Die sechs jungen Frauen, die Edmund Kemper getötet hatte, waren nur das Vorspiel für das große Finale – zumindest sahen das einige Experten so. Ihrer Meinung nach richtete sich Kempers Wut von Anfang an auf seine Mutter. Allein ihm fehlten der Mut und die Fähigkeit, diese Frau umzubringen. Der FBI-Experte John Douglas erfuhr von Kemper zum Beispiel, dass dieser bereits lange vor seinem ersten Studentinnenmord nachts das Schlafzimmer seiner Mutter aufgesucht und sie im Schlaf beobachtet hatte. Dann habe er sich in Gedanken ausgemalt, wie er ihr mit einem Hammer den Kopf zertrümmern würde.
Laut John Douglas war dies ein klares Indiz dafür, dass die Ermordungen der Studentinnen eine Art Generalprobe für Edmund Kemper darstellten. Er lernte seine Hemmungen zu überwinden und probte sechs Mal den alles entscheidenden Mord. Als er seine Mutter getötet hatte, hatte er keinen Grund mehr, weitere Menschen umzubringen. Kemper hatte sein eigentliches Ziel erreicht. Demnach handelte es sich bei der Geschichte von Edmund Kemper quasi um einen Schrecken mit schaurigem Ende, aber eben mit einem eingebauten Ende. Das mag plausibel klingen. Doch es ist fraglich, ob Serienmörder in plausiblen, sinnvollen Zusammenhängen denken und agieren.
Ein gnadenvoller Akt
Aus Kempers eigener Wahrnehmung führten andere Gründe dazu, dass er letztlich seine Mutter tötete. Nach dem Besuch des Polizisten Michael Aluffi rechnete Edmund Kemper täglich mit seiner Festnahme. Wie würde seine Mutter auf diese Nachricht reagieren? Davor hatte Kemper noch mehr Angst als vor dem Gefängnis. »Sie wusste genau, welche Knöpfe sie bei mir drücken musste, damit ich mich wie ein nutzloses kleines Balg fühlte«, sagte Kemper später aus.
Er befürchtete zudem, dass seine Mutter inzwischen Verdacht geschöpft und möglicherweise Gegenstände entdeckt habe, die er seinen Opfern geraubt hatte. Der Tag würde kommen, wenn sie ihn zur Rede stellte, und er war nicht mehr fern. Und dieser Tag würde fürchterlich sein für Edmund Kemper. Also beschloss er, zu handeln. Er habe ihr die Schande der Entdeckung ersparen wollen, dass ihr einziger Sohn ein grausamer, abartiger Serienmörder sei. Der Muttermord als gnadenvoller Akt. Wohl eher die nachträgliche Schönfärberei eines Serienkillers, wenn man in Betracht zieht, wie Edmund Kemper seine Mutter umbrachte. Da war von Gnade nichts festzustellen.
Die Ermordung der eigenen Mutter
Edmund Kemper wartete einen geeigneten Moment ab, um seinen Plan in die Tat umzusetzen. Karfreitag 1974 war es so weit. Abends war Clarnell Strandberg mit Freunden ausgegangen und kam beschwipst nach Hause. Laut Kemper betrat er dann ihr Schlafzimmer und blieb stumm in der Tür stehen. Clarnell habe ihn abschätzig angeblickt: »Hast du auch was zu sagen oder willst du nur den Sauerstoff verbrauchen? Dann verzieh dich, ich will nämlich schlafen.« Kemper verschwand wortlos.
Als er sicher war, dass sie eingeschlafen war, kehrte er zurück. Dieses Mal hatte er einen Tischlerhammer dabei. Er schlug ihr den Schädel ein, bis der Knochen zertrümmert war. Er schnitt ihr den Kopf ab, den er anschließend im Wohnzimmer auf den Kaminsims stellte. Später sagte Kemper, er habe sich gewünscht, dass seine Mutter aufgeblieben wäre und mit ihm gesprochen hätte. Stattdessen führte Kemper nun einen Monolog vor dem Wohnzimmerkamin.
Er hatte seiner Mutter viel zu erzählen. Und zum ersten Mal in seinem Leben gab ihm diese Frau keine Widerworte mehr. Er schrie sie an. Er weinte. Er bewarf sie mit Dartpfeilen. Er steckte seinen Penis in ihren Mund und schändete den abgeschnittenen Kopf seiner Mutter, wie er es bei seinen anderen Opfern zuvor getan hatte. Die ultimative Demütigung. Das war also Edmund Kempers Vorstellung von einem gnadenvollen Akt.
Spurenbeseitigung
Danach besuchte Kemper den »Jury Room« und genehmigte sich einige Drinks zusammen mit ein paar Cops. Komisch. Sie behandelten ihn immer noch wie ihren Kumpel. Hatte er sich am Ende nur eingebildet, dass sie ihm auf die Schliche gekommen waren? Edmund Kemper dämmerte, dass er möglicherweise eine Riesendummheit begangen hatte. So befriedigend das Gefühl auch für ihn gewesen war, seiner Mutter endgültig den Mund zu stopfen und seine Ruhe vor ihr zu haben – sobald der Mord entdeckt wurde, war er geliefert. Kempers Kopf ratterte. Kemper spielte seine Optionen durch.
Sara »Sally« Hallett. Die beste Freundin seiner Mutter und eine Nachbarin. Sie würde bald im Haus seiner Mutter auftauchen. Sie würde die Leiche finden. Sie würde ihn bei den Bullen anschwärzen. Sally Hallett musste verschwinden. Kemper fuhr bei ihr vorbei und lud sie zum Abendessen ein. Er behauptete, seine Mutter habe für Ostern ein tolles Festmahl vorbereitet, er habe ein paar schöne Filme besorgt. Sie sei herzlich willkommen. Sally Hallett war entzückt über die Einladung. Sie putzte sich fein heraus. Doch sobald sie das Haus ihrer Freundin betreten hatte, tötete Edmund Kemper Sally Hallett, schnitt ihr den Kopf und vergewaltigte den Leichnam. Anschließend packte er beide Leichen in einen Schrank.
Flucht
Kemper hatte inzwischen genügend Zeit gehabt, über die Konsequenzen seiner Verbrechen nachzudenken. Zwei ältere Frauen, die viele Leute kannten, waren verschwunden. Es war sinnlos, die sterblichen Überreste seiner Mutter und von Sally Hallett zu beseitigen. Die Sache würde so oder so auffliegen. Irgendwann ständen die Cops vor seiner Tür und er wäre zwangsläufig der Hauptverdächtige. Wenn er Glück hatte, würde die Tatsache, dass sie zwei Leichen fänden, die Polizei vorübergehend ablenken. Was er bestenfalls noch gewinnen konnte, waren ein paar Tage in Freiheit.
Edmund Kemper setzte sich hin und schrieb eine Notiz für die Polizeibeamten, falls sie die Leichen entdecken sollten. »Samstag, 21. April 1973. 5.15 Uhr. Es ging schnell. Sie schlief. Wie ich es wollte. Sie muss sich nun keine Sorgen mehr machen, einen grausamen Schlächter großgezogen zu haben. Tut mir leid, Leute, wegen der Schweinerei. Hab keine Zeit mehr gehabt, aufzuräumen.«
Anschließend floh Edmund Kemper in Sally Halletts Wagen. In den nächsten Tagen fuhr er kreuz und quer durch den Südwesten der USA. Irgendwo auf der Strecke ließ er Sally Halletts Karre stehen und mietete sich einen Chevy Impala. Scheinbar glaubte er noch daran, vielleicht doch der Polizei entkommen zu können. Er ließ die ganze Zeit das Autoradio eingeschaltet. Er wartete darauf, dass sie irgendwann die Nachricht brachten: »Grausamer Doppelmord in Zentralkalifornien. Polizei fahndet nach Sohn des Opfers.« Aber es kam keine Nachricht.
Ziellos
Edmund Kemper wurde schlagartig klar, dass seine Flucht kein Ziel hatte, kein Ziel haben konnte. Seine Mutter war stets der wichtigste und einzige Fluchtpunkt für ihn gewesen. Er hatte nur kurze Zeit seines Lebens selbstständig verbracht und auch da war er bei Clarnell untergeschlüpft, wenn ihm mal wieder das Geld ausging. Doch seine Mutter war nun tot. Ohne sie war Kemper nicht überlebensfähig.
Als er am Ostermontag nach 2.500 Kilometer Fahrt das Städtchen Pueblo in Colorado erreichte, hielt er vor einer Telefonzelle an. Edmund Kemper wählte die Nummer der Polizei von Santa Cruz. Wenn die Beamten keinen blassen Schimmer hatten, was in ihrer Gemeinde so vor sich ging, musste ihnen wohl mal ein hilfsbereiter Serienmörder auf die Sprünge helfen.
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Weitere Kapitel zum Fall Edmund Kemper
- Edmund Kemper – Der Co-ed Killer
- (2) Aiko Koo und Cindy Schall
- (3) Rosalind Thorpe und Alice Liu
- (4) Kommissar Zufall
- (5) Die Ermordung der eigenen Mutter
- (6) Edmund Kemper stellt sich
- (7) Edmund Kemper - Kindheit
- (8) Edmund Kemper ermordet seine Großeltern
- (9) Edmund Kemper - Modus Operandi
- (10) Der Prozess gegen Edmund Kemper
- (11) Edmund Kemper als Forschungsobjekt
- (12) Filme über Edward Kemper
- (13) Bücher über Edmund Kemper