(7) Aus Mangel an Beweisen

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Vertreter der Anklage waren die beiden Bezirksstaatsanwälte Hosea Knowlton und William Moody. Ursprünglich hatte der Generalstaatsanwalt von Massachusetts Arthur Pillsbury den Fall an sich gezogen. Doch er delegierte die Ermittlungen, als der öffentliche Druck zunahm.

Frauengruppen und religiöse Organisationen

Vor allem Frauengruppen und religiöse Organisationen scharten sich hinter der Angeklagten. Lizzie Borden und ihre Schwester waren aktive Mitglieder der Central Congregational Church. Dabei zeigte sich insbesondere Lizzie in jungen Jahren sehr engagiert.

Sie unterrichtete in der sogenannten Sonntagsschule die Kinder von amerikanischen Einwanderern. Zudem diente sie ihrer Kirche als Kassenprüferin. Sie war Mitglied der Woman’s Christian Temperance Union, der größten Frauenorganisation der USA Ausgang des 19. Jahrhunderts, die aus der Abstinenzbewegung hervorgegangen war. Außerdem gehörte sie der gemeinnützigen Ladies‘ Fruit and Flower Mission an, die Kranke in den Hospitälern mit Blumen und Obst versorgte.

Zwar waren Frauen in den USA zu diesem Zeitpunkt noch nicht landesweit wahlberechtigt. Doch diese Organisationen verstanden es dennoch, gehörigen Druck auf gewählte Amtspersonen auszuüben. Und die leitenden Staatsanwälte in den Counties und Bundesstaaten wurden ähnlich wie ein Sheriff in Direktwahl bestimmt.

Die Anklagevertreter

Laut der zeitgenössischen Berichterstattung war William Moody der kompetentere Jurist unter den beiden Staatsanwälten. Seine Zeugenbefragungen waren gründlich und logisch strukturiert. Knowlton kam hingegen häufiger vom „Hölsken auf Stöcksken“, wie man in Westfalen sagt. Der spätere Werdegang beider Ankläger spiegelt diese Unterschiede wider.

Lizzie Borden - Hosea Knowlton
Hosea Knowlton

Knowlton hatte seinen Karrierehöhepunkt als Bezirksstaatsanwalt bereits erreicht. Moody hingegen wurde dreimal in den Kongress gewählt, diente als Marineminister, dann als Generalstaatsanwalt während der Präsidentschaft von Theodore Roosevelt, einem seiner Kommilitonen in Harvard. Roosevelt ernannte Moody schließlich 1906 zum Richter am Obersten Gerichtshof der Vereinigten Staaten.

Lizzie Borden - William Moody
William Moody

Die Verteidiger

Ihnen gegenüber nahmen die drei Verteidiger von Lizzie Borden Platz. Andrew Jennings war bereits Anwalt von Andrew Borden gewesen, als dieser noch lebte. Er galt als diskreter Rechtsanwalt, der sich auch nach Abschluss des Verfahrens niemals zu dem Fall und seiner Mandantin äußern sollte. Ihm arbeitete der junge Strafverteidiger Melvin Adams zu. Beide entwickelten eine überzeugende Verteidigungsstrategie.

Lizzie Borden - Melvin Adams
Melvin Adams

Der dritte Verteidiger im Bunde war der ehemalige Gouverneur von Massachusetts George D. Robinson. Sein Beitrag zum Prozess lag nahe null, obwohl er angeblich ein Honorar von 25.000 US-Dollar (etwa 670.000 Dollar nach heutiger Kaufkraft) gezahlt bekam. Aber wer weiß: Vielleicht war das Geld dennoch gut angelegt. Denn Robinson hatte in seiner Funktion als Gouverneur den vorsitzenden Richter des Verfahrens, Justin Dewey, auf seinen Posten berufen. Und Dewey sollte in dem Prozess noch eine maßgebliche Rolle spielen – zugunsten der Angeklagten.

Lizzie Borden - George Robinson
George Robinson

Minutenlange Ohnmacht

Der Prozess begann wie üblich mit der Auswahl der Geschworenen. In der Jury saßen schließlich zwölf Farmer und Geschäftsleute. Danach folgten die Eröffnungsplädoyers von Staatsanwaltschaft und Verteidigung. Als William Moody dabei das Wort ergriff, kam es zu einem kuriosen Zwischenfall.

Lizzie Borden - Geschworene
Die Geschworenen

Während seines Plädoyers warf er ein Kleid auf den Tisch für die Beweismittel. Dadurch verrutschte ein Tuch, unter denen die Totenschädel von Andrew und Abby Borden lagen. Lizzie Borden fiel beim Anblick in eine minutenlange Ohnmacht. Echter Schock oder reines Kalkül, um die Geschworenen und Reporter zu beeindrucken?

Das Verhältnis zur Stiefmutter

Insgesamt benötigte die Anklage sieben Tage für die Beweisaufnahme. Der Verteidigung reichten deren zwei. Die Staatsanwaltschaft berief zunächst Bridget Sullivan in den Zeugenstand. Sie sollte belegen, dass Lizzie Borden außer ihr und den Opfern die einzige Person war, die sich zur Tatzeit im Haus der Bordens aufhielt. Doch auch die Verteidigung konnte mit der Zeugin punkten. Denn in den drei Jahren ihrer Tätigkeit für die Familie habe sie niemals irgendwelche Anzeichen erkennen können, dass das Verhältnis zwischen Lizzie Borden und ihrer Stiefmutter gestört gewesen sei.

Die Anklage konnte jedoch später weitere Zeugen präsentieren, die ein etwas anderes Bild der Beziehung zeichneten. So berichtete die Schneiderin Hannah Gifford, Lizzie Borden habe sich über ihre Stiefmutter nur wenige Monate vor den Morden recht abfällig geäußert. Sie habe sie als „gemeines, nichtsnutziges Ding“ bezeichnet. Außerdem habe sie gesagt: „Ich habe mit ihr nicht viel zu schaffen. Ich verbringe die meiste Zeit in meinem Zimmer.“

Die Frage nach dem Motiv

Eigentlich war die Staatsanwaltschaft nicht dazu verpflichtet, Lizzie Borden ein Motiv für die Tat nachzuweisen. Warum jemand einen anderen Menschen umbrachte, spielte vor Gericht keine relevante Rolle. Für eine Verurteilung war in erster Linie entscheidend, dass man jemandem hieb- und stichfest die Tat nachweisen konnte. Doch bei einem reinen Indizienprozess sah die Sache anders aus. Die Geschworenen mussten schließlich davon überzeugt werden, dass eine vordergründig so harmlos wirkende Person wie Lizzie Borden zu dieser brutalen Mordtat fähig war.

Die Anklage wurde schließlich fündig. Zeugenaussagen sollten belegten, dass es innerhalb der Familie Borden zu einem ernsthaften Streit um das Erbe gekommen sei. Andrew Borden hatte zwar kein Testament aufgesetzt. Zumindest hatte die Polizei kein entsprechendes Dokument finden können. Doch einige Personen behaupteten, der Verstorbene habe just geplant, ein solches Testament zu verfassen.

Dieses wäre den Zeugen zufolge zu Ungunsten der Töchter ausgefallen. Beide Schwestern sollten jeweils nur 25.000 US-Dollar erhalten. Der Rest seines Erbes, also geschätzte 250.000 Dollar, wäre an seine Frau Abby gegangen.

Dieser Konflikt um das Erbe habe sich bereits Monate vor den Morden angebahnt. Denn Andrew Borden hatte mehrere Immobilien an seine Frau und deren Familie überschrieben. Daraufhin hatten seine Töchter verlangt, ebenfalls ein Mietshaus zu erhalten. Der Vater hatte sich auf das Geschäft eingelassen. Er verkaufte ihnen das Haus für einen symbolischen Dollar und erwarb es wenige Wochen später für 5.000 Dollar (ca. 130.000 Dollar heute) zurück.

Weitere Konflikte

Zudem gab es im Jahr 1892 weitere familiäre Streitigkeiten, die vor Gericht zur Sprache kamen. Im Mai hatte Andrew Borden einige Tauben, die in der Scheune nisteten, mit einem Beil getötet. Die Tierliebhaberin Lizzie Borden war darüber nicht erfreut.

Außerdem verließen beide Töchter wegen eines Streits im Juli für mehrere Wochen das Elternhaus und begaben sich nach New Bedford. Der Anlass des Konflikts blieb jedoch unbekannt. Emma und Lizzie waren erst in der Woche vor den Morden nach Hause zurückgekehrt. Lizzie übernachtete die ersten vier Tage gar in einer Pension statt dem Elternhaus.

Die nach wie vor entscheidende Zeugenaussage kam von Alice Russell. Ihre Beobachtung, dass Lizzie ein fleckiges Kleid wenige Tage nach dem Doppelmord verbrannt hatte, hatte schließlich bereits die Grand Jury überzeugt. Die Verteidigung versuchte im Kreuzverhör, einige Zweifel zu streuen. Würde eine schuldige Person tatsächlich so unvorsichtig sein, belastendes Beweismaterial vor den Augen einer Zeugin zu vernichten?

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Beweisantrag abgelehnt

Ab diesem Punkt begannen die Probleme für die Beweisführung der Anklage. Als der Staatsanwalt beantragte, Lizzie Bordens höchst widersprüchliche Aussage vor dem Haftrichter vor Gericht verlesen zu lassen, erhob die Verteidigung Einspruch. Jennings argumentierte, man habe seiner Mandantin damals weder ihre Rechte erläutert noch die Anwesenheit ihres Anwalts erlaubt. Lizzie Borden habe nach dem fünften Zusatzartikel das Recht zugestanden, die Aussage zu verweigern. Dies habe ihr jedoch niemand gesagt.

Der Staatsanwalt entgegnete, Lizzie Borden sei zu diesem Zeitpunkt nur als Verdächtige behandelt worden, aber noch nicht formal beschuldigt gewesen. Dadurch habe man sie nicht auf ihre Rechte aufmerksam machen müssen und ihre Äußerungen seien freiwillig geschehen. Die drei Richter wollten dieser Argumentation jedoch nicht folgen und lehnten nach kurzer Beratung den Beweisantrag der Anklage ab.

Wenige Tage später scheiterten die Kläger erneut mit einem Antrag. Als sie den Drugstore-Verkäufer Eli Bence in den Zeugenstand rufen wollten, legten die Verteidiger erneut Einspruch ein. Nachdem die Richter die Argumente beider Seiten angehört hatten, wiesen sie die Aussage als irrelevant und unzulässig zurück. Die Geschworenen hörten so niemals, dass Lizzie Borden kurz vor dem Mord versucht hatte, Blausäure zu kaufen.

Präsentation der vermeintlichen Mordwaffe scheitert

Obendrein ging noch die Präsentation der vermeintlichen Mordwaffe gründlich in die Hose. Die Staatsanwaltschaft behauptete, Lizzie Borden habe den Stiel der Axt entfernt, weil er blutig war und ihre Fingerabdrücke enthielt. Nun machten aber dummerweise zwei Polizisten widersprüchliche Angaben zu dem Axtgriff. Einer sagte aus, man habe den Schaft in der Nähe der Klinge gefunden. Ein zweiter Polizist bestritt dies. Auf die Geschworenen wirkte dies, gelinde gesagt, wenig überzeugend.

Zeitlicher Ablauf fragwürdig

Die Verteidigung nahm zudem den zeitlichen Ablauf aufs Korn, den die Staatsanwaltschaft präsentiert hatte. Demgemäß blieben Lizzie Borden 8-13 Minuten zwischen dem Mord an ihrem Vater und ihrem Ruf nach dem Dienstmädchen Bridget. Wie hätte es der Frau gelingen sollen, in dieser kurzen Zeitspanne sich selbst, ihre Kleidung und die Mordwaffe zu reinigen und das Tatwerkzeug obendrein noch zu zerstören und zu verstecken?

Der mysteriöse Fremde

Die Anwälte von Lizzie Borden riefen nur eine kleine Zahl von Zeugen auf. Charles Gifford und Uriah Kirby berichteten, sie hätten gegen 23.00 Uhr am Vorabend der Tat einen fremden Mann in der Nähe des Borden-Hauses gesehen. Dr. Benjamin Handfy bezeugte, ihm sei am 4. August 1892 gegen 10.30 Uhr ein blasser junger Mann auf dem Bürgersteig vor dem Haus Nr. 92 in der Second Street aufgefallen.

Der Verteidigung spielte dabei in die Hände, dass sich fünf Tage vor Prozessbeginn ein weiterer Axtmord in Fall River ereignet hatte. Opfer war eine gewisse Bertha Manchester. Direkt im Anschluss an die Tat konnte ein portugiesischer Einwanderer namens José Corriera verhaftet und angeklagt werden. Corriera kam zwar nicht als Täter für die Borden-Morde infrage, weil er zu diesem Zeitpunkt noch nicht nach Amerika übergesiedelt war. Doch diese Tat suggerierte den Geschworenen, dass ein mysteriöser Fremde als Täter vielleicht nicht nur ein Hirngespinst war.

Zudem rief Andre Jennings zwei Handwerker in den Zeugenstand, die zwei Tage vor den Morden Arbeiten in der Scheune der Bordens erledigt hatten. Sie sollten Zweifel an der Theorie der Polizei wecken, dass die fehlenden Spuren im Staub ein Beleg dafür waren, dass sich Lizzie Borden dort nicht längere Zeit aufgehalten haben könnte.

Schwester Emma als Kronzeugin

Schließlich präsentierte die Verteidigung die Schwester Emma Borden als eigentliche Kronzeugin für ihre Mandantin. Emma bezeugte vor Gericht, dass Lizzie und ihr Vater ein enges Vertrauensverhältnis hatten. Sie führte als Beispiel an, dass Andrew Borden an seinem kleinen Finger stets einen Goldring trug, den ihm Lizzie in ihrer Kindheit geschenkt hatte.

Lizzie Borden - Emma Borden
Emma Borden

Emma beschrieb auch die Beziehung zwischen Lizzie und ihrer Stiefmutter als freundlich. Dieses Verhältnis hätte auch keinen Schaden genommen, als sie und ihre Schwester verstimmt gewesen seien, weil ihr Vater das Geburtshaus ihrer leiblichen Mutter an Abby Borden und deren Schwester Sarah Whitehead überschrieben habe.

Merkwürdiges Verhalten des Richters

Nachdem beide Parteien ihr abschließendes Plädoyer vorgetragen hatten, instruierte Richter Dewey die Geschworenen. Doch seine Anweisungen gingen weit über das übliche Maß hinaus. Wie einige Kritiker bemerkten, darunter auch Juristen, hatte es eher den Anschein, als würde Dewey nochmals die Kernpunkte der Verteidigung referieren.

Schließlich zogen sich die Geschworenen am 20. Juni um 15.24 Uhr zur Beratung zurück. Sie benötigten lediglich eine gute Stunde. Um 16.32 Uhr kehrten sie zurück und verkündeten ihr Urteil: Lizzie wurde von allen Anklagepunkten freigesprochen.

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Anklage auf tönernen Füßen

Der Anklage war es schlichtweg nicht gelungen, Lizzie Borden die Verbrechen jenseits eines begründeten Zweifels nachzuweisen, wie es im US-amerikanischen Recht heißt. Im Prinzip baute die gesamte Anklage auf dem Argument auf, niemand anderes hätte Gelegenheit gehabt, die Morde zu begehen. Doch die vermeintlich belastenden Indizien, die tatsächlich auf Lizzie Bordens hindeuteten, konnten von der Verteidigung entweder abgeschwächt oder aus dem Verfahren ausgeschlossen werden.

Aber das eigentliche Pfund, mit dem die Anwälte wuchern konnten, war vermutlich noch ein anderes: 1893 konnte sich kaum ein Mensch vorstellen, dass eine fromme Frau aus der gehobenen Gesellschaftsschicht zu solch brutalen Verbrechen in der Lage sein sollte.

 

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