(2) Aiko Koo und Cindy Schall

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Edmund Kempers Spitzname lautete »Big Ed«. Wer ihn sah, wusste warum. Kemper maß 2,06 Meter und wog 140 Kilogramm. Der Mann war ein Riese. Der 23-jährige Riese kehrte am 14. September 1972, einem Donnerstag, wieder nach Berkeley zurück und hielt nach Anhalterinnen Ausschau. Er ließ eine Frau mit ihrem 12-jährigen Sohn einsteigen. Man kann nur mutmaßen, aber Kemper hätte aller Voraussicht nach keine Skrupel gehabt, auch den Jungen zu töten. Als er losfuhr, blickte er in den Rückspiegel. Kemper erkannte, dass ein Begleiter der Frau sein Nummernschild notierte. Er setzte die beiden wieder ab, ohne dass ihnen etwas geschah.

Aiko Koo

Aiko Koo war weniger Glück beschieden. Das zierliche Mädchen stand Ecke University Avenue und Shattuck Avenue an einer Bushaltestelle. Sie hatte gerade ihren Bus nach San Franciso verpasst. Sie wollte zum Tanzunterricht. Der Termin war ihr so wichtig, dass sie alle Vorsicht fahren ließ und den Daumen raushielt. Im nächsten Moment tauchte schon »Big Ed« Kemper auf.

Kemper spürte, wie ihn beim Anblick des Mädchens die gleiche Energie durchströmte, die er am 7. Mai gefühlt hatte. Die Energie, die ihn dazu animiert hatte, seine Fantasie in die Tat umzusetzen. Die Frau schien perfekt zu sein für seinen nächsten Vorstoß. Kemper war überrascht, als Aiko Koo ihm sagte, sie sei erst fünfzehn Jahre alt. Egal. Er hatte sich bereits entschieden. Wie beim Doppelmord im Mai hieß es nunmehr für ihn: Es gab kein Zurück mehr.

Über das, was im Wagen geschah, äußerte Kemper später: »Irgendwann zog ich meine Pistole hervor. Dieses Mal wollte ich kein langes Schreien, keinen Kampf. Ich wollte bloß töten. Also hatte ich mir eine Schusswaffe besorgt. Ich zeigte ihr das Teil. Hielt sie ihr vors Gesicht. Sie flippte total aus. Dann legte ich die Pistole wieder unter meinen Sitz. Das zeigte noch mehr Wirkung. Nun hatte sie endgültig Todesangst vor mir.«

Fatale Entscheidung

Edmund Kemper hielt an einer abgelegenen Stelle an und stieg aus dem Wagen. Doch er machte einen Fehler. Er vergaß den Schlüssel im Auto und schloss sich aus. Die Pistole lag zudem immer noch unter dem Fahrersitz. Aiko Koo hielt nun plötzlich alle Trümpfe in der Hand. Aber sie war zu sehr in Panik, um noch klar zu denken und ihre Chance wahrzunehmen.

»Sie hätte bloß rübergreifen müssen, um sich die Waffe zu schnappen«, sagte Kemper, »aber ich glaube, es ist ihr noch nicht mal in den Sinn gekommen.« Stattdessen öffnete sie ihrem Mörder sogar noch die Tür. Eine Entscheidung, die sich als fatal erweisen sollte. Von »Big Ed« Kemper, der nun wieder zustieg, war keine Dankbarkeit zu erwarten.

Edmund Kemper ging sofort zum Angriff über. Er drückte Aiko Koo die Nasenlöcher zusammen und hielt ihr mit seinen riesigen Händen den Mund zu. Aiko Koo bekam keine Luft mehr und verlor das Bewusstsein. Dann vergewaltigte und erdrosselte Kemper das 15-jährige Mädchen. Er warf ihren Leichnam in den Kofferraum und fuhr ziellos in der Gegend herum.

Er machte an einer Bar Halt und genehmigte sich ein paar Drinks. Dann schaffte er die Leiche in seine Wohnung und zerstückelte sie. Aiko Koo widerfuhr das gleiche Schicksal wie Mary Pesce und Anita Lucchessa zuvor. Und es würden weitere Opfer folgen. Denn Edmund Kemper gefiel das Gefühl der Allmacht über diese Frauen, das er verspürte.

Welthauptstadt des Mordes

Kempers Mordserie war für sich genommen übel genug. Aber ab dem 13. Oktober 1972 verschlimmerten sich die Dinge um ein Vielfaches, ohne dass Edmund Kemper diesbezüglich die alleinige Schuld traf. Kemper kam eigentlich aus Santa Cruz, einem Küstenstädtchen rund 100 Kilometer südlich von Alameda. Nach dem Mord an Aiko Koo kehrte er dorthin zurück.

Santa Cruz war eine Touristenstadt mit Traumstränden, Palmen und riesigen Mammutbäumen. Die Pazifikstadt gehörte zu den Topwohnlagen in den Vereinigten Staaten. Die University of California hatte hier gerade einen Standort eröffnet, was die Attraktivität zusätzlich steigerte. Viele junge Leute strömten in die Stadt. Einziger Wermutstropfen: In ihrem Gefolge tauchten jede Menge Hippies auf, die das gepflegte Stadtbild aus Sicht der alteingesessenen Bewohner verschandelten.

Das Idyll wurde Anfang der 1970er Jahre innerhalb von zwei Jahren zerstört. Denn zu dieser Zeit terrorisierten drei Serienmörder Santa Cruz, die teilweise parallel operierten. Einer von ihnen war Edmund Kemper. Die Mordserien forderten zusammen 26 Menschenleben – das in einer Stadt, die gerade einmal 50.000 Einwohner zählte. Plötzlich war Santa Cruz nicht mehr das Traumziel vieler Amerikaner, sondern die »Welthauptstadt des Mordes«, wie die Zeitungen titelten.

Was in Santa Cruz passierte, war nicht bloß dem Zufall geschuldet. Die Häufung der Morde war Teil einer allgemeinen Entwicklung, die in jenen Jahren die gesamten USA mit voller Wucht traf. In den früheren Dekaden gab es über einen Zeitraum von zehn Jahren gesehen durchschnittlich zwischen 30 und 50 Mordserien. In den 1970ern explodierte diese Zahl. Auf einmal waren in den USA rund 450 Serienmörder am Werk. Und Kalifornien führte mit großem Abstand diese Statistik des Horrors an, was die Zahl der Täter und Mordopfer betraf.

John Linley Frazier

Der erste Serienmörder, mit dem sich Santa Cruz in diesem Jahrzehnt konfrontiert sah, tötete Ende 1970 in einer Nacht fünf Menschen. John Linley Frazier drang in das Haus des Augenarztes Victor Ohta ein und ermordete dessen Familie mit zwei kleinen Kindern sowie eine Praxisangestellte. Frazier behauptete, er habe mit den Morden ein Zeichen setzen wollen gegen die zunehmende Zerstörung der Natur auf Kosten des Fortschritts. Die Familie Ohta war ihm völlig unbekannt gewesen. Psychiater diagnostizierten bei dem bekennenden Hippie paranoide Schizophrenie. Das änderte nichts an der Tatsache, dass die Geschworenen ihn für zurechnungsfähig hielten und für seine Taten verurteilten.

Herbert Mullin

Dann verschwanden ab Frühjahr 1972 die Studentinnen, wofür Edmund Kemper verantwortlich war. Schließlich tauchte am 13. Oktober 1972 Herbert Mullin auf. Zwischen Oktober und Januar beging er 13 rätselhafte Morde. Mal tötete er vier harmlose Camper in einem Zelt, mal erschoss er einen Hobbygärtner in seinem Vorgarten. Herb Mullin hatte ebenfalls vermeintlich hehre Ziele, für die er tötete. Er wollte die Bevölkerung von Kalifornien vor einem Supererdbeben bewahren. Dazu musste er seiner Überzeugung nach zuvor 13 Menschen als Opfer darbringen. Er bemühte sich zunächst telepathisch darum. Per Gedankenübertragung wollte er die Auserwählten davon überzeugen, sich selbst als Opfer für die heilige Mission anzubieten, sprich umzubringen. Als das nicht funktionierte, griff Mullin zu Messer, Pistole und Baseballschläger und schritt selbst zur Tat.

Anfang 1973 konnte die Polizei Herbert Mullin quasi auf frischer Tat erwischen. Die Behörden brachten es fertig, der Öffentlichkeit den Bären aufzubinden, dass Mullin auch für die Morde an den Studentinnen verantwortlich war. Alle Probleme schienen damit aus der Welt geschafft. Ihr könnt wieder ruhig schlafen, lieber Bürger von Santa Cruz, sollte das heißen. Das geschah wider besseres Wissen. Denn die Ermittler wussten, dass Mullin und der sogenannte »Co-ed Butcher« – der »Studentinnen-Schlächter«, wie ihn die Medien tauften – einen völlig unterschiedlichen Modus Operandi benutzten.

Der große Schwindel

Doch die verantwortlichen Politiker hatten einfach Angst, dass ihnen die Lage ansonsten vollends außer Kontrolle geriet. Die Vielzahl der ungeklärten Morde hatte Panik in der Bevölkerung geschürt. Die Waffenhändler von Santa Cruz machten das Geschäft ihres Lebens. Jeder Bürger besorgte sich eine Knarre. Überall bildeten sich Bürgerwehren. Es würde nicht mehr lange dauern, bis sich ein harmloser Fremder zur falschen Zeit an den falschen Ort verirrte. Den würde man dann vom Baum abschneiden können, wo ihn die aufgebrachten Bürger aufgeknüpft hatten. Der Schwindel flog den Behörden allerdings um die Ohren, als Kemper weitere Studentinnen verschwinden ließ.

Edmund Kemper war für eine Weile unsichtbar geblieben und hatte seine Aktivitäten vorübergehend eingestellt. Aber in seiner Fantasie tötete er wieder und wieder seine Opfer. Er hatte Trophäen und Fotos zurückbehalten, um seine Erinnerungen neu zu entfachen. Inzwischen war er wieder bei seiner Mutter eingezogen. Das Zusammenleben mit seiner Mutter bedeutete für Kemper emotionalen Stress, Frust, Wut – alles Gefühle, aus denen sich sein Drang zu töten speiste.

Cindy Schall

Am 7. Januar 1973 erblickte Edmund Kemper die 19-jährige Studentin Cindy Schall am Straßenrand. Sie hatte in der Nähe des Cabrillo College in Aptos auf eine Mitfahrgelegenheit gehofft. Edmund Kemper schlug nun verdammt nahe an seinem Zuhause zu, denn in Aptos lebte seine Mutter.

Kemper fuhr mit Cindy Schall bis zu einem einsamen Stück Landstraße. Dieses Mal erschoss er die Studentin sofort, ohne langen Kampf. Bei Mary Pesce und Anita Lucchessa war ihm die Situation außer Kontrolle geraten. Bei Aiko Koo hatte er herumexperimentiert. Jetzt war er sicher, dass er seine Opfer gar nicht foltern wollte. Ihn erregten ausschließlich die Dinge, die er danach mit ihnen anstellte.

Edmund Kemper nahm den Leichnam mit in das Haus seiner Mutter. Er zerteilte ihn dort in der Badewanne, enthauptete die Tote und behielt die Leichenteile über Nacht in seinem Zimmer. Den Kopf vergrub er im Garten unter seinem Schlafzimmerfenster. Am nächsten Tag fuhr er zum Pazifik und warf die übrigen Körperglieder von den Klippen ins Meer.

Edmund Kemper – Co-ed Killer

Zwei Tage später entdeckte ein Jogger am Strand Arme und Beine der Leiche. Kurz darauf wurde der Torso an Land getrieben, später folgte der Unterleib. Ein Surfer fischte die linke Hand aus der Brandung. Die Röntgenaufnahmen der Lunge bestätigten, dass es sich um die sterblichen Überreste von Cindy Schall handelte. In Santa Cruz drehten die Leute durch. Die Zeitungen publizierten jeden Tag neue Artikel über den schrecklichen Schlächter von Santa Cruz, der die hübschen Mädchen der Umgebung grausam zerstückelte.

Nur einer behielt die Ruhe. Edmund Kemper wusste, dass man ihm den Mord nicht würde anhängen können. Auch wenn die Leiche dieses Mal schneller aufgetaucht war, als er geplant hatte. Es gab keine Zeugen. Er hatte die Kugel aus dem Körper entfernt. Es gab keine Beweise. Er hatte an alles gedacht. Und er lag mit der Einschätzung richtig. Die Polizei hatte keinen blassen Schimmer, wer der schreckliche »Co-ed Killer« war. Die Ermittlungen liefen komplett ins Leere.

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Aiko Koo und Cindy Schall - Edmund Kemper (2/10)
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Während Edmund Kemper junge Studentinnen tötet, startet Herbert Mullin eine zweite Mordserie in der Kleinstadt Santa Cruz.

2 Kommentare

  1. Hey! Klasse Seite, bin sehr beeindruckt und kann kaum aufhören zu lesen. Kann es jedoch sein, dass bei Edmund Kemper ein Teil fehlt? Ich lande immer sofort bei Punkt 2/10.

    • Hallo Marcus,

      vielen Dank für den Hinweis! Die erste Seite der Kemper-Story wurde tatsächlich nicht angezeigt bzw. verlinkte sofort auf Kapitel 2. Habe ich wieder repariert.

      Herzliche Grüße
      Richard Deis

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