(10) Blackout

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Kurz nach seiner Haftentlassung bat Rodney Alcala seinen Bewährungshelfer, Verwandte in New York besuchen zu dürfen. Tapetenwechsel. Luftveränderung. Vielleicht könnten die Tanten, Onkel und Cousins, die dort lebten, ihm wieder auf die Beine helfen. Ein bisschen Starthilfe geben. Einen Job besorgen. Mehr bräuchte es nicht, um aus ihm einen braven Steuerzahler zu machen. Die frommen Sprüche verfingen bei dem Beamten. Der Bewährungshelfer gab Alcalas Gesuch statt.

Hitzewelle

Ein Mörder. Ein rechtskräftig verurteilter Vergewaltiger, der seine Finger nicht von kleinen Mädchen lassen konnte. Das war genau der Mann, auf den New York im Juli 1977 noch gewartet hatte. Rodney Alcala schlug just zu einem Zeitpunkt im Big Apple auf, als die Kacke dort nicht nur im sprichwörtlichen Sinne am Dampfen war. Die Millionenmetropole stöhnte im Angesicht des heißesten Sommer, den die Stadt je erlebt hatte. Die Temperaturen lagen dauerhaft über 30 Grad Celsius. Sobald man das klimatisierte Büro oder Apartment verließ, hatte man das Gefühl, als würde einem jemand mit einem Tuch Saunaluft zufächeln.

In der Stadt brodelte es aber auch aus ganz anderen Gründen. Das gesamte Land befand sich gerade inmitten einer schweren Rezession. New York war komplett pleite. Die Arbeitslosigkeit war auf einem Allzeithoch, die Kriminalitätsrate hatte apokalyptische Ausmaße angenommen. Teilweise war dies eine Folge der Wirtschaftskrise, teilweise ging es auf die drastischen Sparmaßnahmen zurück, die die New Yorker Verwaltung beschlossen hatte. Mitte der 1970er hatte man zum Beispiel die Zahl der Kriminalbeamten um nahezu die Hälfte reduziert.

Stromausfall

Dann fiel am 13. Juli gegen 20.30 Uhr der Strom in der gesamten Stadt aus. 24 lange Stunden mussten die Menschen ohne Klimaanlage, ohne Aufzüge und ohne Licht ausharren. Der Big Apple fühlte sich plötzlich ziemlich wurmstichig an. Überall im Stadtgebiet kam es zu spontanen Plünderungen und Brandstiftungen. Die Bewohner waren kurz davor, komplett durchzudrehen. Schwer vorstellbar, aber all das waren quasi Kinkerlitzchen gegenüber dem Problem, mit dem sich New York zusätzlich im Sommer 1977 konfrontiert sah.

Son of Sam

Denn zu allem Überdruss terrorisierte seit einem Jahr ein geheimnisvoller Serienkiller die Stadt und brachte reihenweise junge Liebespärchen und Frauen auf offener Straße um. Niemand schien ihm Einhalt gebieten zu können. Eine 300-köpfige Sonderkommission jagte das Phantom seit Monaten vergeblich. Bisher hatte sich kein einziger brauchbarer Hinweis auf seine wahre Identität ergeben. Der Täter hatte zuletzt Ende Juni getötet. In seinen Briefen an Polizei und Presse, in denen er sich selbst als »Son of Sam« bezeichnete, kündigte er weitere Verbrechen an. New Yorks Einwohner rechneten praktisch stündlich damit, dass er wieder zuschlug. Jeder konnte das nächste Opfer sein.

Ellen Hover passte von ihrem Aussehen genau ins Beuteschema des irren »Son of Sam«. Die attraktive 23-Jährige hatte langes, schwarzes Haar, das sie in der Mitte gescheitelt trug – wie die meisten Opfer der Mordserie. Doch während andere New Yorkerinnen mit ähnlichem Look die Perückenabteilungen der Kaufhäuser plünderten oder gleich ihre Haare kurz schnitten, ließ sich Ellen Hover ihre prächtige Laune davon nicht verderben. Sie hatte kürzlich das Beaver College in der Kleinstadt Glenside, Pennlsyvania, erfolgreich abgeschlossen. Nun war sie von der Provinz mitten hinein in das pulsierende Manhattan gezogen. Das Leben war toll.

Rodney Alcala - Dating Game Killer - Ellen Hover
Ellen Hover:
Quelle: The Arcadia University Bulletin (früher: Beaver College)

Abenteuer Leben

Vielleicht verdankte sie ihren unerschütterlichen Optimismus auch dem behüteten Umfeld, in dem sie aufgewachsen war. Ihr Vater Herman Hover [Fotolink, Quelle: findagrave.com] war früher unter anderem Eigentümer des Ciro’s [Link zu Wikipedia], dem angesagtesten Nachtklub von Hollywood in den 1940er und 1950er Jahren. Hier gaben sich Stars wie Marilyn Monroe, Cary Grant, Humphrey Bogart oder Frank Sinatra die Klinke in die Hand. Sammy Davis Jr. und James Dean waren Ellens Taufpaten. Ihre Großmutter war eine bekannte Klatschkolumnistin, ihre Tante Sheila Weller schrieb für die Zeitschrift »Vanity Fair«. Ihre leibliche Mutter Yvonne [Fotolink, Quelle: findagrave.com] war inzwischen in dritter Ehe mit dem erfolgreichen New Yorker Anwalt Ruben Schwartz verheiratet.

Ellen hatte sich nie wegen Geld oder anderer existenzieller Dinge sorgen müssen. Sie hatte es noch nicht einmal nötig, darauf zu spekulieren, dass sie eines Tages reich erben würde. Der Uniabschluss als Biologin hatte sie finanziell unabhängig gemacht. Obendrein galt sie als begabte Klaviervirtuosin. Wieso sollte sie Angst vor der Zukunft empfinden, wenn diese ein einziges verheißungsvolles Versprechen war? Wirtschaftskrise? Aufstände? Blackout? Der »Son of Sam«? Für Ellen Hover stellte dies keine Bedrohung dar, sondern eher ein Abenteuer, das jeden neuen Tag noch spannender und lebenswerter machte.

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