Die Polizei hatte für den letzten Mord an Stacy Moskowitz ungewöhnlich viele Zeugen auftreiben können. Aber die entscheidende Aussage, die auf die Spur des Täters führen sollte, erreichte sie erst vier Tage nach der Tat. Dass die Zeugin Cäcilia Davis so lange brauchte, um sich bei der Sonderkommission zu melden, war merkwürdig. Schließlich waren die Morde des »Son of Sam« Dauerthema in der Stadt. In New York war es mittlerweile Volkssport geworden, jede verdächtige Beobachtung, war sie auch noch absurd, sofort der Polizei mitzuteilen.
Cäcilia Davis erklärte ihr Zögern damit, dass sie Angst gehabt habe. Angst vor dem Täter, der sich an ihr rächen könne. Angst vor der Polizei, weil sie ursprünglich aus Österreich stamme und schlimme Erfahrungen mit der Gestapo gemacht habe. In der Tatnacht war Davis spät nach Hause zurückgekehrt. Vor dem Schlafengehen wollte sie noch ihren Hund Gassi führen. Sie habe bei dieser Gelegenheit einen Verkehrspolizisten beobachtet, so Cäcilia Davis, der gerade ein Knöllchen geschrieben habe und es hinter den Scheibenwischer eines Wagens geklemmt habe. Das Fahrzeug habe direkt neben einem Hydranten geparkt. Anschließend sei der Polizist weggefahren.
Im nächsten Moment habe sie einen Mann auf sich zukommen sehen. Sie habe nicht erkennen können, woher der Bursche so plötzlich aufgetaucht sei. Auf jedem Fall aus dem Bereich um das verwarnte Auto herum. Der junge Mann sei weitergegangen, bis er an ihr vorbeigekommen sei. Sie habe das Gefühl gehabt, dass er sie dabei sehr genau gemustert habe. Dann habe sie aus dem Augenwinkel bemerkt, dass der Mann irgendeinen dunklen Gegenstand in seiner Hand gehalten habe. Ihr habe das ein mulmiges Gefühl bereitet und sie sei auf dem schnellsten Weg zu ihrer Haustür gegangen. Sobald sie wieder in ihrer Wohnung gewesen sei, habe sie mehrere Schüsse gehört, die sie aber zunächst für Knallkörper gehalten habe.
Das verräterische Knöllchen
Als die Aussage protokolliert war, überprüften Kriminalbeamte alle Strafzettel, die in der Mordnacht in der Umgebung des Tatorts ausgestellt worden waren. Unter den aufgeschriebenen Fahrzeugen befand sich auch ein viertüriger Ford Galaxie, Baujahr 1970, der einem gewissen David Berkowitz aus Yonkers im Norden der Bronx gehörte. Obwohl die Polizei später anderes behauptete, gehörte David Berkowitz in diesem Moment noch nicht zum Kreis der Verdächtigen. Die Polizei wollte ihn lediglich als potenziellen Tatzeugen befragen.
Erst am 9. August, also fünf Tage, nachdem die Zeugin Cäcilia Davis ausgesagt hatte, rief Detective James Justus vom NYPD auf der Polizeiwache in Yonkers an. Er wollte die Kollegen darum bitten, für ihn einen Termin mit David Berkowitz zu vereinbaren, damit er ihn in der Angelegenheit befragen konnte. Den Anruf nahm eine Telefonistin namens Wheat Carr entgegen. Sie war die Tochter von Sam Carr und die Schwester von Michael und John Carr. Für David Berkowitz spielten alle diese Personen eine besondere Rolle, wie die späteren Ermittlungen noch ergeben sollten.
Wheat Carr verband James Justis mit Sergeant Mike Novotny. Als Novotny hörte, wen die Sonderkommission vernehmen wollte, wurde er hellhörig. Denn gegen David Berkowitz ermittelte seit geraumer Zeit auch das Yonkers Police Department. Es gab Hinweise darauf, dass der Mann für etliche anonyme Drohbriefe verantwortlich war, in denen Nachbarn wüst und wirr beschimpft worden waren. Außerdem stand Berkowitz unter Verdacht, auf den Hund eines Nachbarn geschossen zu haben. Daraufhin beschlossen die Beamten, ihren Besuch David Berkowitz nicht vorher anzukündigen.
35 Pine Street, Yonkers
Am nächsten Tag, dem 10. August, machten sich Beamten aus Brooklyn, die den Mordfall Stacy Moskowitz für die Sonderkommission bearbeiteten, nach Yonkers auf. Vor dem Mietshaus mit der Adresse 35 Pine Street, in dem David Berkowitz wohnte, entdeckten sie seinen Wagen. Sie warfen einen Blick ins Wageninnere. Sie sahen auf dem Rücksitz einen Gegenstand, den sie für ein Gewehr hielten. Daraufhin verschafften sich die Beamten Zugang zum Wagen und durchsuchten den Innenraum.
Neben dem Gewehr stand eine Sporttasche. Darin waren Munition, Straßenpläne von New York, auf denen diverse Tatorte der Mordserie markiert waren, sowie ein Drohbrief verstaut, der an Deputy Inspector Dowd, den Leiter von »Operation Omega«, gerichtet war. Die Beamten hatten keinen Zweifel mehr. David Berkowitz war ihr Mann. David Berkowitz war der »Son of Sam«.
Plan B
Das wurde nun heikel. Der Typ hat eine Kanone. Und er würde nicht mal mit der Wimper zucken, bevor er sie damit über den Haufen knallte. Das war nicht der Typ Mann, bei dem man höflich mit der Polizeimarke in der Hand an die Tür klopfte. Sie hatten die Wahl. Sie konnten die Jungs vom Sondereinsatzkommando rufen, die den kompletten Block abriegeln und den Burschen mit Tränengas und Blendgranaten ausräuchern würden. Wenn er denn zu Hause war. Aber war David Berkowitz überhaupt zu Hause? Was, wenn er ausgeflogen war, ins traute Heim zurückkehrte und Hunderte von Bullen vor seiner Tür herumlungern sehen würde? Dann hätten sie es vermasselt.
Die Beamten entschieden sich für Plan B. Sie würden einfach so lange in ihrem Wagen warten, bis der Verdächtige vor seiner Haustür auftauchte. Die Warterei käme ihnen ohnehin zupass. Denn sie hatten ein Problem. Die Durchsuchung von Berkowitz‘ Wagen ohne richterlichen Beschluss war nicht ganz koscher gewesen. Deputy Inspector Dowd würde ihnen den Kopf abreißen, wenn er davon erfuhr.
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Eingang zum Apartmenthaus 35, Pine Street. Heute hat man sowohl den Namen des Haus als auch die Hausnummer verändert. Grund: zu viele Neugierige.
Das Problem der illegalen Durchsuchung
Natürlich konnten sie sich darauf berufen, dass sie beim Anblick des Gewehrs auf der Rückbank von einer unmittelbaren Bedrohung ausgegangen waren. Aber im Staat New York war der Besitz einer solchen Waffe legal, das Mitführen in einem Fahrzeug ebenfalls. Jeder Anwalt der Stadt würde ihnen all die schönen Beweismittel, die sie entdeckt hatten, – die Munition, das Kartenmaterial, den Drohbrief – genüsslich um die Ohren hauen. Sie hätten jegliche Beweiskraft vor Gericht verloren, weil die Durchsuchung illegal gewesen war.
Die Ermittler konnten die Sache nur noch insofern geradebiegen, wenn ihnen ein Kollege vom Revier einen ordentlichen Durchsuchungsbeschluss beschaffen würde und ihn vorbeibrächte. Dann würden sie den Wagen nochmals offiziell überprüfen und die gesicherten Beweismittel würden in die Ermittlungsakte wandern. Doch bevor dieses Dokument eintraf, erschien David Berkowitz vor seiner Haustür.
Die Verhaftung von David Berkowitz
Berkowitz war zu Hause gewesen. Gegen 22.00 Uhr kam er aus der Tür spaziert und stieg in seinen Wagen ein. Die Beamten stürzten aus ihrem Fahrzeug und umstellten den Ford Galaxie. Sie forderten Berkowitz auf, auszusteigen. Und sie beteten zu Gott, dass er nun nicht nach dem Gewehr griff. Aber Berkowitz blieb cool. Er stieg mit erhobenen Händen aus und ließ sich widerstandslos durchsuchen.
Auf dem Beifahrersitz entdeckten die Ermittler eine Papiertüte, die Berkowitz dort beim Einsteigen abgelegt hatte. Die Tüte enthielt einen Revolver. Einen .44 Bulldog Charter Arms. Wenn der Bursche jetzt noch ein Geständnis ablegte, war klar, dass Gott an diesem Tag ihr Kopilot war. Bis hierher hatten sie ernsthafte Zweifel gehegt, dass er überhaupt im selben Geschwader unterwegs war. Nun meldete sich auch der »Son of Sam« zu Wort. Das Erste, was David Berkowitz sagte, als er verhaftet wurde: »Okay, jetzt habt ihr mich. Warum hat das so lange gedauert?«
David Berkowitz – Apartment eines Serienkillers
Im Anschluss durchsuchte die Polizei die Wohnung. David Berkowitz‘ Apartment war in einem chaotischen Zustand. Korrektur: Die Bude war das letzte Drecksloch. Die Wände waren mit wirren Sprüchen vollgekritzelt. An einer Stelle hatte Berkowitz ein handtellergroßes Loch bis ins Mauerwerk gepult. Daneben stand geschrieben: »Hi! Mein Name ist Mr. Williams und ich lebe in diesem Loch. Ich habe mehrere Kinder, die ich zu Mördern heranziehe. Wartet ab, bis sie groß geworden sind.«
Die Beamten entdeckten auch Tagebücher, die David Berkowitz seit 1974 geführt hatte. In dieser Zeit hatte er drei komplette Stenoblöcke vollgeschrieben. In den Büchern hatte er penibel 1.488 Brandstiftungen festgehalten, die er angeblich in diesem Zeitraum begangen hatte. Nach dem, was sie bisher vorgefunden hatten, war den Polizisten zwar nicht klar, ob sie es bei Berkowitz mit einem waschechten Irren zu tun hatten. Aber so viel stand für sie fest: Der Kerl hatte ernsthaft einen an der Waffel. Es war ihnen ein Rätsel, wie der Bursche es geschafft hatte, so lange unter dem Radar durchzufliegen. Andererseits: Schließlich war das New York. Da musste man jederzeit mit Typen rechnen, die es sich in Drecksbuden gemütlich machten und ihren Stenoblöcken schmutzige Geheimnisse anvertrauten.
Die Beamten überführten Berkowitz zunächst auf das Polizeirevier in Yonkers und brachten ihn anschließend zum 60. Polizeirevier auf Coney Island in Brooklyn. Dort hatte die Sonderkommission ihr Hauptquartier. Gegen 1.00 Uhr nachts traf auch Bürgermeister Beame ein, um den Verdächtigen persönlich in Augenschein zu nehmen. Die Begegnung verlief kurz, ohne dass die beiden miteinander sprachen. Gegenüber der Presse äußerte Beame anschließend: »Die Bürger von New York City können wieder beruhigt schlafen, weil die Polizei einen Mann verhaftet hat, der aller Wahrscheinlichkeit der ‘Son of Sam’ ist.«
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Weitere Kapitel zum Fall Son of Sam
- David Berkowitz - Der Sommer von Sam
- (2) Der Beginn der Mordserie 1976
- (3) Rosemary Keenan und Carl Denaro
- (4) Joanne Lomino und Donna DeMasi
- (5) Christine Freund und John Diel
- (6) Virginia Voskerichian
- (7) »Operation Omega«
- (8) Valentina Suriani und Alexander Esau
- (9) Der »Son of Sam«-Brief
- (10) Psychologisches Profil
- (11) Der Breslin-Brief
- (12) Die Mordserie setzt sich fort
- (13) Die entscheidende Spur
- (14) Das Geständnis
- (15) Der Prozess gegen David Berkowitz
- (16) Eine satanistische Verschwörung?
- (17) Tatorte David Berkowitz
- (18) Filme zu David Berkowitz
- (19) Bücher zu David Berkowitz