Karl Rudolf Hennig – Mord am Wannsee

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Es gibt ja Zeitgenossen, die behaupten, Schadenfreude sei ein rein deutsches Vergnügen. Als Beweis führen sie gerne an, dass in anderen Sprachen gar kein Begriff für diese spezielle Art des Frohsinns existiere. Das Englische etwa habe sich gleich beim Deutschen bedienen müssen, um diesen wunderlichen Gemütszustand adäquat benennen zu können. Nun ja. Ich habe da so meine Zweifel, ob die Menschen nicht auch andernorts in spontanes Gelächter ausbrechen, wenn jemandem ein Missgeschick der harmloseren Art widerfährt. Was aber auf jeden Fall richtig ist: Schadenfreude erfreut sich hierzulande enormer Beliebtheit.

Die Schadenfreude richtet sich dabei auch gerne gegen die Mächtigen und Reichen oder deren Helfershelfer, wenn die mal so richtig schön auf die Schnauze fallen, im wörtlichen wie übertragenen Sinne. Eines der bekanntesten Beispiele dafür dürfte der Hauptmann von Köpenick sein, dessen erfolgreicher Mummenschanz den meisten Menschen in Deutschland noch heute geläufig ist. Interessanterweise hatten die Berliner in demselben Jahr, in dem Schustergeselle Wilhelm Voigt die falsche Offizieruniform überzog, ein zweites Mal Gelegenheit, sich der ungehemmten Schadenfreude über depperte preußische Beamte hinzugeben.

Karl Rudolf Hennig - PorträtDabei war der Fall Karl Rudolf Hennig gänzlich anders gelagert. Bei dem Raubmörder Hennig handelte sich im Unterschied zu Wilhelm Voigt tatsächlich um einen gemeingefährlichen Verbrecher. Hennig hatte einen eiskalten Mord begangen und zögerte auch nicht, mal mitten in eine Menschenmenge hineinzuschießen. Und dennoch sorgte die Tatsache, dass er den Kriminalbeamten unmittelbar vor der Tür zum Polizeirevier entwischt war, für Heiterkeit und Spott unter der Berliner Bevölkerung. Zudem trug seine spektakuläre und absolut hollywoodreife Flucht über die Dächer von Berlin dazu bei, dass der Mann alsbald das Stadtgespräch Nummer eins war.

Oberinspektor Reimann

Begonnen hatte der Fall im Dezember 1905. Anfang des Monats war der 21-jährige August Giernoth zu seinem Bruder nach Berlin gezogen. Der Bruder war Schneidermeister und lebte in der Andreasstraße 25 nahe dem Ostbahnhof. Direkt um die Ecke befindet sich im Übrigen die Lange Straße 22, in der man im Oktober 1906 den Schustergesellen Wilhelm Voigt alias den »Hauptmann von Köpenick« verhaften sollte. Zufälle gibt‘s. Heute erinnert dort baulich aber nichts mehr an die Situation vor dem Ersten Weltkrieg.

August Giernoth, ein fleißiger Bursche, schaute sich sogleich nach einem Job um. Bisher hatte er sich als Kellner und Diener verdingt. Deshalb fiel ihm auch gleich eine Annonce in der Tageszeitung auf, in der man einen Ober für ein Restaurant suchte. Giernoth antwortete auf das Inserat und bekam prompt am 4. Dezember 1905 Besuch von dem Mann, der die Anzeige aufgegeben hatte. Der Inserent stellte sich als Oberinspektor Reimann aus Potsdam vor. Er agiere als Vermittler eines angesehenen Restaurants am Wannsee. Äußerst gediegener Schuppen, das. Allerhöchste Diskretion, junger Mann.

Vorstellungsgespräch nur gegen Bares

Da es sich nun aber um solch einen anspruchsvollen Arbeitgeber handele, benötige er von den Jobinteressenten gewisse Sicherheiten. Hervorragende Referenzen von erstklassigen Häusern könne Giernoth nun mal nicht vorweisen. Aber eine Bürgschaft über 500 Mark würde ihn, so Reimann, davon überzeugen können, dass es Giernoth mit seinem Interesse für die Stelle ernst meine. Das gäbe dem Oberinspektor die Sicherheit, sich nicht zu blamieren, wenn er ihn den Besitzern des Restaurants empfehlen würde.

Ich habe keinen blassen Schimmer, welche Gepflogenheiten bei Stellengesuchen anno 1905 üblich waren. Aber Geld zu bezahlen, um ein Vorstellungsgespräch zu bekommen? Das klingt ähnlich überzeugend wie eine E-Mail der nigerianischen Geldgeschenke-Mafia. Und ich kann mir kaum vorstellen, dass sich solch eine Offerte in der Kaiserzeit seriöser anhörte.

Mord am Wannsee

Wie dem auch sei. Entweder war August Giernoth von eher schlichtem Gemüt oder seine Angst vor einer ungewissen Zukunft ausgeprägter als jegliche Vorsicht. Denn der junge Mann schnappte sich seine Arbeitszeugnisse nebst dem Sparbuch mit 750 Mark Guthaben und folgte dem freundlichen Oberinspektor in die Walachei, die in Berlin unter dem Namen Wannsee bekannt ist.

Wie der Kellner in spe feststellen musste, konnte es rund um den Wannsee verdammt einsam sein. Der Düppeler Forst, wie das dortige Waldgebiet hieß, war riesig. Und weit und breit war keine Menschenseele zu erblicken, je weiter die beiden Männer in den Wald hineingingen. Von einem gediegenen Restaurant ganz zu schweigen.

So endete die Geschichte, wie sie unvermeidlich enden musste. Plötzlich zog der vermeintliche Oberinspektor Reimann einen Revolver aus der Tasche und schoss dem vertrauensseligen August Giernoth zweimal in den Kopf. Der Mann war auf der Stelle tot.

Stolze Rendite

Der Täter verwandte anschließend viel Mühe darauf, das Verbrechen wie einen Selbstmord erscheinen zu lassen. Er ließ das Portemonnaie und die Uhr samt Goldkette bei der Leiche zurück. Die Tatwaffe legte er neben den Leichnam. Lediglich das Sparbuch und die Ausweispapiere des Toten nahm er an sich.

Zurück in Berlin suchte der Mörder den Kreditvermittler Werner in der Friedrichstraße 22 auf. Der bot ihm 500 Mark für das Sparbuch mit 750 Mark Guthaben. Eine stolze Rendite. Werner stellte dem Inhaber des Sparbuchs, der sich mit einem Passdokument ausweisen konnte, einen Schuldschein aus. Danach zog der falsche Oberinspektor von dannen und haute die Kohle auf den Kopf. Weltstadt Berlin und so, Sie verstehen schon.

Ein wichtiger Zeuge

Der Schneidermeister Giernoth wartete indessen vergeblich auf die Rückkehr des Bruders. Am nächsten Tag stellte er bei der Polizei Vermisstenanzeige. Wenige Tage später fand man dann auch den Leichnam von August Giernoth in einem entlegenen Teil des Düppeler Forstes auf. Aufgrund der Personenbeschreibung, die der Bruder gemacht hatte, ließ sich die Identität rasch klären. Der Schneidermeister identifizierte die Leiche und wies die ermittelnden Polizeibeamten darauf hin, dass die Ausweispapiere und das Sparbuch fehlten. Er erzählte ihnen von der Annonce und dem Oberinspektor Reimann.

Doch bevor die Ermittlungen überhaupt richtig in Schwung kamen, meldete sich bereits ein wichtiger Zeuge bei der Polizei. Der Geldvermittler Werner hatte über den Mord in der Zeitung gelesen und den Namen des Opfers sogleich wiedererkannt. Er berichtete der Polizei, dass bei ihm ein gewisser August Giernoth einen Kredit auf sein Sparbuch aufgenommen habe und die passenden Ausweispapiere habe vorzeigen können. Das sei am 4. Dezember gewesen, also an dem Tag, an dem der junge Mann verschwunden war.

Ermittler werden in der Kartei fündig

Die Kriminalbeamten nahmen die Unterschrift auf dem Schuldschein näher unter die Lupe. Sie verglichen sie mit ihrer Verbrecherkartei. Und sie wurden tatsächlich fündig. Das Schriftbild entsprach der Unterschrift eines einschlägig vorbestraften Ganoven namens Karl Rudolf Hennig. Die Polizei wusste sich also auch schon im Prä-CSI-Zeitalter durchaus zu behelfen.

Karl Rudolf Hennig - Portrait - Fahndungsplakat
Fahndungsplakat Karl Rudolf Hennig vom 12. März 1906

Man druckte ein Fahndungsplakat mit dem Foto des Tatverdächtigen Karl Rudolf Hennig sowie einer Personenbeschreibung. Die Belohnung betrug 500 Mark – exakt der Betrag, den Hennig erbeutet hatte. Doch die Polizei wartete in den nächsten zwei Monaten vergeblich auf Hinweise, die auf die Spur von Karl Rudolf Hennig führten. Die Beamten befürchteten, dass Karl Rudolf Hennig Berlin verlassen hatte und anderswo im Reich untergetaucht war. Gut möglich, dass er sich mit den Ausweisdokumenten seines unglückseligen Opfers gerade eine neue Existenz aufbaute.

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