beginn des Verfahrens nacheinander die überlebenden Opfer, ihre Angehörigen, die leitenden Ermittler der Mordkommission und die Beamten der Gerichtsmedizin in den Zeugenstand. Die erste Zeugin war Lisa Thomas, die in allen Einzelheiten schilderte, wie Gary Heidnik sie angekettet, geschlagen und vergewaltigt hatte. Als nächste Zeugin trat Josefina Rivera auf, die gleichermaßen anschaulich wie drastisch den Tod von Sandra Lindsay und Deborah Dudley beschrieb. Sie verschwieg auch nicht, dass sie Heidnik bei mehreren Bestrafungen und insbesondere bei der Ermordung von Deborah Dudley tatkräftig unterstützt hatte. Die Zeugin Jacquelyn Askins stellte klar, dass Josefina Rivera diese Dinge nur getan habe, wenn Heidnik ihr mit Bestrafung oder dem Tod gedroht habe.
Der Gerichtsmediziner Dr. Paul Hoyer unterrichtete die Geschworenen darüber, welche Leichenteile die Ermittler in Heidniks Küche sichergestellt hatten. So nüchtern, wie er die Liste herunterratterte, konnte man meinen, er lese vom Einkaufszettel für den Metzger vor: zwei Unterarme; ein Oberarm, zwei Knie, zwei Reststücke Oberschenkel. Alle mit einer Säge zerteilt. Bänder, Muskeln und Haut noch intakt. Alles in allem gut zehn Kilo Menschenfleisch, die man sorgfältig verpackt in Heidniks Kühlschrank gefunden hatte.
Abgelehnt
Verheerende Aussagen für Perutos Mandanten. Der Anwalt ging zum Gegenangriff über. Er verlangte von Richterin Lynne Abraham, die Geschworenen darüber in Kenntnis zu setzen, dass Josefina Rivera möglicherweise als Komplizin von Heidnik zu betrachten sei. Richterin Lynne Abraham antwortete, das könne sie wohl tun. Doch Peruto müsse sich klar machen, was dies für seinen Mandanten bedeuten würde. Wenn Heidnik Rivera um Mithilfe gebeten habe, sei dies ein Indiz dafür, dass er zum Tatzeitpunkt zurechnungsfähig gewesen sei. Peruto verzichtete nach dem Wink mit dem Zaunpfahl auf seine Forderung.
Danach stellte er den Antrag, den Vorwurf »vorsätzlicher Mord« aus der Anklage zu streichen. Die Schilderungen der Zeuginnen würden doch den Schluss nahelegen, dass Heidnik nicht geplant habe, Sandra Lindsay und Deborah Dudley zu töten. Speziell im Fall Sandra Lindsay sei er wohl davon ausgegangen, dass sie schwanger gewesen sei und deshalb aus seiner Sicht nicht sterben durfte. Der tragische Tod der beiden Frauen sei also bestenfalls als Mord im Affekt zu werten, wenn man davon ausginge, dass Deborah Duley ihn mit ihrem aufsässigen Verhalten zuvor wütend gemacht habe. Richterin Abraham lehnte den Antrag ab.
Keine klaren Antworten
Perutos Verteidigung beruhte im Wesentlichen auf zwei Entlastungszeugen: den Psychiatern Dr. Clancy McKenzie und Dr. Jack Apsche. Doch gleich der erste Zeuge der Verteidigung entpuppte sich als Reinfall. Dr. McKenzie hatte Heidnik über hundert Stunden befragt. Er kannte Heidnik in- und auswendig. Aber die Geschworenen bekamen nichts davon zu hören.
Dr. McKenzie äußerte zwar, dass er der Meinung sei, Gary Heidnik habe nicht begriffen, dass sein Verhalten unrecht gewesen sei. Aber bei der übrigen Befragung gab McKenzie nie konkrete Antworten auf konkrete Fragen. Stattdessen verlor er sich in allgemeinen und weitschweifigen Erörterungen des Krankheitsbildes Schizophrenie. Die Geschworenen waren nach einer Weile komplett verwirrt. Worum ging es hier? Sie verstanden nur Bahnhof.
Krankheitsgeschichte irrelevant
Am nächsten Tag steckte die Verteidigung eine weitere Niederlage ein. Richterin Abraham ließ einen Großteil der Aussage von Dr. Apsche, dem zweiten Gutachter, wieder aus dem Protokoll streichen. Dies betraf in erster Linie seine Schilderung von Heidniks Krankengeschichte. Sie hielt die Vorgeschichte als irrelevant für den Fall.
Die Entscheidung traf Peruto völlig unvorbereitet. Seine ganze Strategie hatte auf den Aussagen dieser beiden Experten beruht. Nun hatte der eine selbst seine Glaubwürdigkeit untergraben und der andere durfte die Ergebnisse seiner wochenlangen Recherchen nicht vortragen. Peruto war überzeugt gewesen, nahezu lückenlos nachweisen können, dass Heidnik praktisch sein gesamtes Erwachsenenleben über psychisch krank gewesen war.
»Er wusste genau, was er tat«
Peruto spielte seine letzte Trumpfkarte aus. Er rief einen weiteren Psychiater, Dr. Kenneth Kool, in den Zeugenstand. Wieder intervenierte die Richterin. Sie ließ die Aussage zwar zu, verwies aber die Geschworenen des Gerichtssaals. Lynne Abraham war der Ansicht, dass seine Aussage die Jury »verwirren« könne.
Staatsanwalt Gallagher hatte zuvor den Zeugen befragt. Dabei hatte sich herausgestellt, dass Dr. Kool sich lediglich zwanzig Minuten mit Heidnik unterhalten hatte. Genau genommen hatte Heidnik ihn zwanzig Minuten angeschwiegen, bevor Dr. Kool entnervt aufgegeben hatte. Worauf denn dann sein Gutachten gründe, fragte Gallagher. Auf Heidniks Krankenakte, antwortete Dr. Kool.
Staatsanwalt Gallagher berief anschließend einen Zeugen, der die Strategie der Verteidigung endgültig ad absurdum führte. Robert Kirkpatrick war Heidniks Börsenmakler bei Merrill Lynch. Kirkpatrick beschrieb Heidnik als einen »scharfsinnigen Investor, der genau wusste, was er tat.« Und dieser gewiefte Geschäftsmann sollte unzurechnungsfähig sein? Never ever.
Das Urteil
Die Beweislage gegen Gary Heidnik war erdrückend. Dennoch benötigten die Geschworenen zweieinhalb Tage, um sich zu beraten. Peruto schöpfte wieder Hoffnung. Vielleicht hatte die Jury doch in Betracht gezogen, dass sein Mandant im wahrsten Sinne des Wortes krank war. Obwohl die Richterin alles dafür getan hatte, ihnen diesen Fakt vorzuenthalten. Peruto ahnte, was dahintersteckte. Abraham wollte für das Amt des Bezirksstaatsanwalts kandidieren. Da wurde man nur gewählt, wenn man knallharter Verfechter der Todesstrafe war. Aber die Geschworenen scherte das vielleicht nicht. Sie sahen die kranken Taten von Heidnik und schlussfolgerten, dass sie nur einem kranken Kopf entsprungen sein konnten.
Perutos Hoffnungen zerschlugen sich, sobald die Sprecherin der Geschworenen das Urteil verlas. Die Geschworenen befanden den Angeklagten des zweifachen Mordes für schuldig und einer Reihe anderer Vergehen obendrein: Entführung, Freiheitsberaubung, widerrechtliche Fixierung, Vergewaltigung, sexuelle Nötigung, unsittliche Entblößung, diverse Sittlichkeitsvergehen, schwere und einfache Körperverletzung. Aber vor allen Dingen hielten sie Gary Heidnik für voll zurechnungsfähig. Angesichts der besonderen Schwere der Schuld zog dies gemäß dem Gesetz eine Verurteilung zum Tode nach sich.
Gary Heidnik zeigte keinerlei Emotionen, als das Urteil verkündet wurde. Es dauerte elf Jahre, bis der Staat das Urteil nach zahlreichen Berufungsverhandlungen und Aufschiebungsgesuchen vollstreckte. Heidnik unternahm zuvor mehrere Selbstmordversuche, die alle misslangen, weil die Wärter ihn rechtzeitig entdeckten. Der Staat wollte die Kontrolle darüber behalten, wann Heidnik sein Leben verlor. Am 6. Juli 1999 gegen 22.30 Uhr starb Gary Heidnik durch eine Giftspritze.
Ein Leben nach Gary Heidnik
Die überlebenden Opfer Josefina Rivera, Lisa Thomas, Jacquelyn Askins und Agnes Adams verklagten gemeinsam Heidnik noch zu dessen Lebezeiten vor einem Zivilgericht. Sie forderten, dass ihnen sein noch bestehendes Vermögen als Schmerzensgeld zugesprochen wurde. Auch der Staat streckte die Hand aus. Die Steuerbehörde IRS behauptete, Heidnik habe Steuern hinterzogen. Die Kirche, auf deren Namen sein Investmentkonto lief, sei nur Fassade gewesen. Er habe von Anfang an damit das Finanzamt austricksen wollen.
Bis zum heutigen Tag leiden die Opfer Jacquelyn Askins, Lisa Thomas und Agnes Adams an den Folgen des Kidnappings. Die drei bleiben lebenslang hörgeschädigt nach Heidniks brutaler Misshandlung mit dem Schraubenzieher. Noch schlimmer sind die psychischen Folgen. »Ich komme an einer Baustelle vorbei, wo ein paar Bauarbeiter ein Loch graben. In dem Moment denk ich an gar nichts. Aber in der gleichen Nacht befällt mich plötzlich ein Gefühl der Panik, das mir die Luft abschnürt. Das Bild hat unterbewusst irgendeine Erinnerung in mir wachgerufen, die ich tagsüber noch unterdrückt habe«, so beschreibt es Josefina Rivera. »Oder ich sehe einen Schraubenzieher oder eine Kette. Gewöhnliche Dinge des Alltags für die meisten Menschen, denen sie keine Beachtung schenken. Bei mir kann der Anblick im schlimmsten Fall eine monatelange Depression auslösen.«
Nachdem Josefina Rivera wieder in Freiheit war, wurde sie erneut drogenabhängig. Sie verlor auch das Sorgerecht für die beiden Kinder, die ihr geblieben waren. »Meine Zeit in dem Kellerverlies hat mich für immer verändert. Ich habe versucht, wieder die Person zu werden, die ich war, bevor ich Heidnik traf. Aber das war einfach nicht möglich.« Seit etlichen Jahren ist Josefina Rivera nun clean und seit 2010 hat sie auch wieder Kontakt zu ihrer Familie. Ihre Töchter haben selber Kinder bekommen. Inzwischen sind es bereits sechs Enkel.
»Lange Zeit haben mich die Erinnerungen an Heidnik verfolgt. Die Erinnerungen an die Frauen, die neben mir starben. Man kommt nie ganz darüber hinweg, wenn man so etwas erlebt hat. Ich musste akzeptieren, dass es Teil meines Lebens ist. Es bleibt dennoch ein täglicher Kampf«, sagt Josefina Rivera, die heute in Atlantic City lebt. »Dass ich nun täglich das Meer sehen darf, wenn ich aufwache, hat mir sehr geholfen – hier fühle ich mich endlich frei und sicher.«
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