(2) Johnny Torrio

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Das Haus der Capones am Garfield Place lag nur drei Querstraßen entfernt von der Kreuzung Union Street und 4th Avenue. Dort hatte Johnny Torrio im ersten Stock eines unscheinbaren Gebäudes sein Hauptquartier eingerichtet. Den Gangstertreff über einem Restaurant tarnte er als »Geselligkeitsverein« – eine Masche, die mindestens noch bis zu Zeiten eines John Gotti in den 1980ern Bestand hatte.


Ich weiß ehrlich gesagt nicht, ob es sich bei dem Gebäude links um das ehemalige Hauptquartier von Johnny Torrio handelt. Aber das italienische Restaurant „Bella Gioia“ im Erdgeschoss … man kann es sich zumindest vorstellen. Der Laden war strategisch günstig gelegen: genau zwischen Capones Elternhaus und Schule.

 

Neue Generation von Gangstern

Der unauffällige Torrio gehörte einer neuen Generation von Gangstern an. Seine kriminelle Energie beschränkte sich darauf, mit illegalen Geschäften möglichst viel Geld zu machen. Die Schutzgelderpressung, quasi das Grundprinzip der Mafia, betrachtete er als eine Art soliden Businessplan. Damit waren regelmäßige Umsätze garantiert, doch die Gewinne waren beschränkt. Von den Einnahmen musste man eine Armee von Schlägern bezahlen, die die meiste Zeit nutzlos herumlungerten. Die Möglichkeiten, die Umsätze zu steigern, waren beschränkt.

Torrio reichte dies nicht. Er war der Überzeugung, dass man die Gewinne aus den Schutzgelderpressungen in neue kriminelle Aktivitäten investieren müsse, die lukrativere Renditen abwarfen. Torrio besaß das kaufmännische und organisatorische Talent, um dieses Vorhaben mit Leben zu erfüllen. So hielt er ständig nach Gelegenheiten Ausschau, sein kriminelles Imperium zu erweitern. Er beteiligte sich beispielsweise an Bordellen und Spielhöllen.

Al Capone - Johnny Torrio
Johnny Torrio, 1936

Laufburschen

Alsbald stieg er zu einem der einflussreichsten Gangster der Ostküste auf. Viele Halbwüchsige in der Nachbarschaft sahen in ihm ein Vorbild. Torrio stammte wie sie aus einer ärmlichen Einwandererfamilie und hatte es scheinbar ganz nach oben geschafft. Dass er den Aufstieg kriminellen Machenschaften verdankte, störte in dieser Gegend niemanden. Man redete sich Zuhälterei und Glücksspiel schön. Das seien doch »Verbrechen ohne Opfer«.

Die Jungen konnten sich bei Torrio ein Taschengeld hinzuverdienen. Sie erledigten kleinere Besorgungen für den Gangsterboss oder übernahmen einen Botengang. Zu dieser Gruppe von Laufburschen zählte auch Al Capone. Torrio mochte den cleveren, aufgeweckten Jungen. Möglicherweise entdeckte er in dem jungen Capone ein Abbild seiner selbst.

Johnny Torrio war wie Al Capone eher kleinwüchsig. Er hatte früh lernen müssen, dass ihm seine Fäuste nicht viel halfen, um sich gegen die größeren, stärkeren Jungs durchzusetzen. Aber Torrio besaß Köpfchen, Einfallsreichtum und ein Talent, Allianzen mit anderen zu schmieden. Damit sicherte er sein Überleben auf der Straße.

Bürgerliche Fassade

Im Laufe der Zeit vertraute Torrio dem jungen Capone immer mehr. Er betraute ihn mit anspruchsvolleren Aufgaben. Und er gewährte ihm Einblicke in den Aufbau seiner Verbrecherorganisation. Gleichzeitig lehrte Torrio seinen Protegé, wie wichtig es war, nach außen hin die bürgerliche Fassade zu wahren, um ungestört seinen kriminellen Geschäften nachgehen zu können.

Torrio trat stets als gepflegter Geschäftsmann auf. Bei seinen Auftritten in der Öffentlichkeit verhielt er sich höflich und bescheiden. Er legte viel Wert darauf, als treu sorgender und respektabler Familienvater wahrgenommen zu werden, der pünktlich zum Abendessen zu Hause erschien.

Torrio verwendete viel Energie darauf, dieses Trugbild aufrechtzuerhalten. Er ließ seine Nachbarn im Glauben, er führe ein völlig normales Leben wie alle anderen Menschen auch, obwohl er seinen Wohlstand in Wahrheit den Hurenhäusern und Spielhöllen verdankte. Diese Heuchelei war ihm zur zweiten Natur geworden.

Es steckte etwas mehr als nur Täuschung dahinter. Torrio schien fest daran zu glauben, dass seine bürgerliche Fassade die Tatsache entschuldigte, dass seine Schläger die Leute einschüchterten, verprügelten und notfalls töteten.

1909 verließ Johnny Torrio jedoch Brooklyn und ging nach Chicago. Der junge Al Capone musste sich vorläufig nach anderen Vorbildern umschauen.

Die Gangs von Brooklyn

Die Kinder, die in den Einwanderervierteln von Brooklyn aufwuchsen, organisierten sich damals in Banden. Es gab italienische, jüdische und irische Straßengangs. Sie bildeten sich aus den Kids, die in einem Straßenblock oder einem bestimmten Wohnviertel lebten. Die erste Gang, der Capone angehörte, nannte sich »South Brooklyn Ripper«. Später war er noch Mitglied der »Forty Thieves Juniors« und der »Five Point Juniors«.

Diese Jugendbanden waren nicht annähernd so brutal und mit Waffen hochgerüstet wie heutige Gangs in den amerikanischen Metropolen. Die Banden wurden von ein paar älteren, durchsetzungsfähigen Jungen angeführt. Meistens hingen sie nur gemeinsam herum, vertrieben sich die Zeit mit Spielen und Unfug.

Ab und an prügelten sie sich mit anderen Gangs, begingen einige kleinere Diebstähle oder Sachbeschädigungen. Sie zogen heimlich an ihrer ersten Zigarette. Sie probierten Alkohol. Sie machten ihre ersten sexuellen Erfahrungen. Und sie dachten sich das eine oder andere geheime Ritual aus, das sie noch enger zusammenschweißte.

Einer Straßengang anzugehören, bot den Kindern eine Möglichkeit, dem eher trostlosen Alltag zu entkommen und ein Ventil für die aufgestauten Energien zu finden. Teil solch einer Gruppe zu sein, bedeutete auch ein Stück weit Freiheit. Die Banden grenzten sich bewusst von der Erwachsenenwelt und ihren Regeln ab.

Schulen und Kirchen, deren Aufgabe es gewesen wäre, sich um Jugendliche in diesem Alter zu kümmern, fehlten die finanziellen Mittel, um dem gerecht zu werden. So verfügten in den Slums von Brooklyn beispielsweise nur wenige Schulen über einen Sport- oder Spielplatz.

Ein umgänglicher und wohlerzogener Junge

Doch obwohl Al Capone bei den Straßenbanden mitmischte und für den Gangsterboss Johnny Torrio gearbeitet hatte, hieß dies noch lange nicht, dass er unweigerlich auf die schiefe Bahn geraten musste. Die meisten Jungen in Capones Nachbarschaft verbrachten ihre Kindheit ganz ähnlich und entwickelten sich als Erwachsene völlig anders als Capone.

Auch Al Capone war bestimmt nicht das, was man heute unter einem jugendlichen Intensivtäter versteht. Und niemand hätte sich zu diesem Zeitpunkt vorstellen können, dass er sich eines Tages zu einem der gefürchtetsten Gangsterbosse aller Zeiten entwickeln würde. Er galt zwar trotz seiner geringen Größe als rauflustig. Doch wegen solcher Prügeleien unter Kindern wandte sich damals niemand an die Polizei oder ans Jugendamt.

Die meisten seiner Zeitgenossen sahen in Al Capone eher einen umgänglichen, wohlerzogenen Jungen, der noch bei seinen Eltern lebte. Es drängte ihn nicht nach Aufmerksamkeit. Wenn er sprach, redete er mit leiser Stimme, in der keinerlei Feindseligkeit mitschwang. Er verhielt sich freundlich und respektvoll gegenüber anderen. Er kehrte jeden Abend brav nach Hause zurück, ohne um die Häuser zu ziehen.

Seine einzige Leidenschaft galt dem Tanzen. Ansonsten verdingte er sich tagsüber als tüchtiger, zuverlässiger Lohnarbeiter. Zunächst arbeitete er in einer Munitionsfabrik, dann als Zuschneider in einer Papierfabrik. Kurzum: Bis zu seinem 21. Lebensjahr führte der gefürchtete Al Capone ein nahezu unscheinbares Leben.

 

weiter zu —> (3) Frankie Yale

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