Judy Placido und Sal Lupo
Der letzte Mord lag über drei Monate zurück. Polizei und Öffentlichkeit rechneten inzwischen fest damit, dass der »Son of Sam« seine Drohung in die Tat umsetzte und bis zum 29. Juli abwartete, bevor er das nächste Mal in Erscheinung trat. Es kam anders. Am 26. Juni verließen die 17-jährige Judy Placido und ihr Freund Sal Lupo gegen 3.00 Uhr morgens die Diskothek »eléphas« in Queens. Sobald sie im Wagen saßen, feuerte der Täter drei Schüsse auf das Paar ab. Zwar wurden beide verwundet, die Verletzungen stellten sich aber als vergleichsweise harmlos heraus.
Die Opfer hatten den Schützen nicht gesehen. Doch Zeugen, die sich in der Umgebung aufgehalten hatten, berichteten von einem stämmigen, dunkelhaarigen Mann, den sie davonlaufen gesehen hatten. Anderen Beobachtern war wiederum ein blonder Mann mit Schnurrbart aufgefallen, der in einem Chevy Nova unterwegs gewesen war und die Scheinwerfer ausgeschaltet hatte. Die Polizei mutmaßte, dass der dunkelhaarige Mann der Schütze war. Der blonde Chevyfahrer hatte das Verbrechen möglicherweise beobachtet. Offen blieb nur, ob es sich dabei um einen Komplizen oder einen unschuldigen Augenzeugen handelte, der es mit der Angst zu tun bekommen hatte.
Stacy Moskowitz und Robert Violante
Am 29. Juli bereitete sich die gesamte Stadt auf einen weiteren Anschlag des »Son of Sam« vor. Die Polizei konzentrierte sich mit allen verfügbaren Kräften auf die Bronx und Queens, um diese Gebiete möglichst lückenlos zu überwachen. Die Leitung der Sonderkommission hatte detaillierte Pläne für die Errichtung von Straßensperren und Kontrollen ausgearbeitet, sollte in dieser Nacht ein verdächtiger Schusswechsel gemeldet werden. Der 29. Juli ging vorüber, ohne dass etwas passierte. Die kollektive Erleichterung sollte keine zwei Tage währen.
In den frühen Morgenstunden des 31. Juli 1977 knutschten Stacy Moskowitz (20) und Robert Violante (20) in Violantes Auto. Der Wagen parkte unter einer Straßenlaterne in der Nähe einer Grünanlage in Brooklyn. Um 2.35 Uhr näherte sich ein Mann dem Fahrzeug. Er blieb drei Meter von der Beifahrertür entfernt stehen und feuerte mit einem Revolver durch das Beifahrerfenster auf die beiden Insassen. Im Innern schlugen vier Schüsse ein. Der Schütze traf sowohl Stacy Moskowtiz als auch Robert Violante am Kopf. Anschließend flüchtete der Täter zu Fuß in den Park. Moskowitz starb Stunden später im Krankenhaus. Violante überlebte die Attacke zwar, verlor dabei aber ein Augenlicht. Die Sehkraft des anderen Auges blieb für alle Zeiten stark eingeschränkt.
Der Tatzeuge
Der Schauplatz des Verbrechens erwischte »Operation Omega« auf dem falschen Fuß. Mit Brooklyn hatte dort niemand gerechnet. Bis man endlich die Ringfahndung eingeleitet hatte, war bereits eine Stunde vergangen. Zudem war der Serienmörder in einem weiteren Punkt von seinem bisherigen Verhaltensmuster abgewichen. Die ermordete Frau hatte lockiges, blondes Haar, das sie lediglich nackenlang trug. Die einzig positive Nachricht, die die Nacht für die New Yorker Polizei bereithielt: Es gab so viele Zeugen, wie niemals zuvor. Darunter befand sich sogar ein unmittelbarer Tatzeuge.
Tommy Zaino parkte mit seinem Wagen ungefähr drei Stellplätze vor dem Auto von Robert Violante. Wie die Opfer Stacy und Bobby hatte er sich den Ort für ein nächtliches Rendezvous mit seiner Freundin ausgesucht. Tommy Zaino hatte zufällig einen Blick in den Rückspiegel geworfen, als der Täter mit der Waffe in der Hand neben Violantes Fahrzeug aufgetaucht war. Da der Mann in diesem Moment direkt unter der Laterne gestanden hatte, hatte Zaino beste Sicht auf das Geschehen. Er schätzte den Schützen auf 25 bis 30 Jahre und etwa 1,70-1,75 m groß. Auffällig seien seine struppigen, dunkelblonden oder hellbraunen Haare gewesen. Tommy Zaino kam es so vor, als habe der Mann eine Perücke getragen.
Widersprüchliche Zeugenbeobachtungen
Eine Anwohnerin war in ihrer Wohnung zum Fenster geeilt, als sie laute Knallgeräusche gehört hatte. Ihr war ein junger, stämmiger Mann mit dunklen Haaren aufgefallen, der die Straße entlanggeschlendert war. Sie hatte sich gewundert, weil alle anderen Passanten zum Tatort hinliefen, um Hilfe zu leisten, während er gemächlich in die entgegengesetzte Richtung ging.
Eine weitere Augenzeugin hielt sich während der Schießerei zusammen mit ihrem Freund auf der anderen Seite des Parks auf. Etwa eine Minute nach den Schüssen bemerkte sie einen Mann, der aus dem Park heraussprintete. Sie war der festen Überzeugung, dass sich der untersetzte Weiße eine helle, billig wirkende Perücke aus Nylonfasern übergezogen habe. Er sei anschließend in einen kleineren, hellen Wagen eingestiegen und mit hoher Geschwindigkeit davongefahren. Die Zeugin fühlte sich spontan an einen Bankräuber erinnert, habe den Gedanken aber wegen der Uhrzeit wieder verworfen. Dennoch hatte die Frau versucht, sich das Kennzeichen einzuprägen. Die ersten beiden Zeichen konnte sie nicht erkennen. Doch die übrigen lauteten entweder 4-GUR oder 4-GVR.
Eine dritte Zeugin hatte etwa zwanzig Sekunden nach den Schüssen ein Fahrzeug beobachtet, das mit hoher Geschwindigkeit an ihr vorbeiraste. Die Frau befand sich zu diesem Zeitpunkt in derselben Straße, in der das Verbrechen geschehen war. Zwei anderen Zeugen wiederum war ein gelber VW-Käfer aufgefallen. Der Fahrer hatte die Scheinwerfer ausgeschaltet und war in der unmittelbaren Umgebung des Tatorts unterwegs.
Verfolgungsjagd
Auf einer Straßenkreuzung in der Nähe des Tatorts war es Minuten nach dem Überfall beinahe zu einem Verkehrsunfall gekommen. Wieder spielte ein gelber VW-Käfer dabei eine wichtige Rolle. Der Käfer hatte nämlich eine rote Ampel ignoriert und einem anderen Fahrzeug die Vorfahrt genommen. Der erboste Fahrer nahm daraufhin die Verfolgung des Käfers auf, verlor ihn aber nach wenigen Minuten aus den Augen. In der Aufregung hatte der Zeuge vergessen, sich das Nummernschild zu merken. Die Polizisten probierten es daraufhin mit Hypnose. Der Mann konnte sich lediglich erinnern, dass es sich aller Wahrscheinlichkeit um ein Kennzeichen des Nachbarstaates New Jersey gehandelt hatte.
Immerhin konnte er den Fahrer des Käfers näher beschreiben. Ein Weißer Ende 20 oder Anfang 30 mit einem sehr schmalen Gesicht und langem, dunklem Haar, das ihm strähnig über die Stirn fiel. Er hatte an der Wange einen größeren Schatten wahrgenommen. Er hatte diesen für einen buschigen Backenbart gehalten. Es konnte aber auch sein, dass der Mann einfach seit Tagen unrasiert gewesen war. Außerdem habe der Käferfahrer eine blaue Jacke getragen.
Der schmuddelige Typ im Park
Das überlebende Opfer Robert Violante hatte in der Tat genau solch eine Person wahrgenommen, als er mit Stacy Moskowitz auf dem Weg zum Auto den Park durchquert hatte. Ihm war der Typ reichlich schmuddelig und abgerissen vorgekommen. »Wie ein Hippie«, sagte Violante aus. Der Mann hatte dunkle Augen, einen Backenbart und drahtiges Haar, das die Stirn fast vollkommen bedeckte. Nach der Kleidung des Fremden befragt konnte sich Violante nur noch an eine blaue Jeansjacke erinnern.
Das Verbrechen geschah um 2.35 Uhr, die Polizei erfuhr aber erst um 2.50 Uhr von der Schießerei. Als man Deputy Inspector Dowd, den Leiter der Sonderkommission, über den Vorfall unterrichtete, glaubte er nicht, dass er im Zusammenhang mit der Mordserie stand. Immerhin hatte das Verbrechen in Brooklyn stattgefunden, weit entfernt von den übrigen Schauplätzen der Mordserie. Also gab er auch keinen Befehl, sofort eine Ringfahndung einzuleiten.
Ein verdächtiger VW-Käfer
Doch die herbeigerufenen Streifenbeamten entdeckten Patronenhülsen, die von einer großkalibrigen Waffe stammen mussten. Die Einsatzkräfte der »Operation Omega« bekamen somit erst gegen 3.30 Uhr, etwa eine Stunde nach den Schüssen, die Order, Straßensperren an allen wichtigen Ausfallstraßen zu errichten und Personenkontrollen durchzuführen. Da zu diesem Zeitpunkt bereits die ersten Augenzeugenaussagen vorlagen, konzentrierte man sich auf helle VW-Käfer. Die Polizei vermutete, dass es sich dabei um das Fluchtfahrzeug des gesuchten Serienmörders handelte. Die Straßensperren blieben erfolglos.
Später überprüften die Kriminalbeamten die Melderegister der Kfz-Zulassungsstellen in New York und New Jersey. In beiden Staaten waren rund 900 Käfer angemeldet. Jeder Halter wurde befragt. Auch diese Recherche verlief ergebnislos.
weiter zu —> (13) Die entscheidende Spur
Weitere Kapitel zum Fall Son of Sam
- David Berkowitz - Der Sommer von Sam
- (2) Der Beginn der Mordserie 1976
- (3) Rosemary Keenan und Carl Denaro
- (4) Joanne Lomino und Donna DeMasi
- (5) Christine Freund und John Diel
- (6) Virginia Voskerichian
- (7) »Operation Omega«
- (8) Valentina Suriani und Alexander Esau
- (9) Der »Son of Sam«-Brief
- (10) Psychologisches Profil
- (11) Der Breslin-Brief
- (12) Die Mordserie setzt sich fort
- (13) Die entscheidende Spur
- (14) Das Geständnis
- (15) Der Prozess gegen David Berkowitz
- (16) Eine satanistische Verschwörung?
- (17) Tatorte David Berkowitz
- (18) Filme zu David Berkowitz
- (19) Bücher zu David Berkowitz