(5) Highway to Hell

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Richard Ramirez wurde am 29. Februar 1960 als Sohn von Julian und Mercedes Ramirez, zweier mexikanischen US-Immigranten, geboren. Das Paar hatte noch drei weitere Söhne und eine Tochter. Richard war das fünfte und letzte Kind. Die Familie lebte zu dieser Zeit in El Paso (Texas), wo der Vater einen Job bei der Santa Fe Railroad hatte. Die Mutter war ebenfalls berufstätig. Sie arbeitete in einer Schuhfabrik, in der sie Chemikalien und Pigmente für Stiefelleder mischte.

Auch während sie mit Richard schwanger war, ging sie weiterhin zur Arbeit. Erst im fünften Monat der Schwangerschaft gab sie die Tätigkeit auf. Die Dämpfe der Chemikalien sowie eine schlechte Belüftung in der Fabrik verursachten ihr Übelkeit. Sie fühlte sich benommen und schwach.

Richards Schwangerschaft war nicht geplant. Dennoch wurde das Kind von allen Familienmitgliedern geliebt. Insbesondere seine Schwester Ruth war in das Baby vernarrt und kümmerte sich häufig um den kleinen Bruder. Julian und Mercedes Ramirez bemühten sich nach Kräften, den Kindern ein gutes Zuhause zu bieten. Ihr Einkommen war begrenzt und reichte oftmals nur aus, um über die Runden zu kommen.

Kindheitsprobleme

Von dem wenigen Geld bezahlten sie auch noch 15 Operationen, die ihr ältester Sohn Joseph über sich ergehen lassen musste. Joseph kränkelte seit Kindesbeinen und litt an schwerwiegenden Knochenproblemen. Ärzte hatten die Vermutung geäußert, dass seine Missbildungen eine Folge radioaktiven Niederschlags bzw. erhöhter radioaktiver Strahlung sein könnten. Die Familie hatte geraume Zeit im Bundesstaat New Mexico verbracht, in dem das US-Militär seinerzeit Atomwaffentests durchführte.

Die beiden jüngeren Brüder Ruben und Robert bereiteten auf andere Art und Weise Probleme. Beide waren schon in der Schule verhaltensauffällig und offenbarten Lernschwierigkeiten. Sie schnüffelten Klebstoff, stahlen Autos und brachen in Häuser ein. Mehrfach gerieten sie mit dem Gesetz in Konflikt.

Richard Ramirez wiederum erlitt als Kind zwei ernsthafte Kopfverletzungen. Während des ersten Unfalls war der Junge zwei Jahre alt. Eine Kommode stürzte um und begrub das Kind unter sich. Die Kopfwunde musste mit 30 Stichen genäht werden. Als Ramirez fünf war, wurde er auf einem Spielplatz von einem Schaukelsitz am Kopf getroffen. Er blieb vorübergehend bewusstlos. In der Folge traten bei ihm wiederholt epileptische Anfälle auf, die bis zur Pubertät anhielten.

Cousin Mike

Bis zur siebten Klasse waren seine schulischen Leistungen überdurchschnittlich gut. Im Alter von 13 Jahren baute er jedoch zunehmend ab. Ein Jahr zuvor war er unter den Einfluss seines Cousins Mike geraten. Der Cousin hatte über zwei volle Dienstzeiten als Green Beret im Vietnam-Krieg gedient und dabei vier Auszeichnungen erhalten. Gleichzeitig hatte er bizarre Andenken aus dem Krieg heimgebracht: Unzählige Polaroids, die Folteropfer, Verstümmelungen und Vergewaltigungen zeigten. Die Fotos hinterließen mächtig Eindruck bei Richard Ramirez.

Mikes Frau Jessie war hingegen überhaupt nicht angetan von der Wesensveränderung ihres Mannes nach seiner Rückkehr. Er prahlte mit seinen sexuellen Eroberungen in Asien, erzählte Geschichten, die nur so von Brutalitäten strotzten, und kiffte die übrige Zeit Joints. Die Konflikte zwischen dem Ehepaar schaukelten sich zunehmend hoch, bis die Situation eines Tages eskalierte. Mike schoss seiner Frau am 4. Mai 1973 mit einem Revolver ins Gesicht. Richard Ramirez war Augenzeuge der Tat.

Der Staatsanwalt klagte den Kriegsveteranen wegen Mordes an. Mikes Anwalt plädierte auf vorübergehende Unzurechnungsfähigkeit. Kriegshelden genossen in der US-amerikanischen Gesellschaft seit jeher einen Sonderstatus. Das Gericht ließ Milde walten. Der Mordvorwurf war vom Tisch. Der Richter ordnete eine Therapie an und eine Zwangseinweisung in eine psychiatrische Anstalt. Sollte die Therapie nach Einschätzung der Ärzte erfolgreich verlaufen, war Mike wieder ein freier Mann.

Früh übt sich

Mikes Einfluss auf Richard Ramirez war nachhaltig. Dessen Interesse an der Schule war vollkommen erloschen. Der 13-Jährige hatte dank seines Cousins Geschmack an Marihuana gefunden. Doch das Gras gab es nicht kostenlos. Sein Bruder Ruben, der inzwischen in Los Angeles lebte, brachte ihn auf die Idee, wie er sein neues Hobby finanzieren konnte. Ruben war heroinsüchtig. Das nötige Geld beschaffte er sich mithilfe von Einbrüchen. Richard Ramirez riss von zu Hause aus und und ließ sich von seinem Bruder anlernen.

Die Eltern fanden schließlich heraus, wo sich ihr jüngster Sohn aufhielt, und zwangen ihn zur Rückkehr nach El Paso. Der Junge war bockig, ließ sich nichts sagen und lehnte sich gegen seinen Vater auf, den er als Tyrannen wahrnahm. Beide waren von hitzigem Temperament. Als die Lage eskalierte, zog Richard Ramirez bei seiner Schwester Ruth ein, die mittlerweile geheiratet hatte.

Richard Ramirez kam vom Regen in die Traufe. Ruths Ehemann Roberto war ein Voyeur, der nachts um die Häuser zog und die Frauen in der Nachbarschaft ausspionierte. Sein minderjähriger Schwager begleitete ihn auf seinen nächtlichen Spanner-Exkursionen. „Mein Bruder hat kaum geschlafen“, sagte Ruth später. „Er war einer jener Menschen, die mit sehr wenig Schlaf auskommen. Er konnte die ganze Nacht auf Beinen sein und es machte ihm nichts aus.“

Vorfall im Holiday Inn

In dieser Zeit experimentierte Richard Ramirez mit LSD und anderen halluzinogenen Drogen. Als er auf die High School kam, nahm er einen Job in einem Holiday Inn an. Der Hauptschlüssel verschaffte ihm Zutritt zu allen Zimmern im Gebäude. Er nutzte den Vorteil für sich aus, um hier und da Wertgegenstände zu entwenden. Er war vorsichtig genug, dass der Verdacht dabei nicht auf ihn fiel.

Es blieb nicht bei Diebstählen. Er versteckte sich hinter den schweren Vorhängen und beobachtete weibliche Hotelgäste, wie sie sich auszogen, wie sie duschten, wie sie schliefen. Das bloße Schauen reichte ihm eines Tages nicht mehr. Er überwältigte eine der Frauen von hinten, fesselte und vergewaltigte sie. Überraschend kehrte der Mann der Frau ins Zimmer zurück. Er verdrosch Ramirez und rief die Polizei.

Die Sache kam zur Anzeige. Richard Ramirez behauptete, die Frau habe ihn zum Sex verführt. Als ihr Mann unerwartet zurückgekehrt sei, habe sie Angst vor den Konsequenzen bekommen und ihn der Vergewaltigung bezichtigt. Seine Familie glaubte ihm die Geschichte. Der Junge war doch erst fünfzehn. Das Paar stammte aus einem anderen Bundesstaat und weigerte sich, den weiten Weg in Kauf zu nehmen, um gegen Richard Ramirez vor Gericht auszusagen. Die Klage wurde fallen gelassen. Ramirez ging straffrei aus.

Zwei Jahre später, Ende 1977, wurde Ramirez‘ Cousin Mike aus der Psychiatrie entlassen. Die beiden trafen sich wieder häufig. Jetzt tauschten sie weit mehr als nur Kriegsgeschichten und Polaroids aus. Richard Ramirez erklärte seinem Cousin, wie man einen Einbruch durchführte, ohne Spuren zu hinterlassen. Mike brachte seinem Zögling im Gegenzug Nahkampftechniken bei.

AC/DC und Satanismus

1978 wurde Richard Ramirez achtzehn. Er brach die High School in der neunten Klasse ab, verließ mit Anfang 20 El Paso und zog nach Los Angeles um. Dort kam er zunächst bei seinem Bruder Ruben unter, geriet aber immer wieder mit dessen Frau in Konflikt. Ruben warf den Bruder raus, der zu diesem Zeitpunkt bereits kokainsüchtig war. Er stieg später auf Phencyclidin um (kurz: PCP oder auch Angel Dust genannt). Einer regelmäßigen Arbeit ging er nicht nach. Er finanzierte seine Sucht nach wie vor mit Einbruchdiebstählen.

Richard Ramirez hatte bereits in der Jugend ein aufbrausendes Temperament gehabt. Der Drogenkonsum verstärkte seine Aggressionen noch und führte zu mehreren Verhaftungen wegen Besitzes illegaler Betäubungsmittel. In Kalifornien wurde er zudem zweimal wegen Autodiebstahls verhaftet, 1981 in Pasadena und 1984 in Los Angeles. Ansonsten lebte er in den Tag hinein und ernährte sich vorwiegend von Junkfood aus dem Supermarkt. Die stark zuckerhaltige Nahrung hatte binnen weniger Jahre sein Gebiss zerstört.

Sein einziges Hobby war die Musik. Genauer gesagt: Heavy Metal. In den Texten ging es häufig um Sex, Drogen und Satan. Insbesondere die australische Band AC/DC und deren Album „Highway to Hell“ hatten es ihm angetan. Eines der Lieder auf der Platte enthielt einige Textstrophen, die im Rückblick wie eine Blaupause für Ramirez‘ spätere Taten wirkten. Im Song „Night Prowler“ hieß es sinngemäß übersetzt: „War da ein Geräusch vor dem Fenster? Was ist das für ein Schatten auf der Jalousie? Du liegst nackt da wie eine Leiche im Grab, kannst dich nicht regen, während ich in dein Zimmer schlüpfe.“

Zu dieser Zeit begann Ramirez über Anton LaVey, den Gründer der Church of Satan in San Francisco, zu lesen. Er schloss sich zwar nicht dem Kult an, teilte aber die Glaubenssätze. Als seine Schwester Ruth ihn in Los Angeles besuchte, versuchte er ihr zu erklären, wieso er, der einer streng katholischen Familie entstammte, jetzt ausgerechnet den Teufel anbetete: „Weil Satan für all das steht, was ich in mir fühle. Ich bin nicht wie die übrigen Menschen. Ich bin anders. Ich habe eine Berufung. Ich bin ein Dieb, Ruth, und zwar ein verdammt guter. Ich will aber nicht im Gefängnis enden. Und das werde ich auch nicht. Denn ich stehe unter dem Schutz von Luzifer.“

Es gibt keine Hinweise darauf, dass Richard Ramirez bereits vor seinem Umzug nach Los Angeles gemordet hat. Über seine ersten Jahre in der kalifornischen Metropole ist allerdings bis auf die eben genannten Details wenig bekannt. Polizei und Staatsanwalt mutmaßten deshalb, dass sich sein Wandel vom Dieb und Einbrecher zum Serienvergewaltiger und -mörder langsam vollzog. Mit jedem Einbruch wurde er geübter und selbstbewusster. Er nahm mehr Risiken in Kauf. Zum Beispiel, indem er länger in einer Wohnung verweilte, als notwendig war.

Vielleicht schlich er sich bei diesen Gelegenheiten in die Schlafzimmer der Opfer, beobachtete sie nur, genoss die Macht und spielte Fantasien in seinem Kopf durch. Möglicherweise nahm er neben den Wertgegenständen auch persönliche Gegenstände an sich, die er behielt. Mithilfe der Souvenirs konnte er seine Fantasien erneut durchleben. Aber irgendwann reichte ihm die Erregung, die er aus der Fantasie bezog, nicht mehr aus. Er wollte mehr. So zumindest die Theorie der Ermittlungsbehörden. Tatsache ist: Man ist sich nicht sicher, wann die Verbrechensserie genau begann. Der früheste Mord, der dem Night Stalker heute zur Last gelegt wird, datiert auf April 1984 (dazu in Kapitel 6 mehr). Ramirez hat nie ein Geständnis abgelegt.

Aussichtsloses Unterfangen

Normalerweise rissen sich in den USA ehrgeizige Anwälte darum, einen Mandanten wie Richard Ramirez zu vertreten, auch gerne unter Verzicht auf ein Anwaltshonorar. Denn solch ein Fall versprach maximale Aufmerksamkeit der Medien. Die Publicity wiederum ließ sich später in bare Münze umwandeln, wenn Klienten von dem Staranwalt vertreten werden wollten, den jeder aus dem Fernsehen und den Zeitungen kannte.

Doch der Fall Ramirez ließ die Anwaltsriege kalt. Die Beweislage vor Prozesseröffnung war schlichtweg erdrückend. Und der Klient trat nicht gerade auf wie das sprichwörtliche Unschuldslamm. Als Staranwalt konnte sich nur jemand profilieren, der dank geschickter Prozessführung und Argumentation für seinen Klienten vor Gericht mehr herausschlug, als vorab zu erwarten gewesen wäre. In diesem Fall schien das Unterfangen aussichtslos.

So bekam Richard Ramirez zunächst einen Pflichtverteidiger zugeteilt. Alan Adashek sah nur eine realistische Chance für seinen Mandanten, der Todesstrafe zu entkommen: Er musste auf geistige Unzurechnungsfähigkeit plädieren. Davon wollte Richard Ramirez aber nichts wissen. Im Gegenteil: Anfänglich wollte er sich sogar schuldig bekennen, was er aber später verwarf. Er wollte jedoch keinesfalls als „Irrer“ wahrgenommen werden, der nicht wusste, was er tat.

Was war das Motiv für die taktische Herangehensweise? War Ramirez in Wahrheit ein grundehrlicher Charakter, den die Gewissensbisse zur Aufrichtigkeit trieben? Wohl kaum. Bei seinen Taten drehte sich alles um die Macht, die er über seine Opfer ausüben konnte. Dieses Machtgefühl war die entscheidende Triebfeder seiner Verbrechen. Ramirez merkte schnell, dass er auf diesen speziellen Kick auch nach seiner Verhaftung nicht verzichten musste, wenn auch unter anderen Vorzeichen.

Serienkiller mit Groupies

Denn seine Selbstinszenierung als Satanist machte ihn in der öffentlichen Wahrnehmung erst interessant. Der Loser mit den kaputten Zähnen, der in seinem Leben nie etwas auf die Reihe bekommen hatte, verwandelte sich plötzlich in eine schillernde Figur, die die Schlagzeilen beherrschte. Ähnliches hatte man bereits bei Typen wie Charles Manson oder Ted Bundy erlebt.

Seine Unangepasstheit, sein trotziges Verhalten, das ihm bisher nur Ärger eingehandelt hatte, erregte Aufmerksamkeit. Viele Beobachter fanden die Auftritte widerlich, insbesondere vor dem Hintergrund der ihm vorgeworfenen Taten und dem Leid, das er anderen Menschen zugefügt hatte. Aber eine Minderheit fühlte sich von dieser Ausgeburt der Hölle, wie er sich selber gerne sah, unwiderstehlich angezogen.

Plötzlich interessierten sich sogar Frauen für ihn, ohne dass er ihnen eine Knarre an den Kopf halten musste. Ramirez war nie in einer festen Beziehung mit einer Frau gewesen. Sexuelle Kontakte unterhielt er allenfalls zu Prostituierten. Jetzt erhielt er reihenweise Post von weiblichen Fans, die an seine Unschuld glaubten, ihn anhimmelten und ihm ganz offen sexuelle Avancen machten. Später saßen viele dieser „Groupies“, wie die Medien über die Frauen urteilten, regelmäßig im Gerichtssaal und verfolgten die Verhandlung.

Verachtung für das „System“

Ramirez dürfte also durchaus das Gefühl gehabt haben, weiterhin Macht über Menschen auszuüben. Um in den Genuss dieses Kicks zu kommen, durfte er jedoch nicht aus der Rolle fallen, der er seinen zweifelhaften Ruhm verdankte. Also bediente er permanent die Erwartungshaltung von Medien und „Groupies“. Er starrte mit finsterem Blick in die Kameras. Er machte das Teufelszeichen. Er malte sich ein Pentagramm auf die Handinnenfläche und reckte die Hand hoch. Und er drückte permanent seine Verachtung für das „System“ und seine Vertreter aus. Sie würden ihn ja ohnehin zum Tode verurteilen. Da musste er auch keine Rücksicht auf seine Außendarstellung nehmen und konnte sich so geben, wie ihn die Gesellschaft seiner Ansicht nach wahrnehmen sollte. Sie sollten sich vor Angst in die Hosen machen.

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Die Konsequenz war, dass Richard Ramirez seinen Pflichtverteidiger Adashek feuerte, der seinen Plänen im Weg stand. Stattdessen engagierte er über seine Familie das Anwalts-Duo Arturo Hernandez und Daniel Hernandez, trotz Namensgleichheit nicht miteinander verwandt. Beide Anwälte waren nahezu unerfahren im Bereich Kapitalverbrechen. Es gab ernsthafte Zweifel an ihrer Qualifikation für ein Verfahren, bei dem es um die Todesstrafe ging. Dennoch ließ das Gericht die Ernennung zu und ordnete dem Angeklagten – allerdings erst sehr viel später – noch einen dritten, in diesem Bereich des Strafrechts erfahrenen Verteidiger zu.

 

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