Richard Ramirez – der „Night Stalker“

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1985 machte sich in Los Angeles Panik breit. Ein Einbrecher schlüpfte nachts in die Vorstadthäuser, tötete die Männer, vergewaltigte deren Frauen, hinterließ satanistische Symbole. Richard Ramirez vergriff sich an Teenagern wie Seniorinnen, nutzte mal Pistolen, mal eine Machete als Tatwaffe. Seine unorthodoxe Vorgehensweise ließ die Fahnder lange im Dunkeln tappen.

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Richard Ramirez im Dezember 1984

Der Fremde in der Garage

Am Abend des 17. März 1985 kehrte die 22-jährige Maria Hernandez gegen 23.30 Uhr von der Arbeit nach Hause zurück. Sie teilte sich mit einer Mitbewohnerin eine Wohnung in Rosemead, einer Vorstadt im Nordosten von Los Angeles. Sie öffnete per Fernbedienung das Garagentor und fuhr mit ihrem Wagen in die Garage hinein. Sie stieg aus und drückte auf den Knopf, um das Garagentor zu schließen. Während das Garagentor langsam herunterfuhr, kramte sie nach ihrem Hausschlüssel.

Die Lichter in der Garage blieben nur für kurze Zeit an, nachdem sie den Garagentorknopf gedrückt hatte. Plötzlich hörte sie hinter sich ein Geräusch. Ein großer, schlanker Mann in schwarzer Kleidung kam auf sie zu. Sein Gesicht konnte sie zunächst nicht erkennen. Er hatte eine marineblaue Baseballmütze tief über die Stirn gezogen. In der Hand hielt er eine Pistole. Die Waffe war auf Maria Hernandez gerichtet. Er näherte sich der Frau, bis der Pistolenlauf fast ihre Nasenspitze berührte.

Maria Hernandez flehte den Fremden an, sie nicht zu töten. Sie wendete ihren Blick ab, in der Hoffnung, er würde annehmen, dass sie sein Gesicht nicht gesehen habe. Der Mann blieb stumm. Die Lichter in der Garage gingen automatisch aus. So war die Schaltung programmiert. Die Frau hob reflexartig die Hand, um ihren Kopf zu schützen. Da schoss der Mann. Maria Hernandez brach zusammen. Der Schütze stieg über den leblosen Körper seines Opfers auf dem Betonfußboden und bewegte sich zur Verbindungstür, die in die Wohnung führte.

Glück im Unglück

Doch Maria Hernandez war nicht tot. Sie hatte unglaubliches Glück im Unglück. Als der Schuss fiel, hatte sie noch ihren Hausschlüssel in der Hand gehalten. Der Schlüsselbund lenkte die Patrone so weit ab, dass Maria Hernandez nicht schwerer verletzt wurde. Sie hatte sich tot gestellt und gehofft, dass der Fremde verschwand.

Inzwischen hatte der Mann das Haus betreten. Maria Hernandez stand vorsichtig auf und schlich sich leise aus der Garage. Sie hörte einen Schuss aus dem Inneren des Hauses. Maria Hernandez rannte los in Richtung Straße. Just als sie an ihrer Haustür vorbeikam, trat der schwarz gekleidete Mann aus dem Haus auf die Straße. Sie kehrte um. Auf zittrigen Beinen bewegte sie sich zurück zur Garage, zu ihrem Auto. Und Maria Hernandez hatte in dieser Nacht ein zweites Mal Glück im Unglück. Anstatt ihr zu folgen, schob sich der Täter die Pistole in den Gürtel und floh die Straße hinunter.

Ihrer 34-jährigen Mitbewohnerin Dayle Okazaki war hingegen in dieser Nacht kein Glück beschieden. Maria Hernandez entdeckte die Frau in der Küche. Überall war Blut: auf dem Küchenboden, an den Wänden, Möbeln und Haushaltsgeräten. Mitten in einer Blutlache lag Dayle Okazaki. Maria Hernandez tastete vergeblich nach dem Puls. In der Stirn ihrer Mitbewohnerin konnte sie eine große klaffende Wunde erkennen. Der zweite Schuss, den Maria Hernandez in der Garage gehört hatte, hatte Dayle Okazaki gegolten. Die junge Frau war tot. Maria Hernandez verständigte den Notruf.

Drei Spuren

Leitender Ermittler war Gil Carrillo vom Morddezernat des Los Angeles County. Ein erfahrener Kriminalbeamter, der bereits an 300 Mordfällen gearbeitet hatte, und von hünenhafter Statur. Carillo maß 1,93 m und brachte 127 kg auf die Waage. Die Polizei hatte zu Beginn drei Spuren, mit denen sie arbeiten konnte. Neben Maria Hernandez hatten auch mehrere Zeugen aus der Nachbarschaft den Täter gesehen, sodass es eine grobe Personenbeschreibung gab. Der Mörder war zwischen 1,75 und 1,80 m groß, sehr schlank, trug schwarzes Haar und schwarze Kleidung und hatte dunkle Augen mit einem auffällig stechenden Blick.

In der Garage entdeckte die Spurensicherung eine dunkelblaue Baseballmütze mit dem Emblem der Heavy-Metal-Rockgruppe AC/DC. Der Mann hatte die Kappe vermutlich am Tatort verloren. Dank der ballistischen Untersuchung ließ sich außerdem das Kaliber der verwendeten Tatwaffe bestimmen: .22.

Der Mord an Dayle Okazaki ließ sich nur in Teilen rekonstruieren. Die Polizei vermutete, dass sich das Opfer nach dem ersten Schuss in der Garage hinter der Küchentheke zu verstecken versuchte. Dort hatte sie der Täter entweder aufgespürt oder Dayle Okazaki hatte ihr Versteck verlassen, aus welchen Gründen auch immer.

Mord ohne Motiv

Was sofort hervorstach: Es schien keinerlei Tatmotiv zu geben. Es handelte sich weder um eine Beziehungstat noch um ein Raub- oder Sexualdelikt. Carrillo beunruhigte dieser Umstand. Er hatte an einem Workshop der FBI-Abteilung für Verhaltensforschung teilgenommen und wusste, dass ein Tätertyp, der einfach des Mordens willen tötete, am schwersten zu fassen war. Vor allem beließ er es nie bei einem einzigen Verbrechen.

Vor diesem Hintergrund kontaktierte Carrillo Frank Salerno, der für das Sheriffbüro in den Jahren 1977 bis 1979 die Untersuchungen im Fall der „Hillside Stranglers“ leitete. Zwei Cousins hatten damals in und um Hollywood 10 junge Frauen getötet. Salerno gab Carrillo den Rat, nach weiteren Verbrechen Ausschau zu halten, die Ähnlichkeiten aufwiesen. Aller Wahrscheinlichkeit nach hatte der Mann bereits zuvor getötet: „Ein Mann wird nicht über Nacht zum Killer.“

Im Großraum Los Angeles war diese Recherche kein einfaches Unterfangen. Neben dem Sheriff-Büro des County unterhielten die Stadt Los Angeles und verschiedene größere Vorstädte eigenständige Polizeieinheiten. Diese Behörden waren sich untereinander nicht grün. Etliche Ermittlungen hatten aufgrund dieser Konflikte massiv gelitten – wie z.B. die Suche nach der Manson Family. Den Kriminellen war dieser Zusammenhang wiederum nur allzu bewusst. Sie begingen ihre Straftaten bewusst in unterschiedlichen Zuständigkeitsgebieten, um diese mangelnde Kommunikation zwischen den Polizeibehörden zu ihren Gunsten auszunutzen.

Weitere Leiche

Carrillo besorgte sich also zunächst die Berichte der verschiedenen Polizeiwachen für die Tatnacht. Eine Meldung der Polizei von Monterey Park stach ihm sofort ins Auge. Der Täter hatte in diesem Fall ebenfalls eine Waffe Kaliber .22 verwendet. Carrillo rief den zuständigen Detective Tony Romero an und ließ sich über die Details informieren.

Nur eine Stunde nach dem Mord in Rosemead war ein Anruf bei der Polizei von Monterey Park eingegangen. Ein gelber Chevrolet parke mitten auf der Straße. Der Motor laufe noch. Niemand sei in der Nähe zu sehen. Die verständigte Polizeistreife entdeckte unweit des Pkws eine Frau, die auf dem Boden lag. Sie lebte noch, war aber nicht mehr bei Bewusstsein. Der Streifenbeamte bemerkte, dass ihre Strümpfe zerrissen waren und ein großer Bluterguss an ihrem Bein zu sehen war.

Er rief über Funk einen Notarzt herbei. Als er zu der bewusstlosen Frau zurückkehrte, entdeckte er ein Medaillon und einen zerrissenen Zwanzigdollarschein auf dem Bürgersteig. Er versuchte, die Frau wiederzubeleben. Doch sie kam nicht wieder zu Bewusstsein. Bevor der Krankenwagen eintraf, verstarb sie. Der Polizist hatte angesichts der ungünstigen Lichtverhältnisse übersehen, dass der Körper der Toten zwei Schusswunden aufwies. Wie sich bei den weiteren Ermittlungen herausstellte, handelte es sich bei der Frau um die 30-jährige Tsia-Lian „Victoria“ Yu.

Ein erstes Opfer?

Carrillo wühlte in den folgenden Tagen weiter in den Akten. Natürlich hatte es im Großraum Los Angeles in der jüngeren Vergangenheit eine Reihe von Morden gegeben, bei denen das Motiv nicht bekannt war. Eine der Taten, die sich auf Carrillos provisorischer Liste wiederfand, sollte sich später als ein Verbrechen des Night Stalker entpuppen.

Etwa acht Monate vor den Morden in Rosemead und Monterey Park kam die 79-jährige Jennie Vincow aus Glassel Parks gewaltsam ums Leben. Am 28. Juni 1984 hatte sie am Abend ein Fenster offenstehen gelassen, weil es an diesem Tag heiß gewesen war. Der Täter entfernte das Fliegengitter und kletterte in die Erdgeschosswohnung.

Zunächst durchwühlte der Einbrecher mehrere Schubladen, fand aber weder Geld noch Wertgegenstände. Dann begab er sich in das Schlafzimmer. Er stach der schlafenden Jennie Vincow mit einem Jagdmesser in die Brust. Die Frau erwachte, schrie und versuchte, ihren Peiniger abzuwehren. Er hielt ihr den Mund zu und stach immer wieder auf sein Opfer ein. Dann schlitzte er ihr die Kehle auf.

Jennie Vincows Sohn lebte in dem Apartment über der Wohnung seiner Mutter. Von ihrem nächtlichen Todeskampf hatte er nichts mitbekommen. Erst als er sie am nächsten Mittag zum Essen abholen wollte, entdeckte er den Leichnam seiner Mutter. Die Autopsie ergab Anzeichen eines sexuellen Übergriffs, aber keinen Hinweis auf eine vollzogene Vergewaltigung. Die Ermittler fanden zwar Fingerabdrücke am Fenster. Den Beamten gelang es allerdings nicht, einen Tatverdächtigen zu ermitteln.

Die Morde setzen sich fort

Für den nächsten Überfall ließ der Täter nicht so viel Zeit verstreichen, wie zwischen den Morden an Jennie Vincow und Dayle Okazaki beziehungsweise Victoria Yu vergangen war. Nur zehn Tage nach den Morden an Okazaki und Yu schlug er erneut zu. Die Zazzaras lebten in Whittier, einem östlichen Vorort Los Angeles, rund 15 km südlich von Rosemead gelegen. Der 64-jährige Vincent Zazzara war ein früherer Anlageberater, der inzwischen eine Pizzeria betrieb. Seine Frau Maxine Zazzara (44) arbeitete als Anwältin. Um 2.00 Uhr morgens am 27. März 1985 schnappte sich ein Einbrecher einen großen Blecheimer aus dem Garten der Zazzaras, bestieg ihn und hangelte sich über das Fenster zur Waschküche in das Haus der Familie Zazzara.

Vincent Zazzara war an diesem Abend auf der Couch vor dem Fernseher eingeschlafen. Er hatte keine Chance. Der Täter schoss ihm aus nächster Nähe in die linke Schläfe. Er verwendete eine Pistole Kaliber .22. Maxine Zazzara war durch den Schuss aus dem Schlaf aufgeschreckt. Im nächsten Moment betrat der Täter mit der Waffe in der Hand ihr Schlafzimmer. Er schnappte sich eine Krawatte und fesselte der Frau die Hände.

Der Eindringling durchwühlte zunächst Schränke und Kommoden im Schlafzimmer. Während er damit beschäftigt war, muss es Maxine Zazzara gelungen sein, leise vom Bett auf den Boden zu rollen. Unter dem Bett zog sie eine Schrotflinte hervor, die ihr Mann dort versteckt hatte. Der Fremde drehte sich um. Er griff nach der Pistole in seinem Gürtel. Die Frau betätigte den Abzug der Schrotflinte. Nur ein mechanisches Klicken war zu hören. Ihr Mann hatte am Wochenende die Patronen aus der Waffe entfernt, weil ein Enkelkind zu Besuch war.

Der Mörder tötete ein zweites Mal in dieser Nacht. Maxine Zazzara wurde von drei Kugeln in den Kopf getroffen. Dann schlug und trat der Mann auf ihren Körper ein. Er rannte in die Küche und holte ein Tranchiermesser mit einer 25 cm langen Klinge. Am Brustkorb der Frau war bei der Autopsie eine tiefe, T-förmige Schnittwunde zu erkennen. Der Gerichtsmediziner war überzeugt, dass der Mörder vergeblich versucht hatte, seinem Opfer das Herz herauszuschneiden.
Als er damit scheiterte, schnitt er ihr die Augäpfel aus den Höhlen. Er schob ihr das Nachthemd bis zum Hals hoch. Möglicherweise wollte er die Tote sexuell missbrauchen. Dazu kam es jedoch nicht. Stattdessen stach er ihr mit dem Tranchiermesser in Hals, Bauch und Unterleib. Bevor er das Haus verließ, raffte er alle Wertgegenstände zusammen, die er greifen konnte.

Hirngespinste

Die Ermittler der zuständigen Mordkommission entdeckten auf dem Blecheimer und im Blumenbeet unterhalb des Waschküchenfensters Abdrücke eines Turnschuhs, die mit hoher Wahrscheinlichkeit vom Täter herrührten. Auch Gil Carrillo vom Sheriff-Department interessierte sich für den Mord. Schließlich waren nur rund zehn Tage nach Dayle Okazaki und Tsia-Lian Yu zwei weitere Menschen unter ähnlichen Umständen durch Schüsse aus einer Waffe vom Kaliber .22 getötet worden.

Aber die zuständigen Beamten waren nicht an einer Zusammenarbeit interessiert. Sie taten die Idee von einem Serienmörder, der sein Unwesen im Großraum Los Angeles, als Hirngespinst ab. Und sie enthielten ihrem Kollegen wichtiges Spurenmaterial vor. So erfuhr Carrillo zu diesem Zeitpunkt noch nichts von den sichergestellten Schuhabdrücken.

Gelähmt

Am 14. Mai 1985 kehrte der Mörder erneut nach Monterey Park zurück, wo er Mitte März Tsia-Lian Yu getötet hatte. Dieses Mal wählte er das Haus von William und Lillian Doi als Ziel aus. Das Ehepaar war japanischer Herkunft, beide pensioniert. Lillian Doi war nach einem Schlaganfall seit Jahren auf einen Rollstuhl angewiesen.

Der Täter drang in den frühen Morgenstunden durch ein offenstehendes Fenster in das Haus ein. Er suchte das Schlafzimmer des 66-jährigen William Doi auf. Der Hausherr hörte sein Kommen, griff instinktiv nach seiner Handfeuerwaffe im Nachttisch, war aber nicht schnell genug. Der Fremde traf ihn mit einem Schuss in Höhe der Oberlippe ins Gesicht. William Doi war schwer verletzt, jedoch nicht tot. Der Mann schlug ihn daraufhin bewusstlos.

Die Dois schliefen in getrennten Schlafzimmern. Lillian Doi war durch den Lärm im Zimmer ihres Mannes bereits erwacht, konnte aber aufgrund ihrer Lähmung nicht fliehen. Der Täter näherte sich ihrem Bett. Er warnte sie, sich ruhig zu verhalten, sonst würde er sie umbringen. Er legte ihr Daumenfesseln an. Er durchsuchte das Haus nach Geld und Wertgegenständen. Dann vergewaltigte er die gelähmte, 56-jährige Frau. Ihr Mann erwachte aus der Bewusstlosigkeit. Der Täter ging zu ihm hinüber und prügelte auf ihn ein, bis er wieder in Ohnmacht fiel. Er setzte die Vergewaltigung der Frau fort. Anschließend verschwand er. William Doi erlag später seinen schweren Verletzungen im Krankenhaus.

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