(4) Vier Frauen, die keiner vermisst

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Die Luft für Fritz Honka wurde immer dünner. Die Polizei witterte immer noch Verwesungsgeruch in Honkas Bude, obwohl sie die Leichen bereits abtransportiert hatte. Die Beamten stellten die Wohnung nochmals komplett auf den Kopf. Wie zuvor wurden sie in der Abseite fündig – dem Zwischenraum zwischen Honkas Wohnungswand und der Dachtraufe. Honka hatte dort in der anderen Ecke seines Mansardenapartments eine vierte zerstückelte Leiche versteckt.

Keine Vermisstenakten

Die Ermittler standen vor der schwierigen Aufgabe, die unbekannten Frauen zu identifizieren. Honka redete nach wie vor nicht. Wie sich später herausstellen sollte, waren alle vier Opfer verschwunden, ohne dass jemand Vermisstenanzeige gestellt hatte. Die Beamten konnten also nicht in den Vermisstenakten fündig werden.

Honka hatte sich offenbar zielgenau Personen ausgesucht, die ihr Leben in völliger Einsamkeit verbrachten. Niemand kümmerte es, wenn sie verschwanden. Niemand scherte sich darum, was mit ihnen geschehen war. Am allerwenigsten die flüchtigen Kneipenbekanntschaften, die den letzten verbliebenen zwischenmenschlichen Kontakt darstellten. Die interessierte nur der nächste Suff.

Fehlende Puzzlestücke

Die Polizei konnte den ersten Durchbruch verbuchen, nachdem die Gerichtsmedizin die Funde in Augenschein genommen hatte. Das Dachgeschoss in der Zeißstraße beherbergte die kompletten Leichname dreier Frauen. Außerdem hatte man den Torso und ein rechtes Bein einer vierten Frau gefunden, zu der die übrigen Körperteile fehlten.

Beim Mordermittler Jürgen Vierle, der in den Fall Honka involviert war, fiel der Groschen nun markweise. Genau solch ein Torso und rechter Frauenschenkel fehlten ihm in einem kriminalistischen Puzzle, mit dem er sich bereits seit vier Jahren beschäftigte.

Am 2. November 1971 hatte ein Arbeiter auf dem Gelände der ehemaligen Schokoladenfabrik Holstatia in der Gaußstraße 124 eine zerstückelte Frauenleiche entdeckt. Die Nachbarn nutzten das Grundstück als illegale Mülldeponie. Auch der Arbeiter hatte seinen Schrott hier abladen wollen.

Unter dem Müll fand er einige verschnürte Pakete aus Zeitungspapier. Neugierig öffnete er eines davon. Es enthielt ein abgeschnittenes Körperglied einer menschlichen Leiche. Die verständigte Kriminalpolizei konnte auf dem Gelände einen Kopf, zwei Arme, zwei Hände, zwei Füße, zwei abgeschnittene Brüste und einen linken Schenkel sicherstellen. Der Rest fehlte – bis jetzt.


Das rote Gebäude gehört zur ehemaligen Schokoladenfabrik.

Meilenstein der Kriminalgeschichte

Die Fingerkuppen und der Kopf waren bereits stark verwest, sodass eine Identifizierung unmöglich erschien. Was folgte, sollte als Meilenstein in die deutsche Kriminalgeschichte eingehen. Der Hamburger Rechtsmediziner Dr. Ulrich Klages entwickelte ein Verfahren zur Gesichtsrekonstruktion. Er benutzte dazu Paraffinwachs, das er in den mumifizierten Schädel gab. Damit ließen sich die Gesichtskonturen wiederherstellen.

Das Verfahren war aus der Archäologie bekannt, wo man es zum Präparieren archäologischer Funde einsetzte. Anschließend schminkte man das Gesicht, fertigte Fotografien an und ließ auf Grundlage des Fotos von einem erfahrenen Zeichner eine Art Phantombild anfertigen. Das Bild ging an die Medien. Die Fahndung brachte den gewünschten Erfolg.

Phantomskizze nach der Gesichtsrekonstruktion
Phantomskizze nach der Gesichtsrekonstruktion

Gertraud Bräuer

Bei der Toten handelte es sich um die 43-jährige Gertraud Bräuer. Sie war in der Vergangenheit erkennungsdienstlich erfasst worden. Die Spur führte in das Rotlichtmilieu von St. Pauli. Dort war Bräuer, die zuvor auch als Friseurin tätig gewesen war, als Prostituierte auffällig geworden.

Sie hatte viele Jahre in den Kneipen am Hamburger Berg verkehrt. Ihr Verschwinden war dort nicht weiter aufgefallen, weil sie in der Vergangenheit bereits häufiger für mehrere Monate bei einem Freier untergetaucht war, bevor sie sich urplötzlich wieder in den Kneipen blicken ließ.

Zeugen hatten sie zuletzt Mitte Dezember 1970 im »Goldenen Handschuh« gesehen. Bei den damaligen Ermittlungen geriet Fritz Honka aber noch nicht in den Fokus der Polizei. Niemand vermochte zu sagen, wo Gertraud Bräuer abgeblieben war.

Die Polizei spekulierte, dass es für den Täter einen praktischen Grund gegeben hatte, die Leiche zu zerstückeln. Er hatte die Leiche vermutlich zu Fuß vom Tatort abtransportieren müssen. Es war also naheliegend, dass sich dieser Tatort in unmittelbarer Nähe zum Fundort befand.

Die Ermittler zogen einen Kreis von 500 Metern um die Ruine der Schokoladenfabrik und überprüften alle einschlägig vorbestraften Personen. Wieder hatte Honka Glück. Er wohnte zwar innerhalb des Radius – seine Wohnung lag keine 300 Meter entfernt. Doch erstmals aktenkundig wegen eines Sexualdelikts wurde er erst im August 1972. Wer weiß: Möglicherweise hätte die Polizei einen potenziellen Vergewaltiger und Frauenschläger bereits zu diesem Zeitpunkt näher unter die Lupe genommen.

Identifizierung der übrigen Opfer

Die Kriminalbeamten hatten in Honkas Wohnung zudem die Personalausweise zweier Frauen gefunden, die zur Identifizierung weiterer Opfer führen. Bei dem zweiten Opfer handelte es sich um die 54-jährige Gelegenheitsprostituierte Anna Beuschel, die Fritz Honka im August 1974 im »Goldenen Handschuh« kennengelernt hatte.

Die dritte Frau war die 58-jährige Frieda Roblick, die man anhand ihrer Fingerabdrücke identifizieren konnte. Sie war im Dezember 1974 verschwunden und verkehrte ebenfalls im Rotlichtmilieu. Sie war häufiger Gast im »Goldenen Handschuh«. Dort war sie Honka über den Weg gelaufen, der ihr 200 Mark für ihre Liebesdienste anbot.

Die letzte Tote war nur einen Monat später, im Januar 1975, verschwunden. Die 52-jährige Ruth Schult hatte sich wie alle anderen Opfer im »Goldenen Handschuh« aufgehalten. Einerseits hatte Honka der Polizei so lange entkommen können, weil sich offensichtlich niemand um die Opfer scherte.

Der Green River Killer Gary Ridgway war nach einer ähnlichen Masche vorgegangen. Erst nach 17 Jahren gelang es den Behörden, den Täter zu ermitteln. Hätte man Honka nicht durch Zufall aus dem Verkehr gezogen, hätte er seine Mordserie mit ziemlicher Sicherheit fortgesetzt. Honka war auf den Geschmack gekommen, wie die letzten drei Morde zeigten, die sich in rascher Folge ereigneten.

Andererseits fragten sich die Ermittler natürlich auch, warum sich keiner der Hausbewohner bei der Polizei gemeldet hatte. Im Unterschied zu Gary Ridgway hatte Honka seine Opfer nicht in freier Wildnis verscharrt, sondern in einem Mietshaus gelagert. Der Geruch der verwesenden Leichen musste speziell im Sommer 1975 schier unerträglich gewesen sein.

Tatsächlich hatten sich auch mehrere Bewohner beim Hausmeister über die anhaltende Geruchsbelästigung beschwert. Der Mann hörte sich im Haus um, was die Ursache sein könnte. Als er Honka befragte, hatte dieser eine einfache Erklärung parat.

Die Griechen, die im Haus wohnten, seien es schuld. Die würden ja immer so komischen Kram kochen, der halt seltsam stinke. Und irgendwie ließ man es auf dieser Erklärung beruhen.

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