(5) Die Geburtsstunde des modernen Profiling

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Dr. James Brussel hatte natürlich die Zeitungsberichte über den »Mad Bomber« wie jeder New Yorker interessiert verfolgt. Er hatte sich schon mehr als einmal die Frage gestellt: Was war das für ein Mensch, der solche Anschläge beging? Was versprach er sich davon? Welchem inneren Antrieb gehorchte er? Warum war er so hartnäckig? Doch über Insiderwissen hinsichtlich der Ermittlungen verfügte James Brussel bis dahin nicht. Das sollte sich nun also ändern.

Nervöser Beginn

In seinen Memoiren »Das ungezähmte Böse. Die berühmtesten Fälle des Sherlock Holmes unter den Psychiatern« (Link zu Bücher über George Metesky) erinnerte sich James Brussel noch sehr genau an diese erste Begegnung mit Inspector Howard Finney. Er sei ungewöhnlich nervös gewesen. Er habe vor dem Gespräch erhebliche Zweifel gehegt, ob er dem NYPD in diesem Fall eine Hilfe sein könne. James Brussel hatte durchaus Zutrauen in seine eigenen Fähigkeiten. Aber ihm war auch bewusst, dass das NYPD in 16 Jahren bestimmt jeden erdenklichen Ermittlungsansatz bereits verfolgt hatte.

Zudem habe ihn Howard Finney durch sein Auftreten eingeschüchtert. Finney und seine beiden Beamten hätten ihn von Anfang an mit abschätzigen Blicken gemustert, so als nähmen sie ihn nicht für voll. Während des Gesprächs habe er mehr als einmal beobachtet, wie die Polizisten mit den Augen gerollt hätten. James Brussel war sich bewusst, dass er die altgedienten Mordermittler nur mit plausiblen Schlussfolgerungen überzeugen konnte. Das würde ein zäher Kampf werden.

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Dr. James Brussel, 1969

Dabei hatte Dr. James Brussel eigentlich kaum Grund für Selbstzweifel. Bevor er seine psychiatrische Praxis eröffnete, war er während des Zweiten Weltkriegs Chef der Neuropsychiatrie in Fort Dix. Im Koreakrieg vertraute man ihm die Leitung der Abteilung für die gesamte Armee an. Während dieser Zeit war er auch als Profiler in der Spionageabwehr für das FBI und den CID tätig. James Brussel hatte in diesem Bereich also bereits praktische Erfahrungen vorzuweisen.

Zudem war ihm wohl nicht ganz klar, wie sehr die Polizei von New York auf frischen Input angewiesen war. Ein Täterprofil existierte bisher allenfalls in Bruchstücken. Dr. James Brussel las sich zunächst einmal gründlich die Zusammenfassung der Ermittlungsakten durch, betrachtete die Tatortfotos und Bekennerschreiben. Dann hörte er sich an, über welche Fähigkeiten der »Mad Bomber« im Bereich Metallverarbeitung und Elektronik nach den Erkenntnissen der Ermittler verfügte.

Das Profil

Auf Grundlage dieser Fakten entwickelte James Brussel ein »Porträt« des Täters, wie er es selber nannte. Heute würde man von einer operativen Fallanalyse sprechen. Seine ersten Schlussfolgerungen bestätigten zunächst nur die Thesen, denen die Ermittler bereits nachgegangen waren:

  • Der Täter war wütend auf die Firma Consolidated Edison. Wahrscheinlich handelte es sich um einen ehemaligen Mitarbeiter. Nach den Inhalten der Briefe zu urteilen, hatte der Mann vermutlich einen Arbeitsunfall erlitten und gab dafür dem Unternehmen die Schuld. Seit 1940 hatte er sich auf einen Rachefeldzug begeben, weil Con Edison zuvor seine Ansprüche abgeschmettert hatte.
  • Der Attentäter war männlich. Der Grund war simpel. In der Kriminalgeschichte waren bis dato praktisch keine weiblichen Bombenattentäter in Erscheinung getreten.

Paranoia

So weit, so bekannt. Im Folgenden trug James Brussel jedoch Aspekte bei, welche die Ermittler bisher nicht in Erwägung gezogen hatten oder wo es ihnen an dem entsprechenden Fachwissen mangelte. So diagnostizierte der Facharzt: Der »Mad Bomber« war tatsächlich verrückt, und zwar auch im klinischen Sinne. Medizinisch betrachtet hatte die Polizei es mit einem wachechten Paranoiden zu tun. Der »Mad Bomber« lebte in dem Wahn, Opfer einer gewaltigen Verschwörung zu sein, deren Drahtzieher die Consolidated Edison und alle staatlichen Institutionen seien.

James Brussel erklärte den Beamten in einfachen Worten, welches Krankheitsbild Paranoia umschrieb. Die Krankheit sei durch dauerhafte und unverrückbare Wahnvorstellungen gekennzeichnet, die einen stringenten, logischen Aufbau besäßen – der sich nur leider nicht mit dem decke, was die meisten anderen Mitmenschen als Realität empfänden. Die Erkrankung sei chronisch, entwickle sich aber gewöhnlich eher langsam.

Angesichts des schleichenden Verlaufs der Paranoia sei der Täter zum jetzigen Zeitpunkt vermutlich zwischen 40 und 50 Jahre alt. Der Mann war von durchschnittlicher Größe und kräftiger Statur. James Brussel gab zu, dass er diesen Teil des Profils nicht aus den Fakten geschlussfolgert habe. Die Mehrzahl der Paranoiapatienten würden nun mal diesem äußeren Erscheinungsbild entsprechen.

Kann Kritik nicht ertragen

Der »Mad Bomber« war ein handwerklich geschickter Mensch, der auch in anderen Lebensbereichen äußerst penibel veranlagt sei. Dafür spreche seine Sorgfalt beim Bau der Bomben sowie die akkurate Handschrift. Als Arbeitnehmer war der Junge ein richtiger Prachtbursche. Erschien immer pünktlich zur Arbeit, führte jede Aufgabe, die man ihm auftrug, ohne Widerspruch aus. Paranoide neigten dazu, von sich selber Perfektion zu verlangen, damit sie erst gar nicht Gefahr liefen, sich Kritik anhören zu müssen. Denn nichts hassten Paranoide mehr als Kritik. Seine Mitmenschen würden den »Mad Bomber« vermutlich als höflich, aber nicht sonderlich freundlich bezeichnen.

Gestelzte Sprache

Der Attentäter war entweder Ausländer oder verbrachte viel Zeit in der Umgebung von Menschen, die im Ausland geboren waren. James Brussel zog diesen Schluss aufgrund der Wortwahl des »Mad Bomber«. Er benutzte ein altmodisches Vokabular, frei von jeglicher zeitgemäßer Umgangssprache. Die Sprache wirkte eigentümlich gestelzt. James Brussel führte dies darauf zurück, dass der Briefeschreiber in einer anderen Muttersprache dachte und seine Gedanken dann in ein recht formell klingendes, vordergründig korrektes Englisch übersetzte.

Der Täter hatte vermutlich einen höheren Schulabschluss, aber nie eine Universität besucht. Die saubere Handschrift sprach für eine längere Schulbildung. Aber die Art und Weise, wie der Mann seine Bomben baute, und sein gestelzter Sprachstil deuteten darauf hin, dass er Autodidakt war.

Der »Mad Bomber« war ethnisch vermutlich slawischer Herkunft und darüber hinaus katholisch. Laut James Brussel griffen Menschen aus Ost- und Zentraleuropa bei Attentaten weitaus häufiger zu Bomben denn zu Schuss- oder Stichwaffen – historisch gesehen. Falls der Täter diesem Kulturraum entstammte, war er aller Wahrscheinlichkeit nach Slawe. Die meisten Slawen wiederum waren katholisch.

Der »Mad Bomber« lebte nach Auffassung von James Brussel nicht in New York selbst, sondern in Connecticut. Einige der Briefe waren im Westchester County abgestempelt worden. Der Bezirk lag genau in der Mitte zwischen den beiden Bundesstaaten. Zudem lebten in Connecticut sehr viele Einwanderer aus Ost- und Mitteleuropa.

Ödipuskomplex

Der »Mad Bomber« litt unter einem Ödipuskomplex. In der Praxis hieß das: Der Mann war Einzelgänger und hatte keine Freunde. Mit Frauen verabredete er sich nicht, wahrscheinlich war er noch nie mit einer intim gewesen. Er war vermutlich unverheiratet und lebte mit einer weiblichen Verwandten zusammen, allerdings nicht seiner Mutter. Die Mutter war aller Voraussicht nach bereits verstorben, und zwar als der »Mad Bomber« noch sehr jung war. Er hatte sie als liebevolle Mutter in Erinnerung und hasste seinen Vater sowie andere Autoritätspersonen.

James Brussel gelangte zu dieser Schlussfolgerung aufgrund der Form der Bomben. Der »Mad Bomber« baute immer »phallische« Rohrbomben. Außerdem sprach aus seiner Sicht das seltsam geformte »W«, das der Täter in seinen Schreiben verwandte, für diese Theorie. »Das W erinnert an zwei weibliche Brüste«, meinte James Brussel.

»Ödipuskomplex«. Bei dem Reizwort schrillten bei Howard Finney und seinen beiden Kollegen die Alarmglocken. Das war genau die Art von Psychologengewäsch, die sie insgeheim befürchtet hatten. Das andere, was Brussel zuvor geäußert hatte, klang alles so seriös und nachvollziehbar, dass sie fast schon vergessen hatten, dass sie einem Psychiater gegenübersaßen. Aber jetzt: »Ödipuskomplex«. »W‘s wie Brüste«. »Phallische Rohrbomben«. Schon klar.

Doch James Brussel beharrte auf seiner Analyse. Trotz der Zweifel der Polizisten war er sich gerade in diesem Punkt sehr sicher, dass er voll ins Schwarze treffen würde. Howard Finney wägte ab, was ihm James Russell geliefert hatte. Insgeheim war er beeindruckt. Etliche der Schlussfolgerungen, die augenscheinlich auf der Hand gelegen hatten, hatten die Beamten bisher nicht auf dem Schirm gehabt. Dieser Psychoheini war tatsächlich gut.

Offensive Öffentlichkeitsarbeit

James Brussel hatte die Eintrittskarte für die Aufnahme in die Ermittlungen gelöst. Er war ab nun Mitglied der Sonderkommission. Die erste Frage, die die Beamten an ihn hatten: Wie sollten sie nun mit dem Profil umgehen? Wie sollten sie es am effektivsten nutzen? James Brussel empfahl ihnen, das Profil an die Medien herauszugeben. Presse, Fernsehen, Radio – je mehr Publicity, umso besser.

Dieses Vorgehen lief jeder Polizeilogik zuwider. Immer so wenig wie möglich herausgeben, um Beweise in der Hinterhand zu behalten, lautete die Devise der Ermittler. Entsprechend defensiv hatten sie ihre Öffentlichkeitsarbeit in diesem Fall betrieben. Zudem stand zu befürchten, dass mehr Berichterstattung auch mehr falsche Bombenalarme und Geständnisse zur Folge hätte. Das würde epidemische Ausmaße annehmen und den gesamten Polizeiapparat lahmlegen. Ganz zu schweigen von der zunehmenden Panik unter der Bevölkerung.

Täter provozieren

Dr. James Brussel beharrte auf seinem Standpunkt. Sie sollten das Profil in vollem Umfang an die Medien weitergeben. Der »Mad Bomber« sei süchtig nach öffentlicher Anerkennung. Es ärgere ihn ungemein, dass die Zeitungen seit Jahren seine Briefe ignorierten und der Öffentlichkeit vorenthielten. Wenn er nun auch noch erfahren würde, dass ein Haufen Psychiater sein Hirn einer Ferndiagnose unterzögen, würde ihn das unglaublich fuchsig machen.

Der »Mad Bomber« würde sich begierig auf die Punkte im Profil stürzen, die seiner Meinung nach falsch waren. Er würde sich bei der Polizei oder der Presse melden und diese Dinge klarstellen wollen. Genau hier würde die Falle zuschnappen. Erst verwickelten sie den Täter in eine Kommunikation. Dann gab er immer mehr Informationen über sich preis. Und schließlich würden sie ihn zu fassen bekommen. Zudem wies James Brussel darauf hin, dass der »Mad Bomber« seiner Einschätzung nach insgeheim den Wunsch hege, geschnappt zu werden. Denn die Anschlagsserie bedeutete auch für ihn Stress, mit dem er ganz alleine klarkommen musste.

Täterprofil in den Medien

Howard Finney grummelte noch etwas in seinen Bart von wegen: Wie sollten sie einen Paranoiden in New York festnageln? Seiner beruflichen Erfahrung nach gehörten gefühlte zwanzig Prozent der Bevölkerung dieser Spezies an. Doch James Brussel setzte sich in der Diskussion durch. Was hatten die Ermittler schon zu verlieren? Am 25. Dezember 1956 veröffentlichten die New Yorker Zeitungen das Profil unter der Schlagzeile »16-jährige Suche nach einem Verrückten«. Die Beschreibung des mutmaßlichen Täters lautete in der Zusammenfassung:

»Junggeselle, zwischen 40 und 50 Jahre alt, introvertiert. Einzelgänger, aber kein Asozialer. Erfahrener Mechaniker. Schlau. Handwerklich geschickt. Bildet sich etwas auf seine Fähigkeiten als Mechaniker ein. Hat für andere Menschen bloß Verachtung übrig. Reagiert verärgert auf Kritik an seiner Arbeit. Sieht sich selbst als moralisches Vorbild. Ehrlich. Zeigt kein Interesse an Frauen. Höherer Schulabschluss. Experte für militärische oder zivile Sprengmittel. Religiös. Könnte bei der Arbeit zu Wutausbrüchen neigen, wenn man ihn kritisiert. Fühlt sich jedem Kritiker überlegen. Wachsende Verbitterung. Arbeitet momentan für Consolidated Edison oder hat dort in der Vergangenheit gearbeitet. Leidet wahrscheinlich an einer fortschreitenden Paranoia.«

Als das Meeting beendet war und Howard Finney aufbrach, konnte Dr. James Brussel nicht widerstehen, seinem Affen Zucker zu geben. »Noch ein letztes Detail zum Täter«, rief ihnen Brussel hinterher. Der Mann lege Wert auf ein gepflegtes Erscheinungsbild, würde stets saubere Kleidung tragen und einen konservativen Stil bevorzugen.

„Und da ist eine weitere Sache, die ich nun ganz deutlich vor meinem inneren Auge erkennen kann“, sagte Dr. James Brussel, als Finney und seine Kollegen bereits in der Tür standen. Brussel schloss die Augen. Jetzt sah er wirklich wie der Scharlatan aus, den die Polizeibeamten erwartet hatten. „Wenn Sie ihn schnappen, wird er mit hundertprozentiger Sicherheit einen zweireihigen Anzug tragen. Und er wird zugeknöpft sein.“ Die Ermittler schauten sich an: Bloß raus hier!

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