(11) Spurlos verschwunden

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Ellen Hovers Apartment befand sich 686 Third Avenue, in Sichtweite vom Empire State Building, einen Steinwurf von der Grand Central Station entfernt. Sobald sie das Haus verließ, konnte sie unter Dutzenden von Restaurants, Bars und Kinos wählen, die für sie bequem zu Fuß erreichen waren. Ellen Hover machte reichlich Gebrauch von diesem Überangebot. In den Wochen nach ihrem Umzug stürzte sie sich begierig ins Nachtleben von Manhattan.

Der Fremde mit dem Zopf

Als ein Freund Ellen vor ihrem Haus im Gespräch mit einem fremden Mann sah, wunderte er sich folgerichtig nicht. Die neugierige und kontaktfreudige junge Frau lernte in jenen Tagen ständig jemanden kennen. Der Freund konnte sich später so genau an diese Begegnung erinnern, weil es der Abend des Stromausfalls war, der 13. Juli. Als sich der Typ schließlich verabschiedet hatte, fragte der Freund Ellen, wer der Schlaks mit dem auffälligen Pferdeschwanz gewesen sei. Ein Künstler, ein Fotograf, antwortete Ellen Hover. Ein wirklich netter Kerl. Es klang fast so, als habe sie sich ein wenig verknallt.

Zwei Tage später, am 15. Juli 1977, hielt sich Ellen Hover vormittags in der New York Public Library auf. Gegen Mittag kehrte sie in ihre nahe gelegene Wohnung zurück, um eine Kleinigkeit zu essen. Ein Nachbar traf sie vor dem Fahrstuhl. Man unterhielt sich kurz über den Blackout. Wie froh man war, dass der Aufzug endlich wieder funktionierte. Ein anderer Anwohner berichtete später der Polizei, dass er etwa zur selben Zeit einen jungen Mann beobachtet habe, der vor dem Haus gestanden habe. Der Mann sei schlank gewesen und habe einen Pferdezopf getragen, daran könne er sich genau erinnern.

Am selben Freitag war Ellen Hover mit Freunden zum Abendessen verabredet, erschien jedoch nicht. Das war ungewöhnlich für die ansonsten höchst zuverlässige Frau. Ebenso merkwürdig war, dass sie abends nicht bei ihrer Mutter anrief, was sie normalerweise jeden Tag machte. Die Eltern waren zwar besorgt, hofften aber noch, dass sie vielleicht bei einer Freundin übernachtet und ausnahmsweise vergessen hatte, Bescheid zu sagen. Doch als sie auch am nächsten Tag vergeblich auf ein Lebenszeichen ihrer Tochter warteten, schalteten sie die Polizei ein.

Polizei überlastet

Obwohl die Familien Hover und Schwartz sicherlich zu den einflussreicheren der Stadt zählten, hatte die Vermisstenmeldung zunächst keine Aussicht auf Erfolg. Das New York Police Department jagte gerade mit der größten Sonderkommission seiner Geschichte den geheimnisvollen »Son of Sam«. Allein für die »Operation Omega«, wie man die SOKO getauft hatte, waren 300 Beamte abgestellt.

Die übrigen Polizisten hatten gerade alle Hände voll zu tun mit den spontanen Plünderungen und Brandstiftungen, die im Gefolge des Blackouts überall in der Stadt stattfanden. Blieb dann noch ein Stündchen Zeit, um sich den unerledigten Kriminalfällen zu widmen, hatten die Beamten die freie Auswahl unter mehreren Tausend Morden. Vermisste Erwachsene? Eine sinnlose Verschwendung knapper Ressourcen. Erfahrungsgemäß tauchten 99 Prozent dieser Personen innerhalb von vier Wochen wieder auf.

Eltern engagieren Privatdetektiv

Die frustrierten Eltern von Ellen Hover wurden daraufhin selber tätig. Sie engagierten einen Privatdetektiv. Gemeinsam inspizierten sie die Wohnung der Tochter. Nirgends gab es Spuren, die auf einen Einbruch oder einen Kampf hindeuteten. Das Apartment machte einen aufgeräumten, aber dennoch belebten Eindruck. Den einzig nennenswerten Hinweis darauf, was möglicherweise vorgefallen war, entdeckte der Privatdetektiv in einem Taschenkalender. Dort war für den 15. Juli ein Termin eingetragen: »John Berger, Fotograf«.

Hatte sich Ellen Hover Hals über Kopf verliebt und war mit diesem John Berger, den niemand zu kennen schien, einfach durchgebrannt? Die Eltern schöpften wieder Hoffnung. Vielleicht hatte ihre Tochter ja nur den Kopf verloren. Und schämte sich nun. Wusste nicht, wie sie es ihren Eltern schonend beibringen sollte.

Die Eltern gaben eine Anzeige in der »New York Times« auf. Sie baten den Fotografen John Berger oder jeden, der eine Person mit diesem Namen kannte, sich zu melden. Sie erhielten keine Antwort. Sie fertigten Plakate mit einem Suchaufruf an, die sie an den Laternenpfosten in Ellen Hovers Viertel klebten. Sie druckten Flyer und legten sie in den Geschäften und Bars der Umgebung aus. Niemand meldete sich.

Immerhin hatte der Privatdetektiv inzwischen herausgefunden, dass es sich bei dem mysteriösen John Berger vermutlich um jenen jungen Mann handelte, mit dem man Ellen am 13. Juli gesehen und der sich am 15. Juli vor ihrem Haus herumgetrieben hatte.

Im Windschatten eines Serienkillers

Mitte August 1977 verhaftete die New Yorker Polizei endlich einen Tatverdächtigen im »Son of Sam«-Fall. Die Sonderkommission löste sich auf, die Beamten kehrten zurück zu ihren Einheiten. Nun wandten sich die Polizisten auch endlich dem Fall Ellen Hover zu. Mittlerweile war die junge Frau aber bereits über vier Wochen wie vom Erdboden verschluckt. Dass sie einem Gewaltverbrechen zum Opfer gefallen war, wurde immer wahrscheinlicher.

Als die New Yorker Polizei zu ermitteln begann, war John Berger alias Rodney Alcala längst aus der Stadt verschwunden. Es sollte ein halbes Jahr dauern, bis in den Vermisstenfall Ellen Hover neue Bewegung kam. Alcala hatte sich in New York zunutze gemacht, dass ein anderer Täter die gesamte Aufmerksamkeit der Behörden auf sich zog, und quasi im Windschatten eines weiteren Serienmörders zugeschlagen. Rodney Alcala hatte fast schon unverschämt anmutendes Glück. Denn wie es der Zufall wollte, sollte er in Los Angeles sein nächstes Verbrechen unter ganz ähnlichen Umständen begehen können.

weiter zu —> (12) Jill Barcomb

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