(2) Noch mehr verschwundene Kinder

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Als die Polizisten sich die Geschichte zu Ende angehört hatten, mussten sie den Budds eine schlechte Nachricht unterbreiten. Die Adresse, unter der die Schwester von Frank Howard wohnen sollte, existierte nicht. Die Columbus Avenue endete bereits an der 109. Straße. Der nette ältere Herr war ein Betrüger. Und er hieß auch nicht Frank Howard. Denn wie die polizeilichen Ermittlungen ergeben sollten, war in Farmingdale, Long Island, niemand unter diesem Namen gemeldet.

Die Polizei ermittelt

Die Polizei überprüfte dennoch jedes Detail der Geschichte, die der angebliche Frank Howard den Budds aufgetischt hatte. Denn oft genug streuten solche Ganoven ein paar Brocken Wahrheit in ihre Lügengeschichten, um sie glaubhafter erzählen zu können. Vielleicht ergab sich dadurch ein guter Ansatzpunkt für weitere Recherchen. Sie zeigten den Eltern zudem Bilder aus der Verbrecherkartei. Sie überprüften aktenkundige Pädophile und Patienten aus psychiatrischen Kliniken. Doch die Ermittlungen endeten in einer Sackgasse. Grace Budd blieb spurlos verschwunden.

Am 7. Juni 1928 verschickte die New Yorker Polizei über 1.000 Fahndungsgesuche an alle Polizeireviere im Land. Sie fügten dem Schreiben ein Foto der vermissten Grace und eine Personenbeschreibung ihres Entführers bei. Natürlich berichtete auch die Presse ausführlich über den Fall.

Im New York Police Department gingen daraufhin zahlreiche Hinweise von Bürgern ein, die Grace Budd angeblich kürzlich lebend gesehen haben wollten. Dazu gesellten sich zahllose haltlose Anschuldigungen harmloser Nachbarn und Geständnisse vermeintlicher Täter. Die Polizei musste allen diesen Hinweisen nachgehen. Inzwischen arbeiteten mehr als 20 Kriminalbeamte an dem Fall. Anders war das Pensum nicht zu bewältigen.

Wenige solide Ermittlungsansätze

Es hatten sich nur wenige solide Ermittlungsansätze ergeben. So hatten die Beamten herausgefunden, auf welcher Poststelle der angebliche Frank Howard das Telegramm aufgegeben hatte. Die Agentur von Western Union hatte sogar noch das Originalschreiben vorliegen. Die Handschrift und die geschliffene Ausdrucksweise ließen vermuten, dass der Verfasser über eine gewisse Bildung verfügte.

Die Polizisten machten außerdem einen Händler ausfindig, bei dem der alte Mann mit dem auffälligen grauen Schnurrbart den Hüttenkäse gekauft hatte, den er als Geschenk für die Budds bei sich führte. Sowohl die Poststelle als auch der Käsehändler befanden sich in East Harlem. Die Polizei konzentrierte ihre Suche auf diesen Stadtteil. Offensichtlich hatte der Täter engere Bindungen zu diesem Ort. Möglicherweise lebte oder arbeitete er hier.

Billy Gaffney

Die Ermittler übersahen zum damaligen Zeitpunkt jedoch die Parallelen zu einem Vermisstenfall, der sich ein Jahr zuvor ebenfalls in New York ereignet hatte. Auch hier war ein Kind spurlos verschwunden und die Täterbeschreibung lautete: alter Mann mit grauem Haar und Schnurrbart.

Am 11. Februar 1927 spielte der vierjährige Billy Gaffney mit einem drei Jahre alten Nachbarsjungen, der ebenfalls Billy hieß, vor dem Haus, in dem beide lebten. Ein älterer Junge kam heraus und gesellte sich zu ihnen. Nach ein paar Minuten hörte dieser seine kleinere Schwester schreien, auf die er aufpassen sollte. Er ging wieder hinein. Als er nach ein paar Minuten wieder nach draußen zurückkehrte, war von den beiden Billys nichts mehr zu sehen.

Dem Jungen kam die Angelegenheit komisch vor. Er unterrichtete den Vater des jüngeren Billys. Die beiden suchten die nähere Umgebung ab. Erst auf dem Dach des Gebäudes wurden sie schließlich fündig. Dort hockte der 3-Jährige – alleine.

»Wo ist Billy Gaffner?«, fragte der Vater seinen Sohn.

»Der schwarze Mann hat ihn geholt«, antwortete der kleine Billy.

Der »graue Mann«

Billy Gaffner tauchte nicht wieder auf. Als die Polizei am nächsten Tag anrückte, wiederholte der 3-Jährige seine Erklärung. Die Beschreibung half den Beamten wenig weiter. Ihr Zuständigkeitsbereich endete am Märchenland.

Sie schauten sich stattdessen in der Umgebung um und entdeckten einige Fabrikgebäude. Möglicherweise war Billy neugierig gewesen, hatte sich in den riesigen Hallen verirrt oder sich bei einem Unfall verletzt. Doch sie fanden keine Spur von dem Jungen. Einige Blocks entfernt verlief ein Kanal. Konnte Billy so weit gelaufen sein und war er vielleicht ins Wasser gestürzt? Man organisierte gemeinsam mit Anwohnern eine Suchaktion – vergeblich.

Albert Fish - Billy Gaffney
Billy Gaffney

Einer der Polizisten kam auf die Idee, nochmals den kleinen Billy zu befragen. Vielleicht meinte er mit dem »schwarzen Mann« gar keine Figur aus einem Märchen oder Kinderspiel, sondern einen realen Menschen, den er nicht besser zu beschreiben wusste. Wie sich herausstellte, benutzte der Junge den Begriff »schwarzer Mann« tatsächlich eher wie ein Synonym für »böser Mann«. Und der »schwarze Mann« war in Wirklichkeit eher ein »grauer Mann« gewesen: graues Haar, grauer Schnäuzer. Sehr alt und hager.

Allzu viel wusste die Polizei dennoch nicht mit der Täterbeschreibung anzufangen. Denn auch in diesem Fall übersah man die Ähnlichkeiten zu einem Verbrechen, das noch weiter zurücklag und bei dem ebenfalls ein »grauer Mann« als Hauptverdächtiger aufgefallen war.

Francis McDonnell

Im Juli 1924 spielte der 8-jährige Francis McDonnell auf der Wiese vor seinem Elternhaus. Seine Mutter saß auf der Veranda und hielt seine kleine Schwester auf dem Arm, die friedlich schlief. Ihr fiel ein hagerer älterer Mann mit grauem Haar und Schnurrbart auf, den sie noch nie in ihrem Viertel Charlton Woods auf Staten Island gesehen hatte.

»Er kam die Straße heruntergeschlurft«, erinnerte sich die Mutter Annie McDonnell später, »und murmelte irgendetwas vor sich hin. Dabei machte er so seltsame Handbewegungen. Diese Hände werde ich nie vergessen. Als ich sie sah, lief mir ein Schauer über den Rücken. Wie sie sich öffneten und schlossen, öffneten und schlossen, öffneten und schlossen … immer wieder. Ich sah, wie er Francis und die anderen Kinder anblickte. Ich sah dieses dicke graue Haar und seinen herabhängenden grauen Schnurrbart. Alles an ihm wirkte verwaschen und grau.«

Als der Fremde bemerkte, dass man ihn er beobachtete, tippte er an die Hutkrempe und verschwand. Im Laufe des Nachmittags wurde der gleiche Mann erneut gesichtet. Er schaute Francis und vier anderen Jungs beim Ballspiel zu. Der Alte rief Francis zu sich herüber. Die anderen Jungen störten sich nicht daran und spielten weiter. Einige Minuten später waren Francis und der Mann verschwunden. Ein Anwohner sagte später aus, er habe einen Jungen, der Francis McDonnell ähnelte, und einen älteren grauhaarigen Mann beobachtet, die in einen Wald hineinspaziert seien.

Fürchterlich zugerichtet

Das Verschwinden von Francis fiel erst beim Abendessen auf. Sein Vater war Polizist und organisierte sofort eine Suche. Man entdeckte den Jungen in einem Gehölz. Der Täter hatte Francis notdürftig mit einigen Zweigen bedeckt. Der Junge war mit seinen Hosenträgern erdrosselt worden. Sein Leichnam war fürchterlich zugerichtet.

Der Täter hatte ihm die Kleider vom Leib gerissen. Er hatte Francis so übel verprügelt, dass die Polizei Zweifel hatte, ob der alte Landstreicher tatsächlich so alt und gebrechlich gewesen war, wie er von den Zeugen beschrieben wurde. Die Beamten wollten auch nicht ausschließen, dass der Alte möglicherweise einen Komplizen gehabt hatte, der über genügend Kraft verfügte, den Jungen so zuzurichten.

Das NYPD trommelte 250 Streifenbeamte zusammen und setzte seine besten Leute aus der Spurensicherung auf den Fall an. Die konzertierte Fahndungsaktion führte zu etlichen Verhaftungen. Allerdings wies keiner der Verdächtigen Ähnlichkeiten mit dem grauhaarigen, schnurrbärtigen Landstreicher auf. Allen Bemühungen zum Trotz schien sich der »graue Mann« wieder einmal in Luft aufgelöst zu haben.

 

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