Robert Heidstra, ein gebürtiger Franzose, der inzwischen die amerikanische Staatsbürgerschaft angenommen hat, erfährt am Morgen des 13. Juni 1994 aus den Nachrichten vom Doppelmord, während er sich rasiert. Er wendet sich jedoch nicht direkt an die Polizei. Stattdessen erzählt der Autopfleger einem Kunden und dessen Sekretärin von seinen Beobachtungen in der Mordnacht. Patricia Baret, die Sekretärin, ist mit Ron Goldman befreundet gewesen. Sie informiert die Polizei über die Geschichte, die ihr Robert Heidstra erzählt hat.
Der Zeuge wechselt die Seiten
Am 21. Juni kommt es zur ersten Befragung von Heidstra durch zwei Polizeibeamte. Weitere Vernehmungen folgen. Einige Wochen später interessieren sich auch die Staatsanwälte Bill Hodgman und Marcia Clark für Heidstras Story. Doch dann kippt offensichtlich die Stimmung aufseiten der Anklage. Die Staatsanwaltschaft verzichtet darauf, Heidstra in den Zeugenstand zu rufen. Die Verteidigung beginnt, sich für seine Aussage zu interessieren.
Ende Mai 1995 erhält Heidstra erneut Besuch vom Staatsanwalt. Dieses Mal ist es Christopher Darden. Der Umgangston ist deutlich rauer als zuvor. Darden will wissen, ob Heidstra sich überhaupt legal im Land aufhalte. Der Zeuge fühlt sich unfreundlich behandelt, bleibt aber bei seiner Geschichte.
Am 11. und 12. Juli 1995 tritt er als Zeuge der Verteidigung in den Zeugenstand. Es ist die längste Befragung aller Zeugen, die in der Mordnacht rund um den South Bundy Drive Beobachtungen gemacht haben. Heidstra zählt zudem zu den wenigen Personen aus dieser Gruppe, die nochmals im Zivilverfahren gegen O.J. Simpson auftreten (25. Oktober 1996).
Was beobachtet Robert Heidstra in der Mordnacht?
Robert Heidstra wohnt seit 1977 in einer kleinen Einzimmerwohnung 11926 Dorothy Street. Er ist Besitzer zweier Hirtenhunde, eines 11-jährigen Bearded Collie und eines 14-jährigen Puli. Der Puli leidet unter Arthritis in den Hinterbeinen und ist nicht mehr gut zu Fuß.
Heidstras Alltag folgt einem festen Muster. Wenn er um 18.00 Uhr von der Arbeit heimkehrt, geht er zunächst mit beiden Hunden vor die Tür. Um 20.00 Uhr nimmt er lediglich den jüngeren Bearded Collie mit, da sich der ältere Puli wegen seiner Arthritis nur noch langsam bewegen kann. Um 22.00 Uhr unternimmt er mit beiden Hunden nochmals einen letzten Spaziergang, bei dem er jedes Mal die gleiche Wegstrecke zurücklegt: Dorothy Street – Westgate Avenue – Gorham Avenue – South Bundy Drive – Dorothy Street. Mit anderen Worten: Er geht einmal um den Block.
Am Abend des 12. Januar 1994 gibt es kleine Abweichung von der Routine. Robert Heidstra ist so sehr in die Zeitungslektüre vertieft, dass er die Uhrzeit vergisst. Einer seiner Hunde macht ihn darauf aufmerksam, dass es Zeit für einen Spaziergang ist. Heidstra schaut auf die Armbanduhr. Es ist tatsächlich schon 22.15 Uhr. Er bricht sofort zu seiner abendlichen Runde auf.
Um 22.35 Uhr kommt Heidstra an die Stelle, an der die Gorham Avenue in den South Bundy Drive übergeht. Er benutzt den südlichen Bürgersteig. Bisher war es nach dem Empfinden von Heidstra eine außergewöhnlich ruhige Nacht in Brentwood. Kaum Verkehr auf den Straßen, keine ungewöhnlichen Geräusche aus der Nachbarschaft. Doch urplötzlich »bricht die Hölle los«, wie es Robert Heidstra ausdrückt.
Er hört das laute Bellen eines Hundes. Heidstra bleibt wie angewurzelt stehen. Es ist der Akita von Nicole Brown Simpson. Heidstra befindet sich noch vor dem Scheitelpunkt der Kurve und kann deshalb nicht den Bundy Drive einsehen. Doch er ist sehr häufig an Nicole Browns Haus vorbeigekommen, hat den Akita dort gesehen und bellen gehört. Er ist sicher, ihn an seiner Stimme wiederzuerkennen.
Für Heidstra klingt es so, als befände sich der Hund nicht eingesperrt auf dem Grundstück, sondern mitten auf dem Bundy Drive, sehr nahe. Heidstra sorgt sich um seine Hunde. Der Akita ist ihnen körperlich weit überlegen und kann äußerst aggressiv werden, wenn er sich bedroht fühlt. Der Akita ist nach dem Empfinden von Heidstra extrem gestresst. Was er hört, ist kein normales Kläffen oder bedrohliches Knurren, sondern ein verzweifeltes Bellen. Heidstra hat das Gefühl, der Hund sei hysterisch oder in Panik.
Robert Heidstra macht mit seinen beiden Hunden kehrt. Er will aber nicht den gleichen Weg zurückgehen, den er gekommen ist. Also biegt er in eine Gasse ein, die parallel zum South Bundy Drive verläuft. Um 22.38 Uhr ist er hinter dem Haus von Elsie Tistaert angelangt. Das Bellen hat sich mit unverminderter Intensität fortgesetzt. Inzwischen hat auch der »kleine schwarze Hund« von Elsie Tistaert in das Hundegeheul eingesetzt. Auch diesen Hund erkennt Heidstra von seinen zahlreichen Spaziergängen wieder.
Heidstra bleibt an dieser Stelle etwa zwei oder drei Minuten stehen. Ihm kommt der Lärm nicht geheuer vor und er will herausbekommen, was die Ursache ist. Doch die Garage, das Haus und die Bäume versperren ihm die direkte Sicht auf die Straße und Nicole Browns Haus, von dem er nur das Dach erkennt. Er ist sich aber sicher, dass sich der Akita unmittelbar vor diesem Haus aufhalten muss.
In diesem Moment hört Heidstra zwei männliche Stimmen, die er nicht kennt. Der erste Mann, der etwas jünger klingt, ruft dreimal laut: »Heh! Heh! Heh!« Eine zweite deutlich dunklere Stimme antwortet ihm in schnellem Stakkato. Wegen des Krachs, den die Hunde machen, kann Heidstra jedoch kein Wort von dem verstehen, was der Mann sagt. Er hat lediglich das Gefühl, dass die beiden miteinander streiten.
15 Sekunden später hört er, wie ein Metalltor mit lautem Krach zuschlägt. Für Heidstra ist klar: Es handelt sich um das Eingangstor zu Nicole Browns Grundstück, auch wenn der Staatsanwalt nachweist, dass sich 21 solcher Metalltore in der unmittelbaren Nachbarschaft befinden. Danach hört Heidstra nur noch die Hunde. Seine eigenen Hunde sind während der gesamten Zeit zwar alarmiert, bellen selbst aber nicht. Heidstra ist dankbar, dass sie nicht die Aufmerksamkeit des Akitas auf sich lenken. Er geht schließlich weiter.
Die Seitengasse mündet auf die Dorothy Street. Er schlägt den Weg zu seiner Wohnung ein. Nach zwei Häusern bleibt Heidstra gegen 22.43 Uhr nochmals unter einer großen Eiche stehen und dreht sich um. Er sieht zwei Wagen, die den Bundy Drive in Richtung Wilshire Boulevard passieren. Dann taucht an der Kreuzung ein heller Wagen mit getönten Scheiben auf, der ihn an einen Cherokee Jeep oder Chevrolet Blazer erinnert.
Der Wagen kommt aus der Dorothy Street. Ob er aus der Gasse hinter Nicole Browns Haus in die Dorothy Street eingebogen ist, vermag Heidstra nicht zu sagen. Dieser Bereich liegt in völliger Dunkelheit. Er erkennt den Wagen erst, als er am Stoppschild anhält und vom Schein der Laterne erfasst wird.
Möglicherweise hat der Wagen die Scheinwerfer ausgeschaltet, aber Heidstra will sich nicht darauf festlegen, da er darauf nicht geachtet hat. Der Wagen stoppt nur kurz ab und beschleunigt dann rasch. Der Wagen biegt in den South Bundy Drive und folgt der Straße in Richtung Wilshire Boulevard. Für Heidstra wirkt es so, als habe es der Fahrer sehr eilig. Er kann wegen der getönten Scheiben keine Personen im Auto ausmachen.
Robert Heidstra geht dann nach Hause. Er hört die beiden Hunde mit unveränderter Lautstärke bellen. Erst als er vor seiner Haustür angelangt ist, scheinen sie sich plötzlich etwas zu beruhigen. Die beiden Hunde kläffen nicht mehr so häufig und werden insgesamt etwas leiser. Um Punkt 23.00 Uhr betritt Heidstra seine Wohnung. Denn als er den Fernsehapparat einschaltet, beginnen gerade die 11-Uhr-Nachrichten. Während seines gesamten Spaziergangs hat er im Übrigen keine anderen Personen auf der Straße wahrgenommen.
Welche Zweifel gibt es an der Aussage von Robert Heidstra?
Was Staatsanwalt Christopher Darden mit seinem Kreuzverhör beabsichtigt, erschließt sich mir nicht so recht. Einerseits tut er alles, um die Glaubwürdigkeit des Zeugen zu erschüttern. Andererseits will er von ihm unbedingt hören, dass er O.J. Simpson am Tatort wahrgenommen hat. Beides passt nicht zusammen, doch Darden wird nicht müde, es dennoch zu probieren. Dabei greift er aus meiner Sicht zu äußerst fragwürdigen Mitteln.
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Staatsanwalt Christopher Darden
So will Darden Heidstra das Geständnis entlocken, in der zweiten, tieferen Stimme O. J. Simpson wiedererkannt zu haben oder zumindest einen schwarzen Mann. Heidstra lehnt das ab. Obwohl er seit Jahren für einen Nachbarn von Simpson regelmäßig den Wagen wäscht, kennt er Simpsons Stimme allenfalls aus einem Werbespot. Und ob da ein Schwarzer, Weißer oder Asiate gesprochen habe, könne er einfach nicht beurteilen.
Darden lässt dennoch nicht locker. Er stellt dem Zeugen in schneller Reihenfolge ein paar Fragen, die dieser mit »Ja« oder »Richtig« beantworten muss. Dann schmuggelt er in die nächste scheinbar einfach zu beantwortende Frage wieder den »schwarzen Mann« ein. Diese Fragtechnik wendet er mehrfach an, um Heidstra aufs Glatteis zu führen. Das erinnert eher an das Einmaleins eines schmierigen Verkäufers als an den seriösen Auftritt eines Staatsanwalts.
Darden unterstellt Heidstra explizit, er habe ein starkes finanzielles Interesse an dem Fall und seinem Auftritt vor Gericht. Darden zeichnet das Bild eines armen Schluckers, der mit zwei Hunden in einer engen Kellerwohnung haust und vom großen Deal träumt, der ihn mit einem Schlag wirtschaftlich sanieren würde.
Doch woher bezieht Darden sein Wissen über Heidstras angebliche Geldgier? Aus Befragungen von Personen, die sich mit Heidstra privat über den Fall unterhalten haben. Keiner dieser Befragten taucht jemals als Zeuge vor Gericht auf. Das ist pures Hörensagen und hat in einer Beweisaufnahme eigentlich nichts zu suchen.
Heidstra gibt sogar zu, dass er sich vorstellen könne, eines Tages hier und da einen Dollar mit der Geschichte einzunehmen. Er streitet aber ab, bis zum Tag seines Erscheinens vor Gericht jemals von irgendjemandem Geld für seine Aussage angenommen zu haben. Ja, er sei überrascht gewesen, als ihn die Anklage nicht zum Prozess vorgeladen habe, obwohl sie ihn zuvor als wichtigen Zeugen bezeichnet habe. Er habe die Sache jedoch auf sich beruhen lassen. Nicht er habe die Verteidigung kontaktiert, um dennoch auszusagen, sondern die Verteidigung ihn.
Im Übrigen hat er seine Story auch ein Jahr danach noch nicht verkauft, wie sich beim Zivilverfahren herausstellt. Damit gehört er zu den wenigen Personen im Dunstkreis dieses Prozesses, die nichts an dem Mordfall verdient haben. Abgesehen von Richter Ito haben alle Prozessbeteiligten – auch die Staatsanwälte, auch Darden – ihr Insiderwissen nämlich irgendwann verhökert.
Nächster wichtiger Punkt auf Dardens Agenda: er will nachweisen, dass Heidstra um 22.43 Uhr den weißen Ford Bronco von Simpson an der Kreuzung gesehen habe. Heidstra kann dies nicht ausschließen. Ein Blazer, ein Cherokee und ein Bronco sehen sich nun mal ziemlich ähnlich. Doch Heidstra stand rund 50 Meter entfernt und war damit viel zu weit weg, um den Wagen identifizieren zu können.
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Ford Bronco von Al Cowlings (Bildmitte) während der Verfolgungsfahrt durch L.A.; O.J. besaß das gleiche Modell in der gleichen Farbe
Robert Heidstra trifft später im Zivilverfahren aber noch eine interessante Aussage zu der Fahrtrichtung, die der helle oder weiße Wagen einschlägt. Wenn es sich bei dem Fahrer tatsächlich um O.J. Simpson gehandelt hat, hätte er eigentlich nach links auf den South Bundy Drive abbiegen müssen, um auf dem direkten Weg zu seinem Haus in der Rockingham Avenue zurückzugelangen.
Doch Heidstra kennt die Fahrtstrecke recht gut, weil er, wie gesagt, häufiger für einen Nachbarn von Simpson arbeitet. Er sagt aus, dass man nicht unbedingt länger zur Rockingham Avenue brauche, wenn man von der Dorothy Street rechts auf den Bundy Drive abbiege. Wenn man danach über die Mayfield Avenue auf den Gretna Green Way wechsle, habe dies den Vorzug, dass es dort bis zum San Vicente Boulevard keinerlei Ampeln und Stoppschilder gebe. Auf dem Bundy Drive sehe die Sache ganz anders aus.
Was spricht dafür, dass Robert Heidstra die Wahrheit sagt?
Heidstra muss zigfach vor Polizisten, Staatsanwälten, Verteidigern und in öffentlichen Verhandlungen aussagen. Vom 21. Juni 1994, dem Tag seiner ersten Vernehmung, bis zum 25. Oktober 1996, seinem Auftritt im Zivilverfahren, weicht seine Geschichte nicht einmal in Details voneinander ab und offenbart keinerlei Widersprüche.
Er gibt zwar zu, dass seine Zeitangaben um einige Minuten von der Wirklichkeit abweichen können. Ob er den Akita erstmals um 22.30 oder 22.35 Uhr gehört hat, vermag er nicht zu beurteilen, weil er während des Spaziergangs nie auf die Uhr geschaut hat. Seine Angaben beruhen darauf, dass er seit Jahren jeden Abend die gleiche Strecke gegangen ist und insofern recht gut einschätzen kann, wann er sich wo befindet.
Staatsanwalt Darden: »Was ist Ihr Lieblingssport?«
Zeuge Heidstra: »Soccer oder Fußball, wie wir es in Europa nennen.«
Staatsanwalt Darden: »Sonst noch was?«
Zeuge Heidstra: »Eishockey. Basketball.«
Staatsanwalt Darden: »American Football?«
Zeuge Heidstra: »Langweilig.«
Richter Ito: »Warten Sie ab, bis Sie sich mal ein Baseball-Spiel angesehen haben.«